# taz.de -- Landtagswahl in Bayern: Die Jammer-Bayern | |
> In Ostbayern erhält die AfD besonders viel Zuspruch. Dabei ist die Region | |
> alles andere als strukturschwach. Warum wählen die Menschen dort rechts? | |
Bild: Wahlkampf ohne Inhalt: AfD-Kandidatin Katrin Ebner-Steiner beim Volksfest… | |
FREYUNG UND KARPFHAM, NIEDERBAYERN taz | Es gibt Dinge, gegen die würde | |
kein Mensch wetten. Zum Beispiel, dass die CSU den Ministerpräsidenten in | |
Bayern stellt, seit 1957 wird das Land stets von einem Konservativen | |
regiert. Auch bei den [1][anstehenden Landtagswahlen] am 8. Oktober wird | |
das wohl wieder so sein, bei der Partei von Ministerpräsident Markus Söder | |
werden voraussichtlich mindestens 35 Prozent der Wählerschaft ihr Kreuz | |
machen. Die einzig spannende Frage ist deshalb: Wer wird zweitstärkste | |
Kraft im flächengrößten Bundesland? Drei Parteien liegen in Umfragen | |
ungefähr gleichauf ([2][zwischen 12 und 17 Prozent]), es könnten die Grünen | |
werden, die Freien Wähler – oder doch gar die AfD, mit der eine Koalition | |
allerdings ausgeschlossen ist. | |
Ministerpräsident Markus Söder (CSU) betont zwar gerne stolz, dass die AfD | |
in Bayern keine große Rolle spiele und nicht so viel Zustimmung wie in | |
anderen Bundesländern erhalte. Im Juli veröffentlichte das | |
Meinungsforschungsinstitut Wahlkreisprognose jedoch [3][eine Umfrage], die | |
Söders Bild ins Wanken bringt. Die AfD besitzt vier bayerische | |
Stimmkreishochburgen, in denen für westdeutsche Verhältnisse ungewöhnlich | |
viele Menschen ihr Kreuz bei der Partei setzen könnten. | |
Ein Stimmkreis, Cham, liegt in der Oberpfalz, drei davon – Deggendorf, | |
Passau-West und Freyung-Grafenau – liegen im angrenzenden Niederbayern. In | |
Freyung-Grafenau könnten nach diesen Umfragewerten 31,5 Prozent der Stimmen | |
auf die AfD entfallen, sie wäre dort nur einen halben Prozentpunkt hinter | |
der CSU. | |
Und diese Werte kommen nicht aus dem Nichts. Bei den Bundestagswahlen 2017 | |
und 2021 war der Osten Bayerns bereits das stärkste Gebiet der AfD, und | |
ganz besonders der Stimmkreis Deggendorf. Bei beiden Wahlen wurden hier die | |
höchsten AfD-Werte verzeichnet. 2021 waren es 14,4 Prozent, 2017 sogar über | |
19 Prozent, im Landkreis Freyung-Grafenau – welcher bei der Bundestagswahl | |
zum Stimmkreis Deggendorf gehört – durchbrach die Partei bereits vor sechs | |
Jahren die 20-Prozent-Marke. Wie kann man sich den Erfolg der AfD hier | |
erklären? | |
In den USA wird gerne das Bild eines Gürtels herangezogen, um Regionen nach | |
Merkmalen einzuteilen. Es gibt beispielsweise den „Bible Belt“, den | |
Bibelgürtel, der Teile der Südstaaten beschreibt, wo besonders viele | |
evangelikale Protestant*innen leben. Wenn man der ostbayerischen Region | |
einen Namen geben wollte, könnte man sie den „Keine-Autobahn-Gürtel“ | |
taufen. Von Cham über Regen nach Freyung-Grafenau durchquert man drei | |
Landkreise, die im Osten von Tschechien begrenzt werden, Freyung-Grafenau | |
teilt sich sogar noch ein Stück Grenze mit Österreich. Zusammen besitzen | |
sie eine Fläche von etwa 3.500 Quadratkilometern, ungefähr so groß wie das | |
Saarland und Berlin zusammen – und haben keinen Autobahnzugang. | |
Will man dort von einem Ort zum anderen, bleibt meist nur das Auto. Die | |
Schienenanbindung in der Region gehört zu den schlechtesten Deutschlands | |
