| # taz.de -- Politische Bilanz der WM: Australien ist doch nicht Katar | |
| > Auf eine kritische Betrachtung der Gastgeberstaaten wurde bei der WM | |
| > völlig verzichtet. Wer zum Westen gehört, wird nicht mit Fragen | |
| > behelligt. | |
| Bild: Nur als Staffage benutzt? Vor dem Spiel Australien–Kanada begrüßten a… | |
| Es hat den deutschen Sportjournalist:innen wohl sehr gut gefallen. | |
| Über den WM-Gastgeberstaat Australien (Neuseeland vergaßen beim Turnier ja | |
| alle recht schnell) fanden sie nur warme Worte. Die freundliche Stimmung, | |
| das Flair der Städte, das Streicheln der Koalas. Nach der Männer-WM in | |
| Katar atmete man bei Australien auf: Hier gehe es um „Equal Pay statt | |
| Menschenrechte“, untertitelte etwa [1][nd] beglückt. In puncto | |
| Menschenrechte gab es bei Australien keinerlei Bedenken. „Fragwürdige | |
| Austragungsorte“ mit „zweifelhafter Menschenrechtsbilanz“ sind immer nur | |
| Staaten außerhalb der sogenannten westlichen Welt. | |
| Diese Blindheit hat, kurz gesagt, zwei Gründe. In politisch als nah | |
| empfundenen Staaten schaut man nicht so genau hin. Und: Die Faktoren, die | |
| wir betonen, sind vorwiegend die, bei denen reiche „westliche“ Staaten gut | |
| abschneiden. Mehrparteiendemokratie, Pressefreiheit, Arbeitsschutz, | |
| LGBT-Rechte oder Frauenrechte. | |
| Kriterien, bei denen prekäre Staaten auch deswegen schlecht abschneiden, | |
| weil aufgrund von Ausbeutung durch reiche Länder und lokale Eliten die | |
| stabile Mittelschicht fehlt, um solche zivilen Rechte zu erkämpfen. | |
| Verbrechen dagegen, denen sich vor allem reiche Staaten schuldig machen – | |
| Ausbeutung fremder Bodenschätze und Menschen in den Lieferketten, | |
| Einwanderungsverbote und Misshandlung Schutzsuchender, gezielte | |
| Destabilisierung von Staaten und Militäreingriffe, massiver Reichtum und | |
| Ungleichheit, Klimaerhitzung, Massentierhaltung, Zerstörung der | |
| Biodiversität – finden um eine WM kaum statt. | |
| Dabei gab es auch vor der WM 2023 viele Chancen, den Austragungsstaat | |
| kritisch zu reflektieren, [2][zu hinterfragen], unter Druck zu setzen. | |
| Worüber wir hätten reden müssen: Im Juni 2023 wurde der vorerst letzte | |
| Geflüchtete aus Nauru evakuiert. | |
| ## Kritischen Journalist:innen wird die Einreise verweigert | |
| Der Inselstaat Nauru ist eine Art australischer Klientelstaat, wo zuletzt | |
| von 2012 bis 2023 übers Meer geflüchtete Menschen gegen UN-Recht ohne | |
| zeitliche Begrenzung unter menschenfeindlichen Bedingungen inhaftiert | |
| waren. Laut Guardian starben in dieser Zeit mindestens 14 Menschen, | |
| ermordet durch Wachpersonal, gestorben durch medizinische Vernachlässigung | |
| oder Suizid; im Rahmen der 2016 geleakten Nauru-Files kamen massive Gewalt | |
| und sexualisierte Gewalt ans Licht. | |
| Kritischen Journalist:innen werde, so der Guardian, die Einreise | |
| verweigert. Australien hat eine der brutalsten Anti-Migrations-Politiken | |
| der Welt inklusive Haft für all jene, die verdächtigt werden, „illegal“ | |
| gekommen zu sein. Trotz Protesten von Menschenrechtsorganisationen will der | |
| Staat weiter das sogenannte „offshore processing“ betreiben. In | |
