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# taz.de -- Klimakrise in Brasilien: Schlammige Ungleichheit
> Bei einer Starkregen-Katastrophe an der Südostküste verloren mehr als
> 2.000 Menschen im Februar ihr Zuhause. Viele warten bis jetzt auf
> Entschädigung.
São Paulo und São Sebastião taz | Die Idylle ist trügerisch. Funkelnd senkt
sich die Sonne am Horizont, sanfte Wellen rauschen am Strand von Juquehy,
ein Ortsteil von São Sebastião. An der brasilianischen Südostküste im
Großraum von São Paulo boomt der Tourismus, gestresste reiche Großstädter
bezahlen hier für eine Ferienwohnung gerne mal 700 Euro pro Nacht.
Ein paar hundert Meter vom Strand entfernt ist dieser Traum eine bittere
Illusion. Die 17-jährige Nathiele Santos steht vor den Trümmern ihrer
Schule. Schlamm und Fluten haben den Großteil der Klassenzimmer zerstört.
Denn vor inzwischen mehr als vier Monaten hat es hier [1][in kurzer Zeit so
stark geregnet] wie noch nie seit brasilianischer Wetteraufzeichnung, mehr
als 700 Millimeter in sechs Stunden. Das ist mehr Niederschlag als in
Berlin in einem ganzen Jahr. Die Katastrophe ließ über 2.000 Menschen mit
Häuserruinen und mehr als 60 Todesopfer zurück, hauptsächlich in den
ärmeren Teilen der Stadt. Eine Zerstörung, mit der die Leute vor Ort noch
immer zu kämpfen haben.
Im Gegensatz zu den meisten Villen am Strand hat an Nathiele Santos’ Schule
noch niemand aufgeräumt. Die Schule liegt an einem der für die Region
typischen, unbefestigten Abhänge: Zwischen dichtem Wald und Abhang sind
hier durch den Regen Massen an unbefestigter Erde abgesackt und haben Teile
der Gebäude mitgerissen. Als die Fluten kamen, fiel die Schule für die
17-Jährige drei Wochen lang aus. Dabei hätte sie sich eigentlich für die
Aufnahmeprüfung an der Universität vorbereiten müssen. Inzwischen läuft der
Schulbetrieb wieder, allerdings eingeschränkt, denn ein Teil der
Schulgebäude und der Pausenhof sind nicht nutzbar, voll von Morast, alten
Gebäudeteilen und Gestrüpp. „Wir mussten während dem Unterricht und in der
Mittagspause auf dem Boden sitzen“, sagt Santos.
Nathiele Santos wird, so gut es geht, weiterlernen. Ihr Ziel: ein
Jura-Studium in São Paulo, sie wäre die erste der Familie, die studiert.
Ihre Mutter arbeitet in den Villen am Strand als Haushälterin. Menschen wie
sie erhalten den Tourismus vor Ort. Und es sind vor allem sie, die im
Februar viel verloren haben.
## Nicht die erste Katastrophe
Der Starkregen kam für Nathiele Santos und ihre Familie wie aus dem Nichts.
Sie wachte um vier Uhr morgens auf, als Schlammmassen und Wasser das Haus
ihrer Familie fluteten. Am Hang gelegen, hatte es gegen den Erdrutsch keine
Chance. „Am Anfang dachte ich, dass ist der gleiche Regen wie sonst auch
immer an Karneval. Und dann kam immer mehr Schlamm und Regen, und wir
hörten Leute um Hilfe schreien.“ Als sie aus dem Fenster schauten, waren
die fünf Häuser um sie herum schon komplett zerstört. Sie hatten Angst,
dass jeden Moment die Decke einstürze. „Ich wusste nicht, ob Freunde und
Verwandte überleben. Es war furchtbar.“
Ein paar Kilometer von Santos’ Heimatort entfernt sitzt
Katastrophenforscher und Meteorologe Marcelo Seluchi in seinem Büro. Er
arbeitet für den [2][nationalen Frühwarnungsdienst Cemaden], der für
Risikoprävention bei Naturkatastrophen zuständig ist. Es ist nicht das
erste Interview, das er als Experte zu der Tragödie von São Sebastião
führt. Der Metereorologe meint, sie hätten ungefähr zwei Tage vorher
gewusst, dass sich die Kaltfront über dem Ozean in einen
überdurchschnittlichen Zyklon verwandeln würde. Daraufhin hätten sie die
Stadtverwaltung von São Sebastião benachrichtigt.
