# taz.de -- Wiederentdeckung von Harry Martinson: Jede Minute auf See | |
> Von Wanderarbeitern und Seeleuten erzählte Harry Martinson. Seine | |
> Reisefeuilletons aus den 1920er und 1930er Jahren sind neu übersetzt | |
> erschienen. | |
Bild: Der Hafen von Stockholm im frühen 20. Jahrhundert | |
„Das Utopia, das ich sehe, ist das dynamisch organisierende Nomadenleben | |
auf Erden, das Menschenprojekt der Variationen“, schrieb der Schwede Harry | |
Martinson 1931, da war er 27 Jahre alt. Martinson stand beim Propagieren | |
von Wurzellosigkeit keineswegs allein. | |
Auf der Suche nach Arbeit und Glück, auf der Flucht vor der | |
Weltwirtschaftskrise, zogen in dieser Zeit viele Migranten von Ort zu Ort, | |
von Land zu Land. Schon vorher, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, | |
waren allein Hunderttausende „Wirtschaftsflüchtlinge“ aus Europa in die | |
Neue Welt ausgewandert, darunter auch Martinsons eigene Mutter. | |
Harry Martinson wuchs im ländlichen Schweden als Waise auf. Er kannte | |
bereits als Teenager Wanderarbeiter und fuhr von 1920 bis 1927 zur See. Von | |
seinen Erlebnissen erzählte er in Reisefeuilletons, die damals in | |
Tageszeitungen wie Stockholms-Tidningen und der frauenbewegten | |
Wochenschrift Tidevarvet erschienen sind. | |
## Eine klassenbewußte Gruppe | |
„Ein starker verlorener Sohn, der aufstand und sich weigerte, verloren zu | |
sein“, schrieb Martinson über sich selbst. Oder er charakterisierte sich | |
als „Proletarier der Meere“. Er galt als hoffnungsvolles Talent, einer der | |
„5 unga“, einer Gruppierung klassenbewusster schwedischer | |
Arbeiterschriftsteller. Heute ist Harry Martinson (1904–1978) weitgehend | |
vergessen, obwohl er 1974 sogar mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet | |
wurde. | |
Umso verdienstvoller, dass der Berliner Guggolz Verlag jene Auswahl von | |
Martinsons Feuilletons, die in den späten vierziger Jahren unter dem Titel | |
„Reisen ohne Ziel“ auf Deutsch erschienen waren, erneut veröffentlicht. | |
Klaus-Jürgen Liedtke hat die Originalübersetzung von Verner Arpe, einem | |
deutschen Autor, der vor den Nazis nach Schweden geflohen war, | |
durchgesehen, behutsam aktualisiert und mit einem vorbildlichen Glossar | |
nautischer Fachbegriffe sowie einem instruktiven Nachwort versehen. | |
„Jede Zeit hat ihre Ketzer und ihre Inquisition“ heißt es in dem berühmten | |
Abenteuerroman „Das Totenschiff“ (1926) von B. Traven. Dessen Handlung ist | |
in Hafenstädten und Ländern angesiedelt, die auch Harry Martinson bereist | |
hat, über die er in seinen Feuilletons immer wieder berichtet. Vermutlich | |
war B. Traven mit dessen Texten vertraut. Martinson ist in seinen | |
drastischen Schilderungen des Elends nach 1918 durch und durch Ketzer. | |
Gegen die Inquisition ultrarechter Kreise nach den gescheiterten linken | |
Räterevolutionen macht er Front, ohne explizit politisch zu sein. Statt das | |
Erstarken des Nationalismus zu bedienen, schildert er das harte, nicht | |
immer reibungslose Leben in Häfen und auf See, inklusive Machtstrukturen | |
und Verständigungsschwierigkeiten: Statt Kap-Hoorn-Romantik findet sich bei | |
Martinson der eine oder andere gute Fluch: „No bloody fair!“ | |
## Die Narben des Krieges | |
Nach 1918 waren Hunderttausende Seeleute der Handelsmarine in US-Häfen | |
gestrandet, ihre Arbeitskraft wurde nicht mehr gebraucht. Sie hielten sich | |
mit Gelegenheitsjobs über Wasser oder wurden Hobos. Die Besatzungen der | |
Handelsschiffe, die noch fuhren, waren oft wild zusammengewürfelt, sie | |
kamen aus Ländern, die im Ersten Weltkrieg gegeneinander gekämpft hatten. | |
