Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Landtagswahl in Bayern: Die Jammer-Bayern
> In Ostbayern erhält die AfD besonders viel Zuspruch. Dabei ist die Region
> alles andere als strukturschwach. Warum wählen die Menschen dort rechts?
Bild: Wahlkampf ohne Inhalt: AfD-Kandidatin Katrin Ebner-Steiner beim Volksfest…
Freyung und Karpfham, Niederbayern taz | Es gibt Dinge, gegen die würde
kein Mensch wetten. Zum Beispiel, dass die CSU den Ministerpräsidenten in
Bayern stellt, seit 1957 wird das Land stets von einem Konservativen
regiert. Auch bei den [1][anstehenden Landtagswahlen] am 8. Oktober wird
das wohl wieder so sein, bei der Partei von Ministerpräsident Markus Söder
werden voraussichtlich mindestens 35 Prozent der Wählerschaft ihr Kreuz
machen. Die einzig spannende Frage ist deshalb: Wer wird zweitstärkste
Kraft im flächengrößten Bundesland? Drei Parteien liegen in Umfragen
ungefähr gleichauf ([2][zwischen 12 und 17 Prozent]), es könnten die Grünen
werden, die Freien Wähler – oder doch gar die AfD, mit der eine Koalition
allerdings ausgeschlossen ist.
Ministerpräsident Markus Söder (CSU) betont zwar gerne stolz, dass die AfD
in Bayern keine große Rolle spiele und nicht so viel Zustimmung wie in
anderen Bundesländern erhalte. Im Juli veröffentlichte das
Meinungsforschungsinstitut Wahlkreisprognose jedoch [3][eine Umfrage], die
Söders Bild ins Wanken bringt. Die AfD besitzt vier bayerische
Stimmkreishochburgen, in denen für westdeutsche Verhältnisse ungewöhnlich
viele Menschen ihr Kreuz bei der Partei setzen könnten.
Ein Stimmkreis, Cham, liegt in der Oberpfalz, drei davon – Deggendorf,
Passau-West und Freyung-Grafenau – liegen im angrenzenden Niederbayern. In
Freyung-Grafenau könnten nach diesen Umfragewerten 31,5 Prozent der Stimmen
auf die AfD entfallen, sie wäre dort nur einen halben Prozentpunkt hinter
der CSU.
Und diese Werte kommen nicht aus dem Nichts. Bei den Bundestagswahlen 2017
und 2021 war der Osten Bayerns bereits das stärkste Gebiet der AfD, und
ganz besonders der Stimmkreis Deggendorf. Bei beiden Wahlen wurden hier die
höchsten AfD-Werte verzeichnet. 2021 waren es 14,4 Prozent, 2017 sogar über
19 Prozent, im Landkreis Freyung-Grafenau – welcher bei der Bundestagswahl
zum Stimmkreis Deggendorf gehört – durchbrach die Partei bereits vor sechs
Jahren die 20-Prozent-Marke. Wie kann man sich den Erfolg der AfD hier
erklären?
In den USA wird gerne das Bild eines Gürtels herangezogen, um Regionen nach
Merkmalen einzuteilen. Es gibt beispielsweise den „Bible Belt“, den
Bibelgürtel, der Teile der Südstaaten beschreibt, wo besonders viele
evangelikale Protestant*innen leben. Wenn man der ostbayerischen Region
einen Namen geben wollte, könnte man sie den „Keine-Autobahn-Gürtel“
taufen. Von Cham über Regen nach Freyung-Grafenau durchquert man drei
Landkreise, die im Osten von Tschechien begrenzt werden, Freyung-Grafenau
teilt sich sogar noch ein Stück Grenze mit Österreich. Zusammen besitzen
sie eine Fläche von etwa 3.500 Quadratkilometern, ungefähr so groß wie das
Saarland und Berlin zusammen – und haben keinen Autobahnzugang.
