# taz.de -- Kuratoren über 200 Jahre Kunstverein: „Streiten darüber, was Ku… | |
> Kunstvereine halten die Spannung zwischen Bürgerlichkeit und Kritik, in | |
> München seit 200 Jahren. Ein Gespräch über NS-Zeit, Museen oder | |
> Klassenfragen. | |
Bild: Versammlung während der Ausstellung „Verändert die Welt. Poesie muss … | |
taz: Frau Dietrich, anlässlich der Zweihundertjahrfeier des Kunstvereins | |
München haben Sie ins Archiv geschaut. In der Ausstellung „The Archive as | |
…“ sind Teile davon einsehbar und es zeigt sich, dass der Verein zwischen | |
1945 und 1953 kaum aktiv war. Die Alliierten hatten 1945 Vereine und | |
Verbände in Deutschland verboten, darunter auch die Kunstvereine. Warum? | |
Maurin Dietrich: Die Alliierten hatten verstanden, dass viele bürgerliche | |
Vereine zum Konservatismus oder gar Nationalismus tendierten. Sie konnten | |
nicht jeden einzelnen untersuchen. Die einzige pragmatische Möglichkeit | |
war, ein allgemeines Vereinsverbot auszusprechen. Das galt am Kunstverein | |
München bis 1953. Eine interessante politische Geste, sich unbeeindruckt zu | |
zeigen von den Unterschieden zwischen den Vereinen. | |
Kunstvereine sind dem „Zeitgenössischen“ verpflichtet, während die Aufgabe | |
der Museen darin besteht, Geschichte zu ordnen, auszustellen und vielleicht | |
zu schaffen. Herr van der Heide, wie kann ein Kunstverein mit seiner | |
eigenen Vergangenheit umgehen? | |
Bart van der Heide: Kunstvereine haben häufig Direktoren, die noch jung | |
sind und nicht viel Erfahrung haben, aber den Wunsch hegen, einen | |
Fußabdruck zu hinterlassen, ein Erbe. Und vielleicht mögen sie visionär und | |
innovativ sein, sie sind sich dennoch immer bewusst darüber, was im | |
Kunstverein in der Vergangenheit stattfand. Sie sind sogar von ihr | |
abhängig. 2011 etwa gab es im Kunstverein München das Projekt „Group | |
Affinity“, veranstaltet von Kunstkollektiven wie Grand Openings oder Slavs | |
and Tatars. Sie griffen dabei auf die pädagogische Tradition des Vereins | |
zurück, insbesondere auf die partizipatorische Ausstellung von 1970, | |
„Verändert die Welt! Poesie muss von allen gemacht werden!“. Diese | |
Ausstellung musste damals wegen ihrer radikalen Kunst und linken | |
revolutionären Inhalte geschlossen werden. 2012, in der Schau „The | |
Imaginary Museum“, wiederum stand die Geschichte des Gebäudes im Zentrum. | |
1932 befand sich darin das Museum für Abgüsse klassischer Bildwerke. | |
Ausgehend von einer historischen Ansicht wurde die Ausstellungsinstallation | |
von 1932 rekonstruiert und zum Display für zeitgenössische Überlegungen zu | |
Reproduktion und Technologie. | |
In einer Diskussionsrunde anlässlich der Zweihundertjahrfeier sagte der | |
Kritiker, Kurator und ehemalige Direktor des Kunstvereins München, Helmut | |
Draxler, der öffentliche Raum sei eine Fiktion und Performance. | |
Institutionen wie der Kunstverein seien nur eine Nische. „Wir machen das | |
vor allem für uns selbst“, meinte er. | |
Bart van der Heide: [1][Helmut Draxler gehört zu einer Gruppe], die in den | |
1990er Jahren vieles von dem vorausgehen hat, was uns heute im | |
Kunstinstitutionen beschäftigt. Aber die Idee von einer Öffentlichkeit | |
verändert sich ständig und damit die Rolle des Kurators. Draxler machte | |
