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# taz.de -- Zustand des Frauenfußballs vor WM: Glitter auf Morast
> Am Donnerstag beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen, der
> Andrang ist riesig. Aber ist Frauenfußball wirklich Weltsport, groß und
> relevant?
Bild: Stadionbesuch der Aussies: Autraliens Fußballerinnen in der WM-Arena von…
Wenn am Donnerstag die Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen eröffnet wird,
werden über 80.000 Fans im ausverkauften Stadion von Sydney sein. Sie
werden genau die Bilder liefern, die sich die TV-Producer für dieses Event
in Australien und Neuseeland wünschen: [1][Frauenfußball als ein
umjubeltes, selbstverständliches Weltereignis]. Eigens wurde die
Eröffnungspartie in ein fast doppelt so großes Stadion verlegt, des großen
Andrangs wegen.
Zuletzt vermeldete die Fifa über 1,2 Millionen verkaufte Tickets für die
WM; das Turnier sei damit auf dem Weg, das meistbesuchte Frauensportevent
aller Zeiten zu werden. Und natürlich: „Die beste Frauen-WM aller Zeiten“,
wie Fifa-Boss Gianni Infantino verlässlich vor jedem Turnier behauptet.
Weil „besser“ nach Fifa-Logik stets „größer“ bedeutet, wird es in jed…
Fall die größte WM aller Zeiten werden: Erstmals aufgestockt auf 32 Teams.
Aber wie groß ist Fußball der Frauen vor diesem Turnier wirklich? Ist er
wahrer Weltsport?
Vielleicht wird man einmal sagen, dass das hier die Spiele nach dem Turnier
null sind. Das Turnier null, die EM in England 2022, hat Frauenfußball in
die gesellschaftliche Mitte getragen. Ein Meilenstein, vor allem, weil sie
klug vorbereitet war. Schon Jahre zuvor hatte [2][der englische Verband FA]
begonnen, das Spiel gezielt zu professionalisieren: hatte die Männerklubs
zum Investment in Frauenteams verpflichtet, hatte Vollprofitum in der
ersten Liga zur Vorschrift gemacht, hatte mit Highlight-Games vor großer
Kulisse und TV-Verträgen den Fußball der Frauen gezielt in den Mainstream
getragen.
Eine schlichte Investmentlogik, an deren Erfolg damals in der Macho-Domäne
kurioserweise kaum jemand glaubte. Der englische Erfolg zwang die
Konkurrenz zum finanziellen und strukturellen Aufrüsten: Es folgten
Rekordeinschaltquoten, Rekordbudgets, Rekordablösen.
## Stabilisierung der Branche
In Australien und Neuseeland geht es aus Sicht der Fifa nun darum, diesen
Ball aufzunehmen. Zumindest in Australien stehen die Chancen gut: relativ
hohe Fanzahlen, wenig Männersport-Image, Gleichberechtigung der
Spielerinnen und ein populäres Nationalteam mit Superstar Sam Kerr – drei
Viertel aller Tickets wurden für Australien verkauft. Schwieriger tut man
sich bei Außenseiter Neuseeland, das nie über eine Vorrunde bei einer WM
hinauskam und wo bisher lediglich 300.000 Tickets verkauft wurden.
Doch vielleicht ist all das gar nicht mehr so wichtig für die Zukunft des
Frauenfußballs: Durch das Wachstum des Klubfußballs ist die Branche
stabiler geworden. [3][Das Schicksal der Fußballerinnen] hängt nicht mehr –
wie bei der verkorksten WM 2011 in Deutschland – massiv vom Erfolg eines
Fifa-Turniers ab. Sie sind, wenn man so will, über die Fifa
hinausgewachsen.
Dieser Erfolg hat viele Mütter. Zu nennen wären die jüngste Frauenbewegung
inklusive #MeToo und #NiUnaMenos („Nicht eine weniger“), lautstarke
Spielerinnen, neue Investorinnenkollektive, sichtbarere Frauen im
Sportjournalismus und die umtriebige Spieler:innen-Gewerkschaft FifPro. Das
ist ein liberaler Feminismus, der Sport in seinen Kämpfen nicht länger
ausklammert. Was hier passiert, ist auch ein Wachstum von unten. Und von
oben – durch die Verbände selbst.
Der Männerfußball ist an Grenzen seiner Ausdehnung gestoßen. Plötzlich
wurden Frauen für den kapitalistisch getriebenen Sport vom Störfaktor zur
Chance: „Aus eins mach zwei“. Es geht jetzt nicht mehr nur darum, mit
Frauenfußball das Image zu polieren. Jetzt wird Geld gemacht.
Erstmals gibt es bei dieser WM gleiche Bedingungen für die Frauen, etwa in
Bezug auf Reisekomfort, Unterbringung und Staff. Erstmals überhaupt zahlt
die Fifa Preisgelder direkt an Spielerinnen aus. Insgesamt wurden die
Prämien auf 110 Millionen Euro angehoben, eine Vervielfachung im Vergleich
zu den 28 Millionen der vergangenen WM. Zwar sind das immer noch nur 25
Prozent der Männerprämien, aber auch hier hat die Fifa bis 2027
Gleichstellung versprochen. Oben, an den großen Fleischtöpfen, geschieht
gerade eine Revolution.
## Halbierung der Frauen-Teams
Doch unter einer schmalen Schicht Glitzer liegt knietiefer Morast.