Will man dort von einem Ort zum anderen, bleibt meist nur das Auto. Die
Schienenanbindung in der Region gehört zu den schlechtesten Deutschlands
und so zuckelt man über zweispurige Bundesstraßen hinter Lastwägen durch
den Bayerischen Wald, der sich in der Region über eine Länge von 100
Kilometern ausdehnt. Menschen, die dort leben, sagen meist, sie kommen aus
dem „Woid“, dem Wald.
Freyung ist eine kleine Kreisstadt mit knapp über 7.000 Einwohner*innen.
Seit 15 Jahren leitet Olaf Heinrich die Geschicke der Stadt. Der CSU-Mann
ist populär, bei der letzten Kommunalwahl 2020 wurde er mit über 94 Prozent
der Stimmen im Amt bestätigt, zudem ist er Bezirkstagspräsident von
Niederbayern. Bis 2006 war er Mitglied der Ökologisch-Demokratischen
Partei, die er damals aufgrund inhaltlicher Differenzen verließ. Als er
2013 in dieses Amt kam, war er mit damals 34 Jahren der jüngste
Bezirkstagspräsident Bayerns nach dem Zweiten Weltkrieg.
Im Rathaus von Freyung trägt er einen dunkelgrünen Anzug mit dicken
Knöpfen, der halb nach Trachtenanzug, halb nach Försterkleidung aussieht.
Der Vater war auch Forstbeamter, er selbst hat über die kommunale
Profilierung von Freyung im ländlichen Raum promoviert. Wenn er spricht,
dann in klaren, aber kurzen Sätzen. Er muss sich seine Zeit auch gut
einteilen bei seinen zwei Jobs, er arbeitet 50 Stunden pro Woche in seinem
Hauptamt als Bürgermeister – und 30 in seinem Nebenamt als
Bezirkstagspräsident. Wie die Stimmung vor Ort ist? „Ich nehme schon wahr,
dass die Zustimmungswerte für die AfD relativ hoch sind“, sagt Heinrich.
Ein verfestigtes Wahlverhalten ist das für ihn aber nicht, er kenne
niemanden, der überzeugt davon ist, dass die AfD Probleme gut lösen kann.
Ein Unterschied im Vergleich zu anderen Teilen Bayerns liegt für Heinrich
darin, dass der Wohlstand in die Region des Bayerischen Waldes sehr viel
später gekommen sei. Dieser sei „extrem hart erarbeitet“. Dass die meisten
Menschen eher einer körperlichen Arbeit nachgehen, belegen neue Zahlen der
Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Wenn man im Bild der Gürtel bleiben will:
Von der nördlichen Oberpfalz bis hin zum südlichen Niederbayern reihen sich
einige der Landkreise mit der geringsten Akademisierungsquote. In
Freyung-Grafenau liegt diese bei 7,31 Prozent, der zweitniedrigste Wert in
ganz Deutschland. Zum Vergleich: In München haben 40 Prozent der Menschen
einen Hochschulabschluss.
Bei den letzten beiden Bundestagswahlen zeigte sich, dass die AfD kaum von
Akademiker*innen gewählt wird. Bei der Wahl 2017 machten 7 Prozent der
Akademiker*innen ihr Kreuz bei der Partei, vier Jahre später 6
Prozent. Dennoch: Am beliebtesten bei Menschen mit einfacher Bildung waren
mit weitem Vorsprung Union und SPD.
„Es gibt Menschen, die sitzen am Tag vier, viereinhalb, fünf Stunden im
Bus, um in einem großen Automobilwerk zu arbeiten“, sagt Heinrich. Das
große Automobilwerk ist das von BMW, in Niederbayern hat das Unternehmen
zwei Standorte, in Landshut und Dingolfing. Das Werk in Dingolfing ist
eines der größten von BMW weltweit, 18.000 Mitarbeiter*innen sind dort
beschäftigt. 115 Kilometer sind es von Freyung dorthin, die BMW-Werksbusse
sind oft eine der wenigen Buslinien durch die Dörfer.
