# taz.de -- Jazzfest Berlin 2024: Mit der Sehnsucht fängt es an | |
> Feier einer Musik, die plebejische Wurzeln hat: Eindrücke vom 60. | |
> Berliner Jazzfest. Seine Jubiläumsausgabe stand im Zeichen von Bigbands. | |
Bild: Sun Ra Arkestra am Samstagabend im Haus der Berliner Festspiele | |
Mit Brot und Blumen eröffnete das Jazzfest Berlin vergangenen Donnerstag im | |
Haus der Berliner Festspiele seine 60. Ausgabe. „Blommor och bröd“, ist ein | |
Titel des schwedischen Jazzbassisten Vilhelm Bromander. Die siebenminütige | |
Hymne entwickelte sich aus einem ruhigen, aber selbstbewussten Choral und | |
sorgte für das Motto der viertägigen Sause. | |
Den Titel hat Bromander der Sozialistin Kata Dalström entlehnt, die am | |
Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zur Pionierin der schwedischen | |
Arbeiterbewegung wurde. [1][Später taucht die Formel bei ihrem Landsmann | |
Harry Martinson, 1974 Nobelpreisträger für Literatur, auf]. | |
Brot und Blumen, Alltag und Luxus, das eine gehört zum anderen und das | |
nicht den Wenigen. Kein schlechtes Motto also für die Feier einer Musik, | |
die plebejische Wurzeln hat und der zu Unrecht elitäres Aroma anhaftet. Es | |
abzustreifen, dazu ging das Jazzfest Berlin aus dem vornehmen Wilmersdorf | |
auch zu Außenstationen in den weniger herrschaftlichen Stadtteil Moabit. | |
## Rote Fäden | |
[2][Der Auftritt der 13-köpfigen Vilhelm-Bromander-Entfaltung gehörte zu | |
einem der roten Fäden des diesjährigen Jazzfests.] Insgesamt drei Abende | |
wurden von schwedischen Formationen eröffnet. Jazz wird in Skandinavien | |
generell gepflegt. Die nordeuropäische Moderne hat früh ihrer älteren | |
US-Schwester mehr als ein Dach über den Kopf gegeben. Erinnert sei an die | |
„Stockholm Sessions“ von Eric Dolphy für den schwedischen Rundfunk. | |
In dieser Tradition lässt sich die Musik Vilhelm Bromanders verorten. Sie | |
ist expressiv und experimentell, dabei verweist sie auf die „Zeit, als der | |
Free Jazz noch Jazz“ war, wie es Peter Niklas Wilson einmal über die Musik | |
seines Kollegen Sven-Åke Johansson, ein toller Schwede auch er, formuliert | |
hat. | |
In den ruhigen, an entscheidenden Momenten eruptiven Strom seiner Stücke | |
webt Bromander klassische Musik aus Indien, namentlich solche des | |
Gesangsstils Dhrupad. Der wird im Lexikon als „ernst, männlich und | |
gravitätisch“ beschrieben. Erstes und Letzteres mag stimmen; wenn auf | |
Bromanders Album „In this forever unfolding moment“ das die Sängerin | |
Marianne Svašek und auf der Bühne Sängerin und Tanpura-Spielerin Deniz | |
Schelfi übernimmt, ist die Ansage schon klar und klingt übrigens gut. | |
## Hier fehlte Wagemut | |
Ein Spritzer Wagemut mehr wäre Goran Kajfeš Tropiques, den zweiten | |
schwedischen Gästen, bekommen. Kajfeš ist Trompeter und frei kreisend in | |
Gard Nilssens Supersonic Orchestra zu hören. Deren Doppelalbum „Family“ ist | |
ein wildes Vergnügen, aber davon war am Freitag beim Jazzfest wenig zu | |
hören. | |
Kajfeš’ Quartett klang mehr nach Wiener Kaffeehaus als nach Zagreber | |
Tanzboden. Dass die Tropiques anders können, bewiesen sie im beherzten | |
Zusammenspiel von Violinistin Josefin Runsteen und Cellist Leo Svensson | |
Sander. Dem schloss sich eine krautrockige Version von Funk an. Na also! | |
Mit Verve überzeugen konnte am Sonnabend Anna Högbergs Extended Attack, ein | |
12-köpfiges Ensemble aus Österreich, Dänemark und Schweden, mit seiner | |
Version eines physischen, befreiten Jazz. Dessen Einleitung, bestritten von | |
der Altsaxofonistin Högberg, klang ausgesprochen filigran; dann jedoch | |
ereignete sich – und es muss von einem Ereignis gesprochen werden – ein | |
jäher Umschwung in Richtung Metal. | |
## Zwischenspiel, majestätisch | |
Zwischen einen majestätischen, fast schon traditionell anmutenden Teil | |
setzten Högberg und ihr Kollegium verschiedene Miniaturen und | |
Zwischenspiele, so der beiden Kontrabassisten Kansan Zetterberg und Gus | |
Loxbo mit dem Tubisten Per-Åke Holmlander. Wer die Tuba für die | |
Riesenschnecke unter den Instrumenten hält, der höre Extended Attack, bei | |
denen selbst der Einsatz von zwei singenden Sägen frei von Klischees gerät. | |
Dass Jazzfest 2024 war eines der großen Formationen, der Kollektive und | |
