# taz.de -- Jazzmusikerin über den Geruch von Musik: „Es riecht nicht schön… | |
> Es kommt immer auch auf die Intention hinter dem Sound an, sagt Steph | |
> Richards. Die kanadische Jazzmusikerin tritt beim Berliner Jazzfest auf. | |
Bild: Steph Richards an der Trompete | |
taz: Steph Richards, an der University of California San Diego unterrichten | |
Sie musikalische Aufführungspraxis. Was beinhaltet diese genau? | |
Stephanie Richards: Ich lehre experimentelle Musik, Computermusik und | |
zeitgenössische klassische Musik. Im Moment unterrichte ich [1][die Musik | |
von Anthony Braxton], mit dem ich schon seit über einem Jahrzehnt zusammen | |
spiele. Er war selbst hier, um mit meiner Ensemble-Klasse über seine Musik | |
zu sprechen. Es ist wichtig, dass die ältere Jazz-Generation, die die Musik | |
für uns verändert hat, ihr Wissen weitergibt. Ich bin außerdem daran | |
interessiert, auf welche Weise Räume beeinflussen, wie wir Musik hören und | |
erleben. Ich untersuche ortsspezifische Improvisation. Dabei beziehe ich | |
auch gerne Choreografien ein und arbeite mit Tanz oder anderen Formen der | |
Bewegung. | |
Um welche Orte handelt es sich genau? | |
Ich habe zum Beispiel eine Klasse zusammen mit einem Kollegen von mir | |
unterrichtet, der Choreograf ist. Wir suchten uns verschiedene Orte auf dem | |
Campus aus, etwa ein Wäldchen. Wir nahmen uns Zeit, um uns dessen Geräusche | |
bewusst zu machen und über die Struktur von Bäumen zu sprechen. Auch | |
darüber, wie sich Nähe in einer Konzerthalle anfühlt, im Gegensatz zu einem | |
Außenraum ohne Dach. | |
Sie unterrichten seit 2014, da waren Sie erst 29 und haben oft in New York | |
gespielt, darunter auch mit dem Trompeter und Dirigenten Butch Morris. Wie | |
haben Sie ihn kennengelernt? | |
Er sah ein Konzert von mir und lud mich anschließend ein, in seinem | |
Ensemble mitzuspielen. Er wurde später zum Mentor für mich. Ihm verdanke | |
ich, dass ich meine Community in New York kennengelernt habe. So auch Henry | |
Threadgill, der für mich nach Butchs Tod so etwas wie ein Mentor wurde, | |
weil er zur Familie gehörte. | |
Sie haben auch Auftragswerke für Neue Musik geschrieben, wie „Rotationen | |
für 12 Musiker und Karussell“. Worum geht es da? | |
Ich bin daran interessiert, raumspezifisch zu komponieren. In Brooklyn | |
wohnte ich direkt gegenüber von einem Karussell. Es hatte eine | |
Calliope-Orgel, die wirklich schön klang und in gutem Zustand war. Und ich | |
wollte so gerne für dieses Instrument komponieren, dass außer den | |
Orgelpfeifen auch eine kleine Trommel und eine große Trommel hat. Ich bekam | |
dann den Auftrag, ein Stück für ein anderes Karussell in Brooklyn zu | |
komponieren. In diesem Stück schrieb ich für das Karussell einen Orgelteil | |
und einen Schlagzeugteil. Dann gab es noch einen Bläsersatz und einen | |
weiteren Schlagzeuger. Außerdem hatten wir Kostüme und eine Choreografie, | |
also all das, was mir Spaß macht. | |
Warum haben Sie eigentlich [2][zur Trompete gegriffen]? | |
In der Schule konnte ich mir ein Instrument aussuchen und entschied mich | |
für die Trompete, weil ich in meiner kindlichen Vorstellung damit sowohl in | |
der Jazzgruppe als auch im klassischen Orchester spielen konnte. Ich habe | |
ein Instrument gewählt, das in vielen verschiedenen Kontexten funktioniert, | |
ästhetisch und in Bezug auf das Genre, denn ich lebe in einem | |
experimentellen Raum. Es ist kein klassischer Jazz, doch ich fühle mich | |
geehrt, wenn ich als Jazzmusikerin bezeichnet werde. Dort liegt mein Herz | |
und meine Seele. Für mich ist Jazz nicht bloß ein starres Genre, da sich | |
seine Musik ständig verändert. Jazz ist für mich Evolution und Revolution. | |