Aber deswegen die AfD wählen? Heinrich führt an, diese Leute hätten jetzt
einen gewissen Wohlstand erreicht, ein Haus gebaut und durch die „multiplen
Krisen, die es momentan gibt, große Angst, das zu verlieren.“ Mechanismen,
die der Politikwissenschaftler Tassilo Heinrich, der das Wahlverhalten in
ostbayerischen Regionen untersucht hat, bestätigen kann. „Man hat Angst,
etwas zu verlieren, wenn man tatsächlich etwas hat.“ Viele aus der
AfD-Wählerschaft seien Ende 40, Anfang 50, da fange man an, sich Gedanken
über die Rente und mögliche Altersarmut zu machen.
Es ist eine typische Erklärung für den vermeintlichen Erfolg der AfD:
Wähler*innen fühlen sich abgehängt. Dass dies auch auf die Menschen in
Freyung-Grafenau zutrifft, das will Heinrich „überhaupt nicht
unterschreiben“. Das sieht auch die Studie der FES so. Alle ostbayerischen
Landkreise zählt sie zumindest zu der Kategorie „Deutschlands solide
Mitte“. Die Mediangehälter liegen bei etwa 3.300 bis 3.400 Euro brutto im
Monat, die Mietkostenbelastung ist durchschnittlich. Die Altersarmut
pendelt zwischen 1 und 2 Prozent, die Kinderarmut bewegt sich meist im
mittleren einstelligen Bereich, kein Vergleich zum Ruhrgebiet oder
[4][Berlin], wo diese weit über 20 Prozent beträgt.
Menschen ziehen eher in die Landkreise als davon weg, das Wanderungssaldo
ist positiv. Gerade beim Nachwuchs an jungen Arbeitskräften ist der
Unterschied zwischen Ostbayern und Ostdeutschland gewaltig. In weiten
Teilen der neuen Bundesländer kommen auf 100 Beschäftigte im Alter von 50
bis 65 Jahren nur meist 30 bis 40 Beschäftigte unter 30 Jahren, in
Niederbayern überschreiten die Werte oft die 70er-Marke. Und auch bei den
Investitionen gehört Niederbayern zur Bundesspitze. Je Einwohner*in
werden dort meist über 800 Euro in den Kommunen investiert, in weiten
Teilen Deutschlands werden nur wenige hundert Euro pro Bürger*in
ausgegeben.
Heinrich sieht drei Themen, welche die Menschen vor Ort bewegen und für
Frustration sorgen: Migration, Energie und Wirtschaft. Themen, die sich oft
auf regionaler Ebene kaum lösen lassen, da der Bund in der Verantwortung
steht. Das spiegelt sich auch bei der AfD wider: Sie setzt vor Ort kaum auf
lokale Themen. Unter Plakaten von Heinrich hängt der AfD Kreisverband
Freyung-Grafenau beispielsweise eigene mit dem Konterfei ihrer
Spitzenkandidat*innen Katrin Ebner-Steiner und Martin Böhm. „Nie
wieder Lockdowns“ steht darauf geschrieben, obwohl es gerade überhaupt
keine Coronamaßnahmen gibt. Und der Deggendorfer Kreisverband
veröffentlichte [5][auf Facebook] ein Bild, auf dem steht, dass 75 Prozent
der Bevölkerung unzufrieden mit der Ampelregierung seien.
Dass der Wahlkampf so von bayerischen Themen entkoppelt wird, daran sind
auch Mitglieder der Unionsparteien schuld. Ministerpräsident Söder
twitterte Anfang September: „Ja zu Bayern, Nein zur Ampel!“ Für den
Politikwissenschaftler Heinrich ergeben sich da Parallelen zur Landtagswahl
2018. Schon da hätten „kaum bayerische Themen stattgefunden, es war
definitiv ein Referendum über die Bundesregierung“.