Unterhalb der ersten Ligen herrscht häufig eine Welt wie in den 50er
Jahren: Frauenteams werden gegen ihren Willen aufgelöst, systematisch
diskriminiert; Frauen und Mädchen bekommen üblicherweise die schlechtesten
Trainingszeiten, die schlechtesten Plätze, die schlechteste Ausstattung,
unbezahlte Trainer:innen. Aktiv um Mädchen wirbt kaum ein Klub;
Männerfußball gilt als Leistungssport, Frauenfußball als Sozialprojekt.
Weibliche Kandidatinnen für Spitzenämter erfahren massive Widerstände, fast
alles Geld geht an die Männer, und wer protestiert, wird nicht selten von
Männerbünden rausgemobbt.
Zwischen 2010 und 2021 hat sich die Zahl der Mädchenfußballteams in
Deutschland von 8.700 auf knapp 4.000 halbiert. Viele haben Probleme, einen
Ligabetrieb aufrechtzuerhalten. Wie weit sich das Prekariat erstreckt,
zeigte eine Umfrage der Gewerkschaft FifPro vor der WM unter 362
teilnehmenden Spielerinnen. Demnach sind 40 Prozent dieser WM-Spielerinnen
keine Profis, 54 Prozent erhielten nicht mal einen Gesundheitscheck vor der
WM, und zwei Drittel müssen unbezahlten Urlaub nehmen. Wie groß ist Fußball
der Frauen wirklich?
Die realistische Antwort lautet: [4][In Sydney ist er ein Weltsport,
darunter ein Nischensport.] Viel wird darauf ankommen, ob die Bewegung von
oben es schafft, diese provinziellen Defizite zu beseitigen. Immer noch ist
das Pflänzchen fragil. Frauen haben es verpasst, im Fußball eigene
Institutionen aufzubauen. Sie bleiben damit abhängig von der Agenda
männergeführter Verbände.
Und sie haben es verpasst, eine zukunftsfähige Vision zu entwickeln. Mehr
Publikum, mehr Einnahmen, Sichtbarkeit, professionellere Bedingungen:
Frauenfußball misst seine Größe an Kriterien des 20. Jahrhunderts. In einer
Gesellschaft, deren Traum von ewigem Wachstum krachend gescheitert ist,
wird sich das rächen. Es gibt keine Zielsetzung, keine Idee – nur die
Notwendigkeit, weiter Zahlen zu steigern. Der Leistungsfußball hat es nie
geschafft, wahre Leistung zu verstehen: Er sieht darin nur
Spitzensportsiege, erkauft mit Ausbeutung.
Eine echte Vision wäre es, wirkliche Leistung zu belohnen und zu fördern:
Sinn, Nutzen und Freude für Gesellschaft und Aktive. Effekte auf lokale
Communitys, den Planeten, Arbeiter:innen; Lokalsport, Nachhaltigkeit,
Kooperation statt nur Dominanz, Fairness, Spaß. Dieser Frauenfußball hat
keine Vision jenseits von Wachstum.
Wachstum im Männerfußball ist längst an einem Punkt angelangt, an dem es
nicht mehr von Überzeugung, sondern von Angst getrieben ist. Niemand will
noch höhere Budgets, noch vollere Terminkalender, noch mehr Investoren und
Turniere, noch mehr Leistung. Aber wer stehen bleibt, so die Furcht, wird
überrollt: von der englischen Premier League, von China, von Konkurrenten
wie American Football, von Tiktok.
Längst ist Größe kein Marker mehr für einen besseren Fußball. Sie ist nur
noch der Marker im Rennen gegen den Kollaps, ein Zahlenwert für Alpträume
statt für Träume. Vielleicht ist das ein Grund, warum Frauenfußball derzeit
funktioniert. Hier kann man noch an Wachstum glauben und es gleichzeitig
mit Werten füllen. Wachstum und Werte sind noch nicht entkoppelt. Größer
und damit sichtbarer, reicher und damit gleichberechtigter, national, aber
freundlich und mit Regenbogenbinde, so wird Optimierungszwang noch einmal
mit Feminismus und Liberalismus versöhnt.
Erst recht in einem Frauenfußball, der seine Turniere bislang vorwiegend im
globalen Westen austrägt – dort, wo man sich mit Autokratien nicht so sehr
beschäftigen muss und, noch wichtiger, die eigene Verantwortung dafür und
die eigenen, ganz anderen Menschenrechtsverbrechen weder sieht noch
diskutiert. Hier lässt es sich noch an den Segen des Wachstums glauben.
Und vielleicht ist das ein wahrer Grund für die wachsende, nun ja, Größe
des Frauenfußballs: Dass er einer Gesellschaft, der die Fantasie für eine
neue Erzählung fehlt, für einen Moment den Glauben an die bestehende
Erzählung zurückgibt. Den Erfolg der WM wird man wieder an Zahlen wie den
80.000 in Sydney messen. Und feiern, als sei wieder Wirtschaftswunder.
19 Jul 2023
## LINKS
[1] https://www.fifa.com/tournaments/womens/womensworldcup
[2] https://womenscompetitions.thefa.com/
[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1329711/umfrage/fussball-wel…
[4] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/fussball-mehr-als-ein-spiel-290/…
## AUTOREN
Alina Schwermer
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