und so zuckelt man über zweispurige Bundesstraßen hinter Lastwägen durch | |
den Bayerischen Wald, der sich in der Region über eine Länge von 100 | |
Kilometern ausdehnt. Menschen, die dort leben, sagen meist, sie kommen aus | |
dem „Woid“, dem Wald. | |
Freyung ist eine kleine Kreisstadt mit knapp über 7.000 Einwohner*innen. | |
Seit 15 Jahren leitet Olaf Heinrich die Geschicke der Stadt. Der CSU-Mann | |
ist populär, bei der letzten Kommunalwahl 2020 wurde er mit über 94 Prozent | |
der Stimmen im Amt bestätigt, zudem ist er Bezirkstagspräsident von | |
Niederbayern. Bis 2006 war er Mitglied der Ökologisch-Demokratischen | |
Partei, die er damals aufgrund inhaltlicher Differenzen verließ. Als er | |
2013 in dieses Amt kam, war er mit damals 34 Jahren der jüngste | |
Bezirkstagspräsident Bayerns nach dem Zweiten Weltkrieg. | |
Im Rathaus von Freyung trägt er einen dunkelgrünen Anzug mit dicken | |
Knöpfen, der halb nach Trachtenanzug, halb nach Försterkleidung aussieht. | |
Der Vater war auch Forstbeamter, er selbst hat über die kommunale | |
Profilierung von Freyung im ländlichen Raum promoviert. Wenn er spricht, | |
dann in klaren, aber kurzen Sätzen. Er muss sich seine Zeit auch gut | |
einteilen bei seinen zwei Jobs, er arbeitet 50 Stunden pro Woche in seinem | |
Hauptamt als Bürgermeister – und 30 in seinem Nebenamt als | |
Bezirkstagspräsident. Wie die Stimmung vor Ort ist? „Ich nehme schon wahr, | |
dass die Zustimmungswerte für die AfD relativ hoch sind“, sagt Heinrich. | |
Ein verfestigtes Wahlverhalten ist das für ihn aber nicht, er kenne | |
niemanden, der überzeugt davon ist, dass die AfD Probleme gut lösen kann. | |
Ein Unterschied im Vergleich zu anderen Teilen Bayerns liegt für Heinrich | |
darin, dass der Wohlstand in die Region des Bayerischen Waldes sehr viel | |
später gekommen sei. Dieser sei „extrem hart erarbeitet“. Dass die meisten | |
Menschen eher einer körperlichen Arbeit nachgehen, belegen neue Zahlen der | |
Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Wenn man im Bild der Gürtel bleiben will: | |
Von der nördlichen Oberpfalz bis hin zum südlichen Niederbayern reihen sich | |
einige der Landkreise mit der geringsten Akademisierungsquote. In | |
Freyung-Grafenau liegt diese bei 7,31 Prozent, der zweitniedrigste Wert in | |
ganz Deutschland. Zum Vergleich: In München haben 40 Prozent der Menschen | |
einen Hochschulabschluss. | |
Bei den letzten beiden Bundestagswahlen zeigte sich, dass die AfD kaum von | |
Akademiker*innen gewählt wird. Bei der Wahl 2017 machten 7 Prozent der | |
Akademiker*innen ihr Kreuz bei der Partei, vier Jahre später 6 | |
Prozent. Dennoch: Am beliebtesten bei Menschen mit einfacher Bildung waren | |
mit weitem Vorsprung Union und SPD. | |
„Es gibt Menschen, die sitzen am Tag vier, viereinhalb, fünf Stunden im | |
Bus, um in einem großen Automobilwerk zu arbeiten“, sagt Heinrich. Das | |
große Automobilwerk ist das von BMW, in Niederbayern hat das Unternehmen | |
zwei Standorte, in Landshut und Dingolfing. Das Werk in Dingolfing ist | |
eines der größten von BMW weltweit, 18.000 Mitarbeiter*innen sind dort | |
beschäftigt. 115 Kilometer sind es von Freyung dorthin, die BMW-Werksbusse | |
sind oft eine der wenigen Buslinien durch die Dörfer. | |
Aber deswegen die AfD wählen? Heinrich führt an, diese Leute hätten jetzt | |