Auch ein Blick in das [6][148 Seiten umfassende Parteiprogramm] der AfD zur
Landtagswahl zeigt: Mit vielen spezifisch bayerischen Forderungen geht die
Partei nicht ins Rennen, stattdessen zieht sich der bundesweite Duktus
durch das Blatt: Es werden Ängste vor einer „Islamisierung“ geschürt, geg…
das Gendern und angebliche ideologische Zwänge gewettert. An den Auftritten
der AfD im Internet und in sozialen Medien kann die Zustimmung auch kaum
liegen. Während der Deggendorfer Kreisverband immerhin noch Veranstaltungen
aus dem November 2021 auf seiner Termineseite ausweist, kann die Seite beim
Chamer Ableger nicht korrekt dargestellt werden – und Freyung-Grafenau
besitzt nicht einmal eine Website.
Dass die AfD hier wegen bundespolitischer Themen gewählt wird,
unterstreichen auch die Ergebnisse der letzten Kommunalwahl. 2020
erreichten sie etwas über sechs Prozent bei der Wahl zum Kreistag, was vier
Sitzen entspricht. „Unauffällig“ seien die Abgeordneten dort aber seitdem
geblieben, besonders viele Anträge haben sie nicht gestellt. Vor zwei
Jahren traten sie das einzige Mal in den Regionalmedien in Erscheinung. Sie
versuchten vergebens, ein Ordnungsgeld gegen die Fraktion der Grünen
durchzusetzen, weil sich deren Abgeordnete bei einer Abstimmung enthalten
hatten, um ein Anliegen nicht zusammen mit der AfD durchsetzen zu müssen.
Im Stadtrat von Freyung findet man gar keine*n Vertreter*in der AfD,
sie waren nicht angetreten. Vor Ort sei die Partei kaum präsent, sagt
Heinrich. Und das, obwohl der Stimmkreis Deggendorf der Heimatwahlkreis von
Ebner-Steiner ist. „Veranstaltungen gibt es höchst selten, ich würde sagen
eine im Jahr, Infostände sind es in den Wahlzeiten natürlich deutlich
mehr.“ Die Leute, die dort hingehen, seien ein harter Kern von aktiven
Wahlkämpfer*innen.
Im kleinen Örtchen Karpfham im Landkreis Rottal-Inn, 30 Kilometer
südwestlich von Passau, wird an einem Donnerstag Ende August das Karpfhamer
Fest eröffnet. Ein Volksfest, wie es viele in [7][Bayern] gibt, ein Ort, wo
Bier aus Maßkrügen die einzig legale Droge ist und das auch so bleiben
soll. „Oans wie koans“, „eines wie kein anderes“, lautet der Wahlspruch…
Festes. Angegliedert ist die Rottalschau, eine der größten
Landtechnikmessen Deutschlands, Traktoren und anderes schweres Gerät stehen
dort.
Es ist Punkt 18 Uhr, das Fest hat gerade begonnen und der Kreisverband der
AfD Rottal-Inn hat zum Treffen an der Polizeiinspektion neben dem Festplatz
gebeten. Zahlreiches Erscheinen sei gewünscht, wurde auf Facebook
angekündigt, alle in blauen T-Shirts würden ein Freibier bekommen. Vor dem
Gebäude stehen drei Personen. Einer davon ist der Landtagskandidat Dietmar
Seidl, weißes Haar und Hemd, dunkelblaue Trachtenweste, lange Lederhose und
dunkelblaue Schuhe. Mit ihm gemeinsam wartet ein Mann mittleren Alters,
ebenfalls lange Lederhose, Hut, AfD-Shirt, und eine Frau, die sich auch an
den blauen Dresscode hält.
Warum sie AfD wählen? „Die AfD steht für Heimatschutz, für das arbeitende
Volk“, sagt der Mann mit Hut, Taxifahrer von Beruf. Und im selben Atemzug,
ohne dass danach gefragt wurde: „Wir sind keine Nazis und auch keine
Rechtsextremisten.“ In der Presse würden sie so dargestellt werden,
pflichtet ihm die Frau bei. Dass sie in Niederbayern hohe Werte erzielen,
liege ihrer Meinung nach an Leuten, die aus dem CSU-Lager wechseln. CSU und
Freie Wähler seien für sie nicht wählbar, vor allem die Union sei unter
Merkel nach links abgedriftet, sagt Seidl. „Wir hätten die AfD nicht
gebraucht, wir waren früher CSU-Stammwähler“, seine Begleiter*innen
stimmen zu. „Wenn der Franz Josef Strauß wieder auferstehen würde, wäre er
in der AfD“, sagt der Mann mit Hut mit breitem niederbayerischem Akzent.
