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# taz.de -- Jazz in der DDR: Frei spielen, wie im Wald
> Freejazz erlebte im Osten eine eigene Geschichte. Mittendrin waren der
> Posaunist Conny Bauer und der Drummer Günter „Baby“ Sommer.
Bild: Baby Sommer an der Schießbude
Die drei alten Herren haben uns gezeigt, was die vier Buchstaben Jazz
ausmachen“, sagt Wolf-Peter „Assi“ Glöde. Er spricht über ein Konzert v…
Konrad „Conny“ Bauer (Posaune), Matthias Bauer (Kontrabass) und Günter
„Baby“ Sommer (Schlagzeug, Perkussion) vor Kurzem in Berlin-Schöneweide.
Den Auftritt hat Glödes Jazzkeller 69 e. V. im Rahmen seiner alljährlichen
Reihe „Jazz am Kaisersteg“ ausgerichtet.
Wenn [1][Assi Glöde] „alte Herren“ sagt, ist das alles andere als
despektierlich. Tatsächlich hat Conny Bauer am 4. Juli seinen 80.
Geburtstag gefeiert. Baby Sommer wird das am 25. August tun. Beide gelten
nicht von ungefähr als zentrale Akteure des Freejazz und der
Improvisationsmusik in der DDR und international.
Glöde hebt Conny Bauers „warmen Ton“ auf der Posaune hervor und führt aus:
„Er ist durchaus dem Schönklang verpflichtet, aber das bedeutet ja nicht,
dass man sich der Freiheit, die diese Musik bietet, beraubt.“ Ihrem
Kollegen Baby Sommer hat die Züricher Pianistin Irène Schweizer nach
gemeinsamen Konzerten einmal in einem Interview vom Label Intakt
bescheinigt, „der melodischste Schlagzeuger“ zu sein: „Sein Spiel hat etw…
Tänzerisches, Volkstümliches, Europäisches.“
Sommer kommt aus Dresden, Bauer aus Halle an der Saale. Beide spielten
schon jung in Amateurbands, Bauer als Sänger und Gitarrist, bevor er bei
der Aufnahmeprüfung zur Musikschule auf die Posaune zurückgriff, die er
seit Schulzeiten spielte. Sein Wunschfach Gitarre war überbelegt.
Sommer und Bauer spielten in einer Band, die in gewisser Weise als Nukleus
des Jazz in der DDR gesehen werden kann, dem in den sechziger Jahren
prägnanten Manfred Ludwig Sextett, benannt nach seinen Gründern Manfred
Schulze und dem [2][kürzlich verstorbenen Saxofonisten Ernst-Ludwig
Petrowsky.] Da spielte Bauer noch Gitarre und sang. Zu seinem
Hauptinstrument wurde die Posaune bei der Modern Soul Band, die seit 1968
Soul und Jazzrock in der DDR populär machte.
## Freejazz Ost begann tanzbar
Günter Sommer hat in einer anderen wichtigen Formation dieser Jahre, der
Klaus Lenz Big Band, getrommelt, aus dieser Zeit stammt auch der Spitzname
„Baby“. 1971 wurde Sommer Drummer der von dem Pianisten Ulrich Gumpert
geleiteten Band SOK, die eine ziemlich einzigartige Mixtur auf die Bühne
brachte: Jazzrock-Songs, regelrecht tanzbare Hits wie auch Stücke, bei
denen sich die Band allmählich auf freieres Terrain begab.
Nachhören lässt sich das auf dem vier Jahrzehnte später erschienenen
einzigen Album von SOK. Ein klarer Fall von Eigentor, muss man im
Nachhinein den DDR-Kulturfunktionären sagen, die diese Aufnahmen für „nicht
relevant“ hielten. Aber, aus SOK wurde eine Formation, die mit am Anfang
des Freejazz in der DDR steht.
Baby Sommer und Ulrich Gumpert hatten 1973 SOK verlassen und das Quartett
Synopsis gegründet. Zu Sommer und Gumpert stießen Conny Bauer und am
Altsaxofon, an Klarinette und Flöten Ernst-Ludwig Petrowsky. Synopsis
feierten auf dem „Jazz Jamboree“ in Warschau einen lautstarken Triumph,
schafften es über den Umweg eines Auftritts im sozialistischen Bruderland,
dass der bis dato in der DDR argwöhnisch betrachtete Freejazz offizielle
Anerkennung erfuhr; und sie konnten ein Jahr später auch ein Album [3][beim
Westberliner Label FMP] veröffentlichen.
Dieses Werk und die bereits 1973 erschienene LP „Just for Fun“ des
Ernst-Ludwig Petrowsky Quartetts mit Conny Bauer markieren den Beginn eines
intensiven Ost-West-Austauschs.
Die Wucht von Synopsis verdeutlicht eine Anekdote des jazzaffinen, auch aus
Dresden stammenden Malers Helge Leiberg. Er erzählt, wie er regelmäßig nach
einem frustrierenden Trompetenunterricht durch den Wald bei Oberloschwitz
ging: „Dort habe ich noch mal meine Trompete ausgepackt und mir die Seele
aus dem Leib gespielt. Das war für mich eine Befreiung. Dann hörte ich
Synopsis auf einem Konzert, und das wurde ein Schlüsselmoment. Was ist
das für tolle Musik, dachte ich, das ist ja so, wie wenn ich im Wald
spiele.“
[4][Der Wald ist ein gutes Stichwort]: Synopsis bauten einige ihrer zum
Teil heftigen Improvisationen aus Motiven deutscher Volkslieder, daraus
wurden Medleys wie „Mehr aus teutschen Landen“ und später unter dem Namen
Zentralquartett ein ganzes Album. Diese Musik hat bis heute das Zeug,
angeschlagene und missbrauchte Begriffe wie Freiheit und Tradition zu
rehabilitieren.