einen gewissen Wohlstand erreicht, ein Haus gebaut und durch die „multiplen | |
Krisen, die es momentan gibt, große Angst, das zu verlieren.“ Mechanismen, | |
die der Politikwissenschaftler Tassilo Heinrich, der das Wahlverhalten in | |
ostbayerischen Regionen untersucht hat, bestätigen kann. „Man hat Angst, | |
etwas zu verlieren, wenn man tatsächlich etwas hat.“ Viele aus der | |
AfD-Wählerschaft seien Ende 40, Anfang 50, da fange man an, sich Gedanken | |
über die Rente und mögliche Altersarmut zu machen. | |
Es ist eine typische Erklärung für den vermeintlichen Erfolg der AfD: | |
Wähler*innen fühlen sich abgehängt. Dass dies auch auf die Menschen in | |
Freyung-Grafenau zutrifft, das will Heinrich „überhaupt nicht | |
unterschreiben“. Das sieht auch die Studie der FES so. Alle ostbayerischen | |
Landkreise zählt sie zumindest zu der Kategorie „Deutschlands solide | |
Mitte“. Die Mediangehälter liegen bei etwa 3.300 bis 3.400 Euro brutto im | |
Monat, die Mietkostenbelastung ist durchschnittlich. Die Altersarmut | |
pendelt zwischen 1 und 2 Prozent, die Kinderarmut bewegt sich meist im | |
mittleren einstelligen Bereich, kein Vergleich zum Ruhrgebiet oder | |
[4][Berlin], wo diese weit über 20 Prozent beträgt. | |
Menschen ziehen eher in die Landkreise als davon weg, das Wanderungssaldo | |
ist positiv. Gerade beim Nachwuchs an jungen Arbeitskräften ist der | |
Unterschied zwischen Ostbayern und Ostdeutschland gewaltig. In weiten | |
Teilen der neuen Bundesländer kommen auf 100 Beschäftigte im Alter von 50 | |
bis 65 Jahren nur meist 30 bis 40 Beschäftigte unter 30 Jahren, in | |
Niederbayern überschreiten die Werte oft die 70er-Marke. Und auch bei den | |
Investitionen gehört Niederbayern zur Bundesspitze. Je Einwohner*in | |
werden dort meist über 800 Euro in den Kommunen investiert, in weiten | |
Teilen Deutschlands werden nur wenige hundert Euro pro Bürger*in | |
ausgegeben. | |
Heinrich sieht drei Themen, welche die Menschen vor Ort bewegen und für | |
Frustration sorgen: Migration, Energie und Wirtschaft. Themen, die sich oft | |
auf regionaler Ebene kaum lösen lassen, da der Bund in der Verantwortung | |
steht. Das spiegelt sich auch bei der AfD wider: Sie setzt vor Ort kaum auf | |
lokale Themen. Unter Plakaten von Heinrich hängt der AfD Kreisverband | |
Freyung-Grafenau beispielsweise eigene mit dem Konterfei ihrer | |
Spitzenkandidat*innen Katrin Ebner-Steiner und Martin Böhm. „Nie | |
wieder Lockdowns“ steht darauf geschrieben, obwohl es gerade überhaupt | |
keine Coronamaßnahmen gibt. Und der Deggendorfer Kreisverband | |
veröffentlichte [5][auf Facebook] ein Bild, auf dem steht, dass 75 Prozent | |
der Bevölkerung unzufrieden mit der Ampelregierung seien. | |
Dass der Wahlkampf so von bayerischen Themen entkoppelt wird, daran sind | |
auch Mitglieder der Unionsparteien schuld. Ministerpräsident Söder | |
twitterte Anfang September: „Ja zu Bayern, Nein zur Ampel!“ Für den | |
Politikwissenschaftler Heinrich ergeben sich da Parallelen zur Landtagswahl | |
2018. Schon da hätten „kaum bayerische Themen stattgefunden, es war | |
definitiv ein Referendum über die Bundesregierung“. | |
Auch ein Blick in das [6][148 Seiten umfassende Parteiprogramm] der AfD zur | |
Landtagswahl zeigt: Mit vielen spezifisch bayerischen Forderungen geht die | |
Partei nicht ins Rennen, stattdessen zieht sich der bundesweite Duktus | |