Im Frühjahr 2024 erscheint Ihr neues Album „Power Vibe“, das Sie morgen | |
[3][beim Jazzfest in Berlin] vorstellen. Welchem Konzept liegt die Musik | |
zugrunde? | |
Das ist definitiv ein neuer Sound, mit sensorischer Elektronik. Speziell | |
beim Schlagzeug kann die physische Bewegung elektronische Sounds und | |
Sampling auslösen, der Schlagzeuger steht im Zentrum. Er erzeugt einen | |
Großteil der Samples, über die wir innerhalb meiner Kompositionen | |
improvisieren. | |
Sie werden auch Stücke Ihres Albums „Supersense“ von 2020 spielen. | |
Musikalisch haben Sie mit dem Einfluss von Gerüchen auf | |
Improvisationsverhalten und Publikumsresonanz experimentiert. Können Sie | |
uns die wichtigsten Ergebnisse verraten? | |
Band und Publikum werden vorab Rubbel-Postkarten bekommen, auf denen dann | |
der jeweils betreffende Geruch freigekratzt werden muss. Das wird ein | |
lustiges Odorama ergeben, denn es riecht beileibe nicht nur schön! | |
Sie haben diese Gerüche in einem Labor mit dem Künstler Sean Raspet, der | |
auch Chemiker ist, entwickelt. | |
Ja, als Künstler entwirft er neue molekulare Formen und Gerüche. Als ich | |
ihn wegen dieses Projekts anrief, war er begierig darauf zu sehen, wie | |
musikalische Strukturen mit Duftmarken kombiniert werden können, um | |
emotionale Reaktionen auszulösen. Etwa beim Geruch von Verlust. | |
Nach was riecht denn Verlust so? | |
Der Geruch, der mich zu dieser emotionalen Reaktion auf Verlust und Trauer | |
inspiriert hat, war der Geruch von etwas Trockenem. Es roch nach altem | |
Schrank, vielleicht dem Schrank von Großmutter. Es roch durchaus wehmütig. | |
Ich kann mich nicht mehr genau an die spezielle Rezeptur für Verlust | |
erinnern, weiß aber noch, dass wir dafür Pheromone von Grillen verwendet | |
haben, die riechen leicht süßlich und unangenehm trocken. Was ich an Düften | |
liebe, ähnlich wie an Musik, ist, dass sie auch eine zeitbasierte Erfahrung | |
sind. Mit Sean habe ich viel mit Farben gearbeitet, etwa, dass es ein | |
bisschen gelb riecht oder wie eine Schwarz-Weiß-Konversation von | |
Gegensätzen. | |
Oha! Sie lehren auch die von Butch Morris entwickelte gestische | |
Dirigiersprache „Conductions“, können Sie diese bitte anschaulich erkläre… | |
In jedem meiner Ensembles arbeite ich mit seinen Gesten, um musikalische | |
Strukturen auf nicht-lineare Weise zu notieren. Es geht mir aber auch um | |
sein Vermächtnis. Butch hat mit seinen „Conductions“ eine perfekte | |
Formensprache geschaffen, die gleichzeitig so bescheiden war, denn es gab | |
nichts Überflüssiges. Er verwendete kein Signal, keine Geste, nur weil sie | |
beeindruckend war. Er hat versucht, den einfachsten Weg zu finden, um | |
musikalische Strukturen zu vermitteln. | |
Bei seinen Dirigaten trug Butch Morris Spezialkleidung, Schuhe mit extrem | |
dünnen Sohlen, um die Vibration der Musik besser zu spüren. Empfinden Sie | |
Spezialkleidung auch als Teil von Musik, um ihr einen anderen Rahmen zu | |
geben? | |
Absolut, ich denke, in dieser Musik geht es um Schwingung, aber auch | |
innerhalb der Gemeinschaft der Musiker*innen auf der Bühne. Es ging | |
Butch nie nur um den Sound an sich, sondern immer auch um die Absicht | |
dahinter. Er gab sich dafür bestimmten Ritualen hin, um auf eine bestimmte | |
Art im Bühnenraum zu existieren. Wie ein heiliger Ort, für den er ein | |
Kostüm anzieht, das ihm dabei hilft, sich zu befreien. Das Wichtigste, was | |
Butch mir beigebracht hat, ist, dass es nicht darauf ankommt, was ich | |
spiele. Es ist die Intention hinter dem Sound. Davon lebt meine Musik. | |
1 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Maxi Broecking | |
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