„Oder wir alle in der CSU“, lacht die Frau.
Die AfD würden sie nicht wählen, weil es ihnen aktuell schlecht gehe, sagen
beide. „Aber es wird schlechter“, befürchtet der Taxifahrer. Er kann seine
Zukunftsängste dann aber nicht näher begründen. Auch die FES-Studie sieht
den Landkreis für die Zukunft eigentlich gut aufgestellt. Genau wie
Freyung-Grafenau und alle anderen Landkreise in der Region bezeichnet die
Studie Rottal-Inn als „resilienten ländlichen Raum“. Den meisten
westdeutschen Gegenden und so gut wie allen ostdeutschen Kreisen werden
schlechtere Zeugnisse ausgestellt.
Ob die drei die AfD wegen der Bundespolitik wählen würden, oder wegen der
Politik in Bayern? Zum ersten Mal muss Seidl stutzen. „Beides“, sagt er
dann, obwohl er auf Nachfrage kein konkretes lokales Projekt nennt. Der
Taxifahrer deutet auf die Straße, über welche die Menschenmassen Richtung
Eingang des Festes strömen. Er zeigt auf die Trachten, man sieht viele
Lederhosen, Westen, Jancker und Dirndl. „Bayern ist sehr mit der Tradition
verbunden.“ Einmal bleibt ein Mann mit seinem Sohn kurz stehen, drückt
seine Unterstützung aus. Er sei aber nicht von hier, komme aus dem
fränkischen Bamberg. „Vor zwei Jahren war das noch anders“, meint der
Taxifahrer. „Jetzt zeigt von 20 Leuten einer den Stinkefinger und die
restlichen 19 recken den Daumen hoch.“
Zwanzig Kilometer weiter, in Pfarrkirchen, steht am Ortseingang ein
unscheinbares Haus. Hier im Lokal Grün sitzt der Kreisverband der Grünen
Rottal-Inn, die Kreisrätin Mia Goller empfängt. Die 45-jährige vierfache
Mutter hat als Landratskandidatin bereits 23 Prozent geholt, das beste
Ergebnis der Grünen niederbayernweit. Die gelernte Journalistin bietet ihr
eigenes Bier an, „Mia Bier“. Gibt’s das auch alkoholfrei? „Na, wir sind…
Niederbayern“, lacht sie. „Ich verstehe es nicht, warum die Leute hier auf
die Idee kommen, dass die AfD eine gute Idee ist, die Menschen in
Niederbayern werden gehört von der Politik“, sagt sie. Es gebe ausreichend
politische Bildung, den Leuten gehe es gut, man habe BMW, viele
Arbeitgeber, den Tourismus.
## Grüne als Feindbild
Dass man da im Bierzelt Stammtischparolen von sich gibt, könne sie ja
gerade noch verstehen, aber „dass man wirklich sonntags hingeht und die
wählt, das verstehe ich nicht.“ Schließlich mache die AfD feindliche
Politik für die Leute, die sie wählen, mache „keine Politik für
Geringverdiener, die kümmern sich eigentlich nur um die, die richtig gut
verdienen.“ Auch die drei AfD-Abgeordneten, mit denen sie im Bezirkstag
sitzt, seien keine schlecht situierten Menschen, sondern eine Lehrerin, ein
Vertriebsleiter und ein Kaufmann.
