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# taz.de -- 60 Jahre Jazzfest Berlin: Aufschwung statt fliegendes Klopapier
> Am Donnerstag beginnt das Jazzfest Berlin. Dieses Jahr feiert es
> 60-jähriges Jubiläum. Der Zukunft schaut man gedämpft optimistisch
> entgegen.
Bild: Nadin Deventer, Leiterin des Berliner Jazzfest
Am 12. September 1964 landete Martin Luther King auf dem Flughafen
Tempelhof in Westberlin, im Gepäck ein Geleitwort für die ersten Berliner
Jazztage. King schrieb über die Bedeutung von Jazz für freiheitliches
Denken und Toleranz und insbesondere für die Schwarze Bürgerrechtsbewegung.
Zwei Monate zuvor war er dabei gewesen, als die Unterzeichnung des „Civil
Rights Act“ die Segregation in den USA formell aufhob, im Dezember 1964
wurde er für sein Engagement mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die
geteilte Stadt war Symbol des Kalten Krieges, drei Jahre vorher war die
Berliner Mauer errichtet worden. King predigte vor 20.000 Menschen in der
Waldbühne sowie in der Marien- und in der Sophienkirche in Ostberlin.
Ursprünglich als einmalige Veranstaltung gedacht, feiert [1][das Berliner
Jazzfest] 2024 sein 60-jähriges Bestehen. Unter dem Titel „Vergangenheit –
Gegenwart – Zukunft“ hat Nadin Deventer, die seit 2018 das Festival leitet,
Wissenschaftler*innen beauftragt, sich mit der Geschichte des
Festivals zu beschäftigen, auch in Hinblick auf Diversität und
Genderparität. Die Diskriminierung von Musikerinnen beim Jazzfest wurde von
der Musikwissenschaftlerin Ursel Schlicht untersucht und wird als Essay in
Buchform veröffentlicht. So ist die Geschichte des Festivals auch eine des
Patriarchats im Jazz.
## Das Publikum buhte regelmäßig
Auch das Ausbuhen von Musiker*innen sei eine Besonderheit gewesen. Dazu
Nadin Deventer: „Es hieß, dass der erste künstlerische Leiter Joachim-Ernst
Behrendt, der 1971 aufgrund von Korruptionsvorwürfen zurücktrat, und auch
sein Nachfolger George Gruntz Probleme gehabt hätten, um überhaupt große
US-Namen zu holen, da alle vom Publikum gehört hatten. Es flogen
Klopapierrollen auf die Bühne.“
Duke Ellington wurde wegen seiner Nähe zu Präsident Nixon ausgebuht, Miriam
Makeba und Dollar Brand, weil ihr Konzert zu kurz ausfiel, und Sarah
Vaughan, weil ihr Abendkleid als unpassend für den Kampf der
Bürgerrechtsbewegung angesehen wurde. Carla Bley schrieb daraufhin für
ihren Auftritt 1979 den Song „Boo to You Too“.
Für Deventer sind 60 Jahre Jazzfest auch 60 Jahre deutsch-deutsche,
europäische und transatlantische Zeitgeschichte und Jazzgeschichte.
Berendt beauftragte für die Festivalausgabe 1966 den Pianisten Alexander
von Schlippenbach mit der Gründung eines international besetzten
Free-Jazz-Orchesters. Das so entstandene Globe Unity Orchestra leitet der
jetzt 86-jährige Pianist noch heute.
An den vier Festivaltagen werden dieses Mal 24 Projekte zu hören sein,
sowohl im Haus der Berliner Festspiele als auch in den Clubs Quasimodo und
A-Trane sowie in der Gedächtniskirche. Dort wird am Samstag das neu
gegründete Malacoda String Quartett des italienischen Bassisten Antonio
Borghini drei Kompositionen des 2023 verstorbenen Cellisten Tristan
Honsinger uraufführen. Legenden des experimentellen Jazz werden auftreten,
wie das Sun Ra Arkestra.
Allerdings ohne den mittlerweile 100-jährigen Saxofonisten Marshall Allen,
der seit Sun Ras Tod 1993 das Arkestra leitet. Auch Nachwuchs kommt auf die
Bühne, wie am letzten Abend die viersätzige Fluxus-Suite „fluXkit Vancouver
(its suite but sacred)“ des US-Saxofonisten Darius Jones, der, in
Zusammenarbeit mit dem kanadischen Videokünstler Stan Douglas, mit
Elektronik und grafischen Partituren die Tradition von spiritueller Musik
mit dem konzeptuell-performativen Ansatz des Fluxus verbindet.
## Kooperation mit Schulen und Initiativen
Wie ist es heute um den Jazz bestellt, auch [2][in Zeiten massiver
Kürzungen im Kulturetat?] Noch, so Deventer, sei das Jazzfest davon nicht
betroffen, weil es unter dem Dach der Berliner Festspiele vom Bund
finanziert wird. Daher sehe sie auch eine Verantwortung, experimentelle und
lokale Projekte abzubilden, sowie gemeinsame Formate von lokalen und
internationalen Musiker*innen. An die von Kulturstaatsministerin Claudia
Roth (Grüne) festgelegte Mindestgage für Musiker*innen bei öffentlich
finanzierten Veranstaltungen halte sie sich bereits. Diese liege momentan
bei mindestens 600 Euro pro Musiker*in pro Auftritt.
Zudem ist das Festival seit der Leitung des britischen Journalisten Richard
Williams 2015 paritätisch besetzt und 2018 der Key-Change-Initiative
beigetreten, die sich verpflichtet hat, auf gendergerechte Programmierung
zu achten. In einem von Deventer initiierten „Community Lab“ arbeitet das
Festival mit Initiativen und Schulen in Berlin-Moabit zusammen. In 70
Veranstaltungen und Workshops wird ein großer Teil der Musiker*innen
auch dort auftreten.
Für die Zukunft ist Deventer optimistisch: „Jazz ist im Aufschwung.“
Trotzdem macht sie sich Sorgen, was Kürzungen für die kreative Vielfalt und
auch für die Lebensgrundlage der Musiker*innen bedeuten. Das dürfe man
nicht so hinnehmen. Denn die Bedeutung des Jazz für Freiheit und Toleranz,
sie gilt auch heute noch.
30 Oct 2024
## LINKS
[1] /Bilanz-vom-Jazzfest-Berlin/!5971659
[2] /Kuerzungen-im-Bundeshaushalt-2025/!6033780
## AUTOREN
Maxi Broecking
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