1993 mit [2][Andrea Fraser] die wichtige Ausstellung „Eine Gesellschaft des | |
Geschmacks“. Dafür liehen sie Kunstwerke von Vorstandsmitgliedern des | |
Vereins und stellten sie anonym aus. Fraser führte Interviews mit den | |
Leihgebern und publizierte sie anonym in einem Katalog. In der Ausstellung | |
war eine Soundcollage aus den Interviewaufnahmen zu hören. Für Draxler und | |
Fraser wird Öffentlichkeit also durch die Institution bestimmt, in deren | |
Rahmen sie hergestellt wird. | |
Was verstehen Sie unter Öffentlichkeit? | |
Bart van der Heide: Für meine Generation wird Öffentlichkeit nicht mehr | |
durch öffentliche Institutionen definiert. In meiner Vorstellung von | |
Öffentlichkeit geht es um das Soziale und Gemeinschaftliche, um die Frage, | |
wer repräsentiert wird, wer eine Stimme hat und Einfluss nehmen kann. Die | |
besondere Struktur eines Kunstvereins mit seinen vielen zahlenden | |
Mitgliedern könnte als eine nachhaltige Form des Stakeholder-Managements | |
betrachtet werden. Dabei wird eine Kunstinstitution durch eine Gemeinschaft | |
aktiviert. Aber wie sehr sich ein [3][Verständnis von der Öffentlichkeit] | |
ändern mag, im Kunstverein bleibt die Führungsstruktur dieselbe. Zum | |
Beispiel besteht der Vorstand immer aus Vertretern der gleichen Klasse: | |
Anwälte, Immobilieninvestoren oder Ärzte. Und als künstlerischer Leiter | |
muss man die unterschiedlichen Interessen aller Seiten aushandeln. Die | |
Macht im Kunstverein liegt beim Vorstand. Und vielleicht hat man da mit | |
Leuten zu tun, für die der Kunstverein und damit deine eigene Arbeit nur | |
ein Hobby ist. Sie können die ganze Mitgliederschaft gegen dich aufbringen. | |
Kunstvereine wurden ursprünglich im 19. Jahrhundert als kulturelles Forum | |
für das aufstrebende Bürgertum gegründet. Spätestens seit den 1970er Jahren | |
wurden sie jedoch zum Ort der Spannungen zwischen bürgerlichen | |
Vorstellungen des „guten Geschmacks“ und dem Wunsch nach radikaler Kritik. | |
Besonders in Kunstvereinen finden heute innovative Ausstellungen statt. Wie | |
erklären Sie sich das? | |
Maurin Dietrich: Dieses vor 200 Jahren erdachte Organisationsmodell hat | |
eine unmittelbare Bindung ans Publikum. Es ist auch relativ resistent gegen | |
politischen Druck und massive Budgetkürzungen. Kunstvereine haben eine | |
Einnahmebasis, die im Wesentlichen privat mitgetragen ist durch die | |
Mitglieder. Das ist ein großer Vorteil. Alles in allem ist es das Gegenteil | |
einer Fiktion. Es ist eine Realität, in der man im Publikum und mit dem | |
Publikum darüber streitet und verhandelt, was zeitgenössische Kunst ist. | |
Sie sagen, im Kunstverein gebe es im Gegensatz zum Museum eine sehr reale | |
Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit, Kritik, Debatten, Reibung, auch | |
Wertschätzung. Können Sie ein Beispiel dafür geben? | |
Maurin Dietrich: Die Künstlerin Bea Schlingelhoff hat etwa kürzlich | |
vorgeschlagen, einen Paragraphen in die Satzung des Kunstvereins München | |
aufzunehmen, der es rechtlich unmöglich machen würde, Vereinsmitglieder | |
aufgrund ihres Glaubens, ihrer Religion, ihres Geschlechts usw. | |
auszuschließen. Bei der Vorbereitung für ihre Ausstellung „No River to | |