Gerade auf Facebook merkt Goller eine zunehmende Feindseligkeit, die Grünen
sind das Hauptfeindbild der AfD-Anhänger*innen. Der Politikwissenschaftler
Heinrich übt sich in einer Erklärung: Bei der Debatte über das
Gebäudeenergiegesetz standen die Grünen mit dem zuständigen Minister Robert
Habeck sinnbildlich für die nach wissenschaftlichen Fakten effiziente, aber
gefürchtete Wärmepumpe. Katharina Schulze, die Spitzenkandidatin für die
Landtagswahl, wurde zuletzt auf einer Veranstaltung beschimpft, gerade die
Frauen bei den Grünen würden angegangen.
Goller erzählt von einer Mitarbeiterin im Lokal Grün, die Angst habe, dort
zu arbeiten. Auch Goller glaubt, dass die AfD vor Ort wegen
bundespolitischer Themen gewählt werde. Niederbayern hänge sehr am
Verbrenner, nicht zuletzt, weil BMW dort ein wichtiger Arbeitgeber ist.
„Die denken, wenn sie AfD wählen, können sie den Klimawandel abwählen.“
Während des Gesprächs mit Goller läuft gerade medial die Aiwanger-Affäre
heiß: Ob Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) aufgrund der
in seiner Schulzeit bei ihm gefundenen [8][antisemitischen Flugblätter]
zurücktreten muss? Einer klaren Antwort weicht sie aus und betont, dass die
Freien Wähler trotz allem die Leute abfangen können, bevor sie die AfD
wählen. Wenige Tage später entscheidet Söder, ihn trotz schwammiger
Antworten [9][im Amt zu behalten]. Die Freien Wähler gewinnen in Umfragen
trotz des Skandals bis zu 4 Prozent dazu, ohne dass die AfD an
Prozentpunkten verliert.
Die Grünen-Politikerin stört, dass derzeit kein breites Bündnis der
Demokrat*innen gegen die AfD in Sicht ist. Mitte August gab es im nahe
gelegenen Eggenfelden eine Demonstration unter dem Motto „Gesellschaft
schützen, Demokratie verteidigen“. Die Freien Wähler stellten nur ihr Logo
für das Plakat zur Verfügung, die CSU war nicht einmal auf diesem
vertreten. Dennoch verteidigt Goller die Partei. Sie komme aus einem
CSU-Haushalt, sei mit Strauß’ Bild an der Wand aufgewachsen, ihr Vater habe
um ihn getrauert. „Aber mit dem rechten Gedankengut zu flirten, das habe
ich persönlich von der CSU bisher nicht erlebt. Das ist neu und sehr
erschreckend.“
Am Ende kann sich niemand wirklich erklären, wieso die AfD genau hier in
Ostbayern so viel Zuspruch erfährt, nicht mal die AfD selbst. Die
bayerische AfD ist einer der zerstrittensten Ableger, die Fraktion im
Landtag spaltete sich fast während der Legislaturperiode. Sie ist auch eine
der extremsten Landesverbände, erst kürzlich bestätigte der Bayerische
Verwaltungsgerichtshof, dass der Verfassungsschutz die AfD in Bayern
[10][als Gesamtpartei beobachten darf.] Auch der Politikwissenschaftler
Heinrich sieht keine einfache Antwort, sondern einen Mix aus verschiedenen
Faktoren. Die Regionen ohne große urbane Zentren, dazu die Angstnarrative
vom Abstieg sowie die Migrationsströme, welche über die Bahnlinie durch
Österreich 2015 nach Deutschland kamen.
Eins scheint jedoch sicher: Eine AfD-Wahl ist keine Faktenwahl, sondern
eine Emotionswahl. Auch in der eigentlich heilen ostbayerischen Welt
kontrollieren die Ampelparteien angeblich das heimische Thermostat und
zwingen zum Gendern. In dieser Welt ist Angela Merkel immer noch
Schattenkanzlerin einer angeblich zu linken Union und nicht mal ein Hubert
Aiwanger rechts genug. Egal ob Cham, Deggendorf, Freyung-Grafenau oder
Rottal-Inn: Am 8. Oktober wird nicht München gewählt, sondern Berlin.