durch das Blatt: Es werden Ängste vor einer „Islamisierung“ geschürt, geg… | |
das Gendern und angebliche ideologische Zwänge gewettert. An den Auftritten | |
der AfD im Internet und in sozialen Medien kann die Zustimmung auch kaum | |
liegen. Während der Deggendorfer Kreisverband immerhin noch Veranstaltungen | |
aus dem November 2021 auf seiner Termineseite ausweist, kann die Seite beim | |
Chamer Ableger nicht korrekt dargestellt werden – und Freyung-Grafenau | |
besitzt nicht einmal eine Website. | |
Dass die AfD hier wegen bundespolitischer Themen gewählt wird, | |
unterstreichen auch die Ergebnisse der letzten Kommunalwahl. 2020 | |
erreichten sie etwas über sechs Prozent bei der Wahl zum Kreistag, was vier | |
Sitzen entspricht. „Unauffällig“ seien die Abgeordneten dort aber seitdem | |
geblieben, besonders viele Anträge haben sie nicht gestellt. Vor zwei | |
Jahren traten sie das einzige Mal in den Regionalmedien in Erscheinung. Sie | |
versuchten vergebens, ein Ordnungsgeld gegen die Fraktion der Grünen | |
durchzusetzen, weil sich deren Abgeordnete bei einer Abstimmung enthalten | |
hatten, um ein Anliegen nicht zusammen mit der AfD durchsetzen zu müssen. | |
Im Stadtrat von Freyung findet man gar keine*n Vertreter*in der AfD, | |
sie waren nicht angetreten. Vor Ort sei die Partei kaum präsent, sagt | |
Heinrich. Und das, obwohl der Stimmkreis Deggendorf der Heimatwahlkreis von | |
Ebner-Steiner ist. „Veranstaltungen gibt es höchst selten, ich würde sagen | |
eine im Jahr, Infostände sind es in den Wahlzeiten natürlich deutlich | |
mehr.“ Die Leute, die dort hingehen, seien ein harter Kern von aktiven | |
Wahlkämpfer*innen. | |
Im kleinen Örtchen Karpfham im Landkreis Rottal-Inn, 30 Kilometer | |
südwestlich von Passau, wird an einem Donnerstag Ende August das Karpfhamer | |
Fest eröffnet. Ein Volksfest, wie es viele in [7][Bayern] gibt, ein Ort, wo | |
Bier aus Maßkrügen die einzig legale Droge ist und das auch so bleiben | |
soll. „Oans wie koans“, „eines wie kein anderes“, lautet der Wahlspruch… | |
Festes. Angegliedert ist die Rottalschau, eine der größten | |
Landtechnikmessen Deutschlands, Traktoren und anderes schweres Gerät stehen | |
dort. | |
Es ist Punkt 18 Uhr, das Fest hat gerade begonnen und der Kreisverband der | |
AfD Rottal-Inn hat zum Treffen an der Polizeiinspektion neben dem Festplatz | |
gebeten. Zahlreiches Erscheinen sei gewünscht, wurde auf Facebook | |
angekündigt, alle in blauen T-Shirts würden ein Freibier bekommen. Vor dem | |
Gebäude stehen drei Personen. Einer davon ist der Landtagskandidat Dietmar | |
Seidl, weißes Haar und Hemd, dunkelblaue Trachtenweste, lange Lederhose und | |
dunkelblaue Schuhe. Mit ihm gemeinsam wartet ein Mann mittleren Alters, | |
ebenfalls lange Lederhose, Hut, AfD-Shirt, und eine Frau, die sich auch an | |
den blauen Dresscode hält. | |
Warum sie AfD wählen? „Die AfD steht für Heimatschutz, für das arbeitende | |
Volk“, sagt der Mann mit Hut, Taxifahrer von Beruf. Und im selben Atemzug, | |
ohne dass danach gefragt wurde: „Wir sind keine Nazis und auch keine | |
Rechtsextremisten.“ In der Presse würden sie so dargestellt werden, | |
pflichtet ihm die Frau bei. Dass sie in Niederbayern hohe Werte erzielen, | |
liege ihrer Meinung nach an Leuten, die aus dem CSU-Lager wechseln. CSU und | |
Freie Wähler seien für sie nicht wählbar, vor allem die Union sei unter | |