| Papua-Neuguinea werden weiter Geflüchtete auf unbestimmte Zeit | |
| [3][festgehalte]n. | |
| Ebenfalls 2023 protestierten NGOs massiv gegen das australische | |
| Gefängnissystem: Ein 13-jähriger indigener Junge soll wegen eines eher | |
| geringen Vergehens 45 Tage in Einzelhaft gehalten worden sein. Solche | |
| Misshandlungen sind kein Einzelfall. Schon 10-jährige Kinder sind in | |
| Australien strafmündig. | |
| Laut Amnesty International waren unter den Kindern unter 14 Jahren, die | |
| zwischen 2017 und 2021 inhaftiert waren, 65 Prozent indigene Kinder – | |
| obwohl Indigene nur vier Prozent der australischen Bevölkerung stellen. | |
| UN-Vertreter:innen wurde im Vorjahr der Zugang zu einigen Haftanstalten | |
| verweigert. Etwa 13 Prozent aller Australier:innen leben unter der | |
| Armutsgrenze, bei Indigenen sind es rund 31 Prozent. | |
| Australien gehört zu den zehn reichsten Ländern der Welt. Von einem reichen | |
| Staat ohne Fußballtradition, der sich ein Turnier holt, war aber nicht die | |
| Rede, anders als bei Katar. Der Reichtum ist innerhalb Australiens | |
| dramatisch ungleich verteilt: Das Land hat die fünfthöchste Zahl von | |
| Ultrareichen weltweit, also Menschen, die über 500 Millionen US-Dollar | |
| besitzen. | |
| ## Anforderungen an Journalismus | |
| Australien verursacht hinter einigen arabischen Ölstaaten die höchsten | |
| Pro-Kopf-CO2-Emissionen der Welt. Das liegt unter anderem an der dreckigen | |
| Kohleindustrie – Australien ist weltweiter Kohleexporteur Nummer eins. Die | |
| wird extrem protegiert, auch durch Klimalügen. Laut Human Rights Watch | |
| werden friedliche Klimablockaden seit 2022 mit drakonischen Strafen von bis | |
| zu 2 Jahren Gefängnis und fünfstelligen Geldstrafen bedroht. | |
| Die Chance, diese Themen zu setzen, wurde vergeben. Es geht dabei nicht um | |
| einen schiefen Vergleich von Austragungsstaaten. Aber wer Weltturniere | |
| kritisch begleiten will, muss objektiver, tiefgründiger, weniger naiv | |
| sowohl über die Situation vor Ort als auch über die Wirkung eines Staates | |
| in der Welt sprechen. Und sich von der alten imperialistischen Diktion | |
| lösen, die zwischen freien Staaten und Schurkenstaaten unterscheidet. | |
| Wir müssen vor jedem Turnier den Ausgebeuteten und der Zerstörung | |
| Sichtbarkeit geben, und das ohne zugleich Nordkorea und Kanada | |
| achselzuckend für gleich mies zu erklären. Es ist dabei wichtig, | |
| wegzukommen vom ständigen Fokus auf den Nationalstaat. Und hin zu mehr | |
| Fokus auf das Ausbeutungssystem, das uns alle verbindet und nach dessen | |
| Regeln Nationalstaaten agieren. Wenn echter Druck entstehen soll, brauchen | |
| Proteste Vorlauf – und einen konzentrierten Fokus auf ein oder zwei | |
| wichtige Themen. Es ließe sich schon mal anfangen. In Deutschland soll ja | |
| demnächst eine EM anstehen. | |
| 20 Aug 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1174859.fussball-wm-der-frauen-fussball-w… | |
| [2] /Australiens-rigide-Asylpolitik/!5686289 | |
| [3] /Australisches-Gefluechtetenlager/!5471073 | |
| ## AUTOREN | |
| Alina Schwermer | |
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