„Über den Hals zieht sich eine Narbe, weiß leuchtend, uneben und blank, | |
verzweigt sich und verschwindet unter dem Hemd. Der Krieg.“ Schreibt | |
Martinson über einen deutschen Kohlentrimmer, der im Ersten Weltkrieg | |
verwundet wurde. | |
Herrenmenschen-Lederkitsch und Exotismus sucht man bei Martinson | |
vergeblich. Lieber schildert er Begegnungen mit Fremden, Arbeitsbedingungen | |
an Land und auf See. Bei allem männlich konnotierten Entdeckergeist, hat er | |
den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit nicht entsprochen. Er | |
achtet auf die Lage der Frauen. | |
Martinson benennt absolute gesellschaftliche Tabus: Als er in einer | |
Hafenspelunke im belgischen Antwerpen den Shanty „Serafina“ hört, „gibt … | |
nichts zu preisen. Da lacht der schwarze Überdruss, pudert seinen | |
verkäuflichen Leib und summt einem so grenzenlos automatisch und | |
herzzerbrechend falsch ins Ohr, dass man von Verzweiflung erfüllt wird, | |
wenn man das Zeugnis seiner Ohren auch nur im Geringsten prüft; … man kann | |
sich alle psychosexuellen Alternativen erdacht haben, aber hier steht man | |
vor etwas ganz anderem – en detail rationalisierte sexuelle Leere.“ | |
## Die Mühen der Annäherung | |
Nach damaligen Maßstäben ist Martinson progressiv, er verschweigt nicht, | |
wie er von bettelnden Frauen ausgenommen wird. Aber er schreibt auch, wie | |
er in Chile einem indigenen Mädchen Geld gibt, damit es eine Zugreise zu | |
seiner Familie machen kann. | |
Allein die Beschreibung von Winden und Stürmen („Wasserereignissen“), die | |
Tücken der Wartung von Booten auf hoher See, die prekäre Situation von | |
Matrosen, sind mit das Packendste, was diesseits von „Moby Dick“ über den | |
Alltag an Bord zu lesen ist. „Jede Minute auf See hat ihr spezifisches, | |
wenn auch formloses Gepräge.“ | |
Martinson war die Welt nicht untertan, Länder und Kulturen in Übersee aus | |
der Nähe zu betrachten, hat ihm große Mühen bereitet. „Reisen heißt nicht | |
etwa, dass man … auf dem sonnigen Sizilien lernt, mit drei Apfelsinen zu | |
jonglieren“, schickt der Schwede in dem Essay „Der Weltnomade“ voraus. | |
Seine Erzählungen und Skizzen sind ethnografisch und szenisch grundiert. | |
Langeweile und Leere sind ihm bekannt, lange Wartezeiten waren zwischen | |
Passagen, etwa von Europa nach Afrika, von Südamerika nach Europa, zu | |
überstehen. Martinson verdingt sich etwa als Handwerker und bessert in | |
einer Villa in Rio de Janeiro den Fußboden aus, sinniert über die Menschen | |
„und verschwindet in den Eingeweiden der Stadt“. | |
17 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
## TAGS | |
Nobelpreis für Literatur | |
Schweden | |
Jazzfest Berlin | |
Literaturwissenschaft | |
Kopenhagen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Jazzfest Berlin 2024: Mit der Sehnsucht fängt es an | |
Feier einer Musik, die plebejische Wurzeln hat: Eindrücke vom 60. Berliner | |
Jazzfest. Seine Jubiläumsausgabe stand im Zeichen von Bigbands. | |
Biografie über B. Traven: Erschaffung eines Künstlers | |
Der Bestsellerautor hat zeitlebens alles unternommen, um anonym zu bleiben. | |
Nun lüftet Jan-Christoph Hauschild B. Travens letzte Geheimnisse. | |
Türkische Musikerin Nene Hatun: „Ich forsche nach Gefühlen“ | |
Beste Aydin ist Konzertpianistin. Als Nene Hatun macht sie hinreißenden | |
Elektronik-Sound zwischen Folk, Techno und Industrial. | |
Jazzfestival Kopenhagen: Wo selbst der Wind Musik macht | |
Die Sonne lacht, weil ihr die Darbietung so gut gefällt. Das 39. | |
Jazzfestival in Kopenhagen schlägt einen weiten Bogen von der Geschichte in | |
die Zukunft. |