Merkel nach links abgedriftet, sagt Seidl. „Wir hätten die AfD nicht | |
gebraucht, wir waren früher CSU-Stammwähler“, seine Begleiter*innen | |
stimmen zu. „Wenn der Franz Josef Strauß wieder auferstehen würde, wäre er | |
in der AfD“, sagt der Mann mit Hut mit breitem niederbayerischem Akzent. | |
„Oder wir alle in der CSU“, lacht die Frau. | |
Die AfD würden sie nicht wählen, weil es ihnen aktuell schlecht gehe, sagen | |
beide. „Aber es wird schlechter“, befürchtet der Taxifahrer. Er kann seine | |
Zukunftsängste dann aber nicht näher begründen. Auch die FES-Studie sieht | |
den Landkreis für die Zukunft eigentlich gut aufgestellt. Genau wie | |
Freyung-Grafenau und alle anderen Landkreise in der Region bezeichnet die | |
Studie Rottal-Inn als „resilienten ländlichen Raum“. Den meisten | |
westdeutschen Gegenden und so gut wie allen ostdeutschen Kreisen werden | |
schlechtere Zeugnisse ausgestellt. | |
Ob die drei die AfD wegen der Bundespolitik wählen würden, oder wegen der | |
Politik in Bayern? Zum ersten Mal muss Seidl stutzen. „Beides“, sagt er | |
dann, obwohl er auf Nachfrage kein konkretes lokales Projekt nennt. Der | |
Taxifahrer deutet auf die Straße, über welche die Menschenmassen Richtung | |
Eingang des Festes strömen. Er zeigt auf die Trachten, man sieht viele | |
Lederhosen, Westen, Jancker und Dirndl. „Bayern ist sehr mit der Tradition | |
verbunden.“ Einmal bleibt ein Mann mit seinem Sohn kurz stehen, drückt | |
seine Unterstützung aus. Er sei aber nicht von hier, komme aus dem | |
fränkischen Bamberg. „Vor zwei Jahren war das noch anders“, meint der | |
Taxifahrer. „Jetzt zeigt von 20 Leuten einer den Stinkefinger und die | |
restlichen 19 recken den Daumen hoch.“ | |
Zwanzig Kilometer weiter, in Pfarrkirchen, steht am Ortseingang ein | |
unscheinbares Haus. Hier im Lokal Grün sitzt der Kreisverband der Grünen | |
Rottal-Inn, die Kreisrätin Mia Goller empfängt. Die 45-jährige vierfache | |
Mutter hat als Landratskandidatin bereits 23 Prozent geholt, das beste | |
Ergebnis der Grünen niederbayernweit. Die gelernte Journalistin bietet ihr | |
eigenes Bier an, „Mia Bier“. Gibt’s das auch alkoholfrei? „Na, wir sind… | |
Niederbayern“, lacht sie. „Ich verstehe es nicht, warum die Leute hier auf | |
die Idee kommen, dass die AfD eine gute Idee ist, die Menschen in | |
Niederbayern werden gehört von der Politik“, sagt sie. Es gebe ausreichend | |
politische Bildung, den Leuten gehe es gut, man habe BMW, viele | |
Arbeitgeber, den Tourismus. | |
## Grüne als Feindbild | |
Dass man da im Bierzelt Stammtischparolen von sich gibt, könne sie ja | |
gerade noch verstehen, aber „dass man wirklich sonntags hingeht und die | |
wählt, das verstehe ich nicht.“ Schließlich mache die AfD feindliche | |
Politik für die Leute, die sie wählen, mache „keine Politik für | |
Geringverdiener, die kümmern sich eigentlich nur um die, die richtig gut | |
verdienen.“ Auch die drei AfD-Abgeordneten, mit denen sie im Bezirkstag | |
sitzt, seien keine schlecht situierten Menschen, sondern eine Lehrerin, ein | |
Vertriebsleiter und ein Kaufmann. | |
Gerade auf Facebook merkt Goller eine zunehmende Feindseligkeit, die Grünen | |
sind das Hauptfeindbild der AfD-Anhänger*innen. Der Politikwissenschaftler | |
Heinrich übt sich in einer Erklärung: Bei der Debatte über das | |
Gebäudeenergiegesetz standen die Grünen mit dem zuständigen Minister Robert | |