## Geschmuggelter Biermann
[5][Baby Sommer] und Ulrich Gumpert haben seit 1973 auch im Duo gearbeitet.
Daraus, auf einem Album zusätzlich mit dem Saxofonisten Manfred Hering,
entwickelte sich ein längerfristiges Format, zu dessen Auftritten eine
Besonderheit gehörte. Assi Glöde erinnert sich, dass Gumpert und Sommer
Melodiezitate aus Liedern von Wolf Biermann live verwendeten, was bei
denen, die sie erkannten, zu spontanem Beifall führte. Glöde selbst hatte
gerade den Wehrdienst in der NVA hinter sich. Biermanns in der DDR
verbotene „Soldatenmelodie“ – „Soldat, Soldat in grauer Norm / Soldat,
Soldat in Uniform“ – im Free-Jazz-Gewand hat er noch heute im Ohr.
Im Jahr 1974 entstand um Conny Bauer und dem Pianisten Hannes Zerbe die
stilistisch offene Band FEZ. Das Quartett mit den Bassisten Christoph
Niemann beziehungsweise Peter Blazeowsky und dem Rockschlagzeuger Peter
Gröning wurde zur Initialzündung für die freieren Jazzkonzerte im
Kulturhaus Treptow. Seit 1976 trat Conny Bauer auch unbegleitet auf. In den
Linernotes zu seinem 1981 erschienenen Soloalbum hört Martin Linzer,
Kritiker und Produzent der über Ostberlin hinaus strahlenden
Veranstaltungsreihe „Jazz in der Kammer“ am Deutschen Theater, in Bauers
Spiel „großen Humor als freundliche menschliche Haltung“.
Im selben Jahr legte Baby Sommer das erste Werk seiner „Hörmusik“ vor, das
ist der Drummer in Zwiesprache mit einem beeindruckend weitgefächerten
Instrumentarium. Der Jazzautor Bert Noglik schreibt in den Linernotes von
„Sommers Musik als etwas Vorbeiziehendes, von weither Kommendes und
schließlich in der Stille Versinkendes“ und dass „die Platte nur einen
Ausschnitt einer sich weiterbewegenden Musik hörbar werden lässt“.
Diese Bewegung ist an kein Jahrzehnt gebunden: Conny Bauer zeigte sich in
den achtziger Jahren beeindruckt von Punk und Post-Punk. Er selbst spielte
mit Ostberliner Bands wie Aufruhr zur Liebe, B.R.O.N.X. und Electric Gypsy.
Die Bauer-Brüder Conny, Johannes und Matthias und Louis Rastig, Sohn Conny
Bauers und der Malerin Ines Rastig, traten 2006 zur Buchpräsentation von
„Spannung. Leistung. Widerstand“, der ersten Werkschau des
Kassettenundergrounds der DDR, in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
auf.
2018 feierte Conny Bauer seinen 75. Geburtstag in der Christuskirche
Schöneweide mit Matthias Bauer, dem jungen norwegischen Drummer Dag Magnus
Narvesen und Publikum, dabei entstand das [6][gelöst-hymnische Album „The
Gift“]. Baby Sommer bildete ab 1982 mit dem Kirchenorganisten Hans-Günther
Wauer ein Duo, das auf zwei Alben selten gehörte Musik entwickelte, einen
sakral-psychedelischen Jazz. Mitte der achtziger Jahre begann seine
Zusammenarbeit mit Günter Grass. Die Interaktion mit Literatur, von Christa
Wolf, Heinrich Heine oder Volker Braun, nimmt bei Sommer bis heute eine
große Rolle ein. Eines seiner aktuellen Projekte ist Baby Sommer’s
Brotherhood & Sisterhood, eine Hommage an Chris McGregors Brotherhood of
Breath, die in den späten sechziger Jahren als Apartheidflüchtlinge ihren
südafrikanischen Jazz nach Europa in Sicherheit gebracht hatten.
Was ist es, dass diese Musik, ob Jazz oder Improvisationsmusik, ein
Begriff, den Bauer bevorzugt, ausmacht? Sie ist, sagt Assi Glöde, eine
„Gemeinschaftsproduktion. Sie gibt ein Statement ab, nicht nur musikalisch,
sondern auch soziokulturell“. Dass Baby Sommer über der Elbe bei Radebeul
wohnt und Conny Bauer von einem Plattenbau aus über Berlin schaut, muss
dazu nicht im Gegensatz stehen, sondern kann im Panorama ihrer Musik
mitgehört werden.
3 Aug 2023
## LINKS
[1] /Jazz-in-Berlin/!5794215
[2] /Nachruf-auf-Jazzpionier-EL-Petrowsky/!5947103
[3] /Muenchner-Ausstellung-ueber-Freejazz/!5389156
[4] /Archiv-Suche/!5403636&s=A+R+Penck&SuchRahmen=Print/
[5] /Archiv-Suche/!545901&s=Baby+Sommer+Jazz&SuchRahmen=Print/
[6] /Archiv-Suche/!5686247&s=Conny+Bauer&SuchRahmen=Print/
## AUTOREN
Robert Mießner
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