Cross“, kuratiert von Gloria Hasnay im Jahr 2021, stieß Bea Schlingelhoff | |
in unserem Archiv auf den „Nichtarier“-Paragraphen, der 1936 eingeführt | |
wurde. Er schloss von einem Tag auf den anderen alle jüdischen Mitglieder | |
der Kunstvereins München aus. Über diesen Paragraphen wurde damals in einer | |
öffentlichen Versammlung wie den unsrigen abgestimmt. Es muss eine Mehrheit | |
der Mitglieder gewesen sein, die für seine Aufnahme in die Satzung stimmte. | |
Bea wollte nun mit den Vereinsmitgliedern darüber diskutieren, wie heute | |
ein Paragraph aussehen würde, der solch eine Abstimmung fortan unmöglich | |
macht. | |
Bea Schlingelhoff bezog sich auch auf die Ausstellung „Entartete Kunst“, | |
die 1937 in den heutigen Räumlichkeiten des Kunstvereins im Münchener | |
Hofgarten stattfand. | |
Maurin Dietrich: Ja. Sie zeichnete die ursprüngliche Präsentation der | |
beschlagnahmten Kunstwerke nach, die von den Nationalsozialisten [4][als | |
„entartet“ eingestuft und dort gezeigt wurden]. (Der Kunstverein selbst lag | |
damals übrigens in der Galeriestraße.) Auf den bemalten Wänden stellte | |
Schlingelhoff die Größen und Platzierungen der Werke wie Phantome dar. Sie | |
installierte auch vier Tafeln an der Außenwand, die alle Namen der | |
weiblichen Künstlerinnen der Schmähausstellung „Entartete Kunst“ von 1937 | |
in München auflistet, darunter Maria Caspar-Filser oder Emy Roeder. | |
2020 organisierten Sie eine Gruppenausstellung mit dem Titel „Not Working. | |
Artistic Production and Matters of Class“ in der Sie darüber nachdachten, | |
wie die soziale Klasse die künstlerische Produktion beeinflusst. In der | |
Kunstwelt wird heute viel mehr über Identität gesprochen und mit Kategorien | |
wie Geschlecht oder ethnische Herkunft gehandelt. Warum Klasse? | |
Maurin Dietrich: Die Ausstellung wurde fünf Monate nach dem Beginn der | |
Pandemie eröffnet. Da hatten sich bereits bestehende Ungerechtigkeiten | |
entlang von Klassenlinien in sehr kurzer Zeit verschärft. Seit den 1970ern | |
wird München stetig gentrifiziert. Für Künstler*innen bedeutet das oft, | |
wenig oder keinen Raum zum Leben und Arbeiten zu haben. Die Kunstwerke in | |
die Ausstellung hinterfragten die vermeintliche Klassenhomogenität in der | |
zeitgenössischen Kunst und wie sie dazu beiträgt, die prekären Bedingungen | |
zu verschleiern. Der Begriff „Klasse“ ist in Diskursen, die politische | |
Relevanz beanspruchen, auffallend abwesend. Für mich persönlich war es auch | |
ein coming to terms mit meinem eigenen Hintergrund, der nicht | |
bildungsbürgerlich ist. Dass ich nicht mit Mozart und Chopin aufgewachsen | |
bin und das erste Mal mit 16 im Museum war, ist eher eine Ausnahme in den | |
Biografien von Kuratorinnen oder Künstlerinnen in Deutschland und Europa. | |
Im besten Fall sind die Kunstvereine also Institutionen, die den Status quo | |
des Kunstbetriebs hinterfragen. Ein Museum muss fünf | |
Blockbuster-Ausstellungen im Jahr machen. Es muss viel politischen und | |
ökonomischen Druck aushalten. Wir haben etwas weniger Druck, eine kleinere | |
Struktur und können deshalb darüber nachdenken, was Freiräume in der Kunst | |
heute sein können. | |
16 Aug 2023 | |
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