Habeck sinnbildlich für die nach wissenschaftlichen Fakten effiziente, aber | |
gefürchtete Wärmepumpe. Katharina Schulze, die Spitzenkandidatin für die | |
Landtagswahl, wurde zuletzt auf einer Veranstaltung beschimpft, gerade die | |
Frauen bei den Grünen würden angegangen. | |
Goller erzählt von einer Mitarbeiterin im Lokal Grün, die Angst habe, dort | |
zu arbeiten. Auch Goller glaubt, dass die AfD vor Ort wegen | |
bundespolitischer Themen gewählt werde. Niederbayern hänge sehr am | |
Verbrenner, nicht zuletzt, weil BMW dort ein wichtiger Arbeitgeber ist. | |
„Die denken, wenn sie AfD wählen, können sie den Klimawandel abwählen.“ | |
Während des Gesprächs mit Goller läuft gerade medial die Aiwanger-Affäre | |
heiß: Ob Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) aufgrund der | |
in seiner Schulzeit bei ihm gefundenen [8][antisemitischen Flugblätter] | |
zurücktreten muss? Einer klaren Antwort weicht sie aus und betont, dass die | |
Freien Wähler trotz allem die Leute abfangen können, bevor sie die AfD | |
wählen. Wenige Tage später entscheidet Söder, ihn trotz schwammiger | |
Antworten [9][im Amt zu behalten]. Die Freien Wähler gewinnen in Umfragen | |
trotz des Skandals bis zu 4 Prozent dazu, ohne dass die AfD an | |
Prozentpunkten verliert. | |
Die Grünen-Politikerin stört, dass derzeit kein breites Bündnis der | |
Demokrat*innen gegen die AfD in Sicht ist. Mitte August gab es im nahe | |
gelegenen Eggenfelden eine Demonstration unter dem Motto „Gesellschaft | |
schützen, Demokratie verteidigen“. Die Freien Wähler stellten nur ihr Logo | |
für das Plakat zur Verfügung, die CSU war nicht einmal auf diesem | |
vertreten. Dennoch verteidigt Goller die Partei. Sie komme aus einem | |
CSU-Haushalt, sei mit Strauß’ Bild an der Wand aufgewachsen, ihr Vater habe | |
um ihn getrauert. „Aber mit dem rechten Gedankengut zu flirten, das habe | |
ich persönlich von der CSU bisher nicht erlebt. Das ist neu und sehr | |
erschreckend.“ | |
Am Ende kann sich niemand wirklich erklären, wieso die AfD genau hier in | |
Ostbayern so viel Zuspruch erfährt, nicht mal die AfD selbst. Die | |
bayerische AfD ist einer der zerstrittensten Ableger, die Fraktion im | |
Landtag spaltete sich fast während der Legislaturperiode. Sie ist auch eine | |
der extremsten Landesverbände, erst kürzlich bestätigte der Bayerische | |
Verwaltungsgerichtshof, dass der Verfassungsschutz die AfD in Bayern | |
[10][als Gesamtpartei beobachten darf.] Auch der Politikwissenschaftler | |
Heinrich sieht keine einfache Antwort, sondern einen Mix aus verschiedenen | |
Faktoren. Die Regionen ohne große urbane Zentren, dazu die Angstnarrative | |
vom Abstieg sowie die Migrationsströme, welche über die Bahnlinie durch | |
Österreich 2015 nach Deutschland kamen. | |
Eins scheint jedoch sicher: Eine AfD-Wahl ist keine Faktenwahl, sondern | |
eine Emotionswahl. Auch in der eigentlich heilen ostbayerischen Welt | |
kontrollieren die Ampelparteien angeblich das heimische Thermostat und | |
zwingen zum Gendern. In dieser Welt ist Angela Merkel immer noch | |
Schattenkanzlerin einer angeblich zu linken Union und nicht mal ein Hubert | |
Aiwanger rechts genug. Egal ob Cham, Deggendorf, Freyung-Grafenau oder | |
Rottal-Inn: Am 8. Oktober wird nicht München gewählt, sondern Berlin. | |
21 Sep 2023 | |
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