Bigbands. [3][Am Samstagabend trat das Sun Ra Arkestra auf], dessen beide | |
Abwesenden unbedingt dazugezählt werden müssen. Dem 100-jährigen Leiter | |
Marshall Allen hat der Arzt die Reise über den Atlantik untersagt. Und der | |
Namensgeber Herman „Sonny“ Poole Blount schaut seit 1993 vom Jenseits, | |
wahrscheinlich von den Ringen des Saturn, zu uns – und er tut dies mit | |
wachsender Sorge [4][–, aber trotzdem fragt man sich hinterher: „Wie | |
fandest du es bei Sun Ra?“ Es war so schön wie der erste Blick durch ein | |
Teleskop]. | |
Ornette Coleman, Sun Ra und Alice Coltrane, um nur drei zu nennen: Das | |
Jazzfest 2024 war geschichtsbewusst, aber nicht konservativ. Auf das | |
Widerständige im Jazz wies George Lewis, US-Posaunist und Professor, in | |
seiner programmatischen Begrüßungsansprache hin. Schlagzeuger und Komponist | |
John Hollenbeck knüpfte in seiner Performance „The Drum Major Instinct“ | |
daran an. | |
## Zwei Posaunengruppen für MLK | |
Das Stück ist inspiriert von einer der letzten Predigten von Martin Luther | |
King Jr. 1968 kurz vor seiner Ermordung. Hollenbecks Bühnenumsetzung mit | |
zwei Posaunengruppen und einem kleineren Ensemble wurde zum Beispiel für | |
politisch bewussten Jazz, der sein Engagement nicht wie eine Monstranz vor | |
sich herträgt. | |
Kings Antikriegsbotschaft anlässlich des Konflikts in Vietnam wurde gerahmt | |
durch eine außergewöhnliche Konzertsituation: Zwischen die Akte, in denen | |
das Kollektiv zu sich fand, waren auf wechselnden Bildschirmen Videos | |
historischer Auftritte vom Jazzfest zu sehen, darunter der von Sarah | |
Vaughan, die vom Publikum angegangen wurde, weil ihr Abendkleid für die | |
Bürgerrechtsbewegung zu glamourös angesehen wurde. Genossinnen und | |
Genossen, so wird das nichts. | |
Darüber wäre auf einem der nächsten Gesprächsformate des Jazzfests zu | |
reden. Bis dahin sei eine der ruhigen, minimalistischen Aufnahmen von | |
Marilyn Crispell empfohlen. In Berlin hat die US-Pianistin solo und im Trio | |
mit Joe Lovano und Carmen Castaldi gezeigt, wie Ausdruck ohne Überwältigung | |
geht. | |
Nicht unähnlich der Musik aus dem Nachlass von Tristan Honsinger, die der | |
Kontrabassist Antonio Borghini mit dem Malacoda String Quartet in der | |
Gedächtniskirche aufgeführt hat: Darin waren Tanz und Landschaft, Folk und | |
Sehnsucht. Mit ihr fängt schließlich alles an. | |
5 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Wiederentdeckung-von-Harry-Martinson/!5426109 | |
[2] /60-Jahre-Jazzfest-Berlin/!6045175 | |
[3] /Sun-Ra-Arkestra-in-Hamburg/!5892744 | |
[4] /Blaxploitation-Scifi-Musikfilm-mit-Sun-Ra/!5613979 | |
## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
## TAGS | |
Jazzfest Berlin | |
Bilanz | |
Free Jazz | |
Reiseland Vietnam | |
taz Plan | |
Jazz | |
Free Jazz | |
Blaxploitation | |
Nobelpreis für Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Album von Dzung als Vietnam-Soundtrack: Grüne Kokosnüsse im Sonnenschein | |
Mit dem Album „2025 – hay không hay lắm“ will der vietnamesische Musik… | |
Dzung eine Soundreise durch sein Heimatland machen. Gelingt es ihm? | |
Neue Musik aus Berlin: In feinstem Stoff | |
Organza Ray haben ihrer neuen Single den wärmenden Namen „I Wear Your Coat | |
Inside Me“ gegeben. Am Sonntag sind sie bei „biegungen“ im ausland zu | |
hören. | |
Experimental-Duo So Sner: Neues aus der traurigen Stadt | |
Eine Bassklarinettistin und ein Elektroniker sind So Sner. Ihr neues Album | |
„The Well“ findet eigene Pfade zwischen Komposition und Improvisation. | |
60 Jahre Jazzfest Berlin: Aufschwung statt fliegendes Klopapier | |
Am Donnerstag beginnt das Jazzfest Berlin. Dieses Jahr feiert es | |
60-jähriges Jubiläum. Der Zukunft schaut man gedämpft optimistisch | |
entgegen. | |
Blaxploitation-Scifi-Musikfilm mit Sun Ra: Prima Nachhilfe in Afrofuturismus | |
„Space is the Place“, ein Musikfilm mit Sun Ra und seinem Arkestra von | |
1974, ist jetzt auf DVD veröffentlicht. Es geht unter anderem um | |
Transmolekularisierung. | |
Wiederentdeckung von Harry Martinson: Jede Minute auf See | |
Von Wanderarbeitern und Seeleuten erzählte Harry Martinson. Seine | |
Reisefeuilletons aus den 1920er und 1930er Jahren sind neu übersetzt | |
erschienen. |