21 Sep 2023
## LINKS
[1] /Markus-Soeder-im-Wahlkampf/!5947595
[2] https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&…
[3] https://www.wahlkreisprognose.de/2023/07/04/bayern-minus-fuer-csu-freie-wae…
[4] /Kinderarmut-in-Berlin/!5943402
[5] https://www.facebook.com/afd.kv.deggendorf/?locale=de_DE
[6] https://www.afd-bayern.de/wp-content/uploads/2023/07/Landtagswahl23_Program…
[7] /Braune-Tradition-zwischen-Main-und-Alpen/!5956403
[8] /Umgang-mit-dem-Fall-Aiwanger/!5957990
[9] /Aiwanger-Affaere-in-Bayern/!5957577
[10] /Verfassungsschutz-in-Bayern/!5960445
## AUTOREN
Jonas Grimm
## TAGS
Schwerpunkt Landtagswahl Bayern
AfD Bayern
Niederbayern
Longread
GNS
wochentaz
Bildungspolitik
Kolumne Starke Gefühle
Schwerpunkt Landtagswahl Bayern
Schwerpunkt Landtagswahl Bayern
Schwerpunkt Landtagswahl Bayern
Schwerpunkt Landtagswahl Bayern
CSU-Parteitag
Hubert Aiwanger
AfD Bayern
Markus Söder
## ARTIKEL ZUM THEMA
Vertraute Räume im ländlichen Raum: Ein Gefühl von Heimat
Wie kommen die globalen Krisen auf dem Land an? Ein Forschungsprojekt an
der Berliner Humboldt-Uni hat das untersucht.
Söders Stegreifpopulismus: Kommissar Ex kläfft nur
Unser Bildungssystem ist spitze, meint man in der Bayerischen
Staatskanzlei. Und so kämpft Söder gegen die Abschaffung unangekündigter
Tests in Schulen.
Minderheitenschutz in Bayern: Die Gaudi hat ein Loch
Der neue Landtag zeigt, wie rechts der Freistaat ist. Anständige
Konservative müssen jetzt die Demokratie retten, meint unser bayrischer
Autor.
Wiederwahl von Söder in Bayern: Rechter Spuk im Plenarsaal
Rassistische Parolen und höhnisches Gelächter: Die AfD-Fraktion macht die
Ministerpräsidentenwahl in Bayern zu einem unwürdigen Spektakel.
Kampf um den Landtag: Bayern-Wahlen mit Zahlen
Hochrechnungen für die Landtagswahl in Bayern gibt es noch nicht. Dafür
haben wir jede Menge anderer Freistaat-Fakten im Angebot.
Django Asül über Niederbayern: „Wir wissen, wer die echte CSU ist“
Niederbayern! Hier wohnt die schweigende Mehrheit, hier verortet Friedrich
Merz das wahre Deutschland. Was hat es auf sich mit diesem Landstrich?
Landtagswahl Bayern: Normalitas Bavariae
Im Freistaat hat man ganz eigene Vorstellungen davon, was anständig, normal
oder gar witzig ist. Gedanken zu Söder, Aiwanger, Messern und Populismus.
CSU-Parteitag in München: „Schwarz-Grün isch over“
Markus Söder hat seine Partei hinter sich – fast einstimmig wählt sie ihn
erneut zum Chef. Eine Prozentzahl für die Landtagswahl verspricht er nicht.
Aiwanger im Interview: Fragen ohne Antworten
Der bayerische Minister Aiwanger äußert sich in einem Interview zur
Flugblatt-Affäre. Nicht alles, was er sagt, kann veröffentlicht werden.
Verfassungsschutz in Bayern: AfD unter Beobachtung
Wenige Wochen vor der Landtagswahl stellt ein Gericht in Bayern fest: Die
AfD steht im Freistaat als gesamte Partei im Fokus des Verfassungsschutzes.
Markus Söder im Wahlkampf: Der Würstchen-Populist
Markus Söder schürt Ängste und nimmt es mit Fakten nicht so genau. Stellt
sich in Bayern im Herbst ein kleiner Trump zur Wiederwahl?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.