Zwar versuchten Verwaltung und Katastrophenschutz, die Bewohner vorher per
SMS zu warnen, doch die meisten hatten schon kein Netz oder Internet mehr –
deswegen kamen keine Nachrichten an. Andere Vorwarnsysteme gab es keine.
Rettungskräfte kamen zudem tagelang nicht durch, weil Regen und Erdrutsche
die Straße versperrt hatten, überließen die zahlreichen Verletzten und
Vermissten erst mal sich selbst.
Auf Anfrage der taz, inwiefern die Stadt bessere Maßnahmen hätte treffen
können, schrieb die Sprecherin des Bürgermeisters: Auf so eine Katastrophe
könne man sich nicht vorbereiten. Und als Bürgermeister Felipe Augusto in
einem Interview gefragt wurde, warum man in den Ortsteilen keine Sirenen
zur Warnung installiert hätte, antwortete er gereizt: „Seit wann retten
Sirenen Leben?“
Seluchi widerspricht dem Bürgermeister. Sirenensysteme hätten bei anderen
Naturkatastrophen in Brasilien schon gute Dienste geleistet: „Es gab eine
Reihe von Versäumnissen, die sich auf die schlimmste Weise ergänzten –
durch den Karneval war der Katastrophenschutz nicht so gut ausgestattet wie
sonst, zum Beispiel.“ Die Hauptprobleme ließen sich nicht in kurzer Zeit
lösen, das ist neben der Klimakrise auch die soziale Verletzlichkeit.
Die Fluten vom 18. Februar – sie sind nicht Brasiliens erste
Naturkatastrophe an der gut bevölkerten Küste. São Sebastião ist nur ein
Extrembeispiel: Die Stadt, ein Konglomerat aus Küstenorten mit einer Länge
von insgesamt 100 Kilometern, platzt aus allen Nähten. In den letzten 40
Jahren hat sich die Einwohnerzahl hier vervierfacht. Und die Menschen mit
irregulärem Wohnstatus, die an den unbefestigten Hängen wohnen, sind hier
doppelt so viele wie im nationalen Durchschnitt. Wohn- und Klimakrise
machen hier die brasilianische Schere zwischen Arm und Reich sichtbar wie
kaum wo sonst.
## Tragödien und Solidarität
Brasilien gehört zu den ungleichsten Ländern der Erde. In São Sebastião
bedeutet das: viele reiche Großstädter und eine arme Minderheit, die für
sie arbeitet. Ihre Häuser sind in unbefestigten Zonen an Hängen errichtet,
weil sie die teuren Böden, die Behördenauflagen und die Kosten für den
brasilianischen Bürokratiedschungel nicht bezahlen können. Bis in die 70er
Jahre hinein lebten noch die Caiçara, [3][Indigene], an den Stränden. Im
Zuge des Baus einer Autobahn von Rio de Janeiro an den Strand in São Paulo
wurden sie teils gewaltvoll vertrieben. Der Streifen zwischen Bergen und
Meer ist schmal und dadurch teuer.
Wenn der Tourismus in São Sebastião floriert und immer mehr wohlhabende
Menschen ihre Häuser in der beliebten Region errichten, wird der Boden
gleichzeitig immer teurer. Und es bleibt weniger Platz und Wohnort für
Minderheiten. „Leider hat die Politik diese Situation lange ignoriert. Und
heute haben wir zehn Millionen Menschen im ganzen Land, die in Risikozonen
leben, Tendenz steigend. Es ist eine untragbare Katastrophe“, sagt der
Klimaforscher Seluchi.
Dort, wo Marina Ferreira Ferien macht, gibt es keinen Schlamm mehr, dabei
liegt ihr Haus nur ein paar Ortschaften von Nathiele Santos Haus entfernt.
Die 21-jährige Studentin aus São Paulo kommt gerne an den Wochenenden nach
São Sebastião, ihre Familie hat sich vor zehn Jahren unweit des Strandes
ein Ferienhaus gekauft. Zwar standen auch hier die Straßen im Februar unter
Wasser, liefen die teuren Autos voll mit Schlamm. Aber Portier, Gärtner und
weitere Angestellte haben sich schon längst darum gekümmert, dass alles
wieder ordentlich ist. Nun sitzt Ferreira im Haus ihrer Familie im
gutbürgerlichen Stadtteil Perdizes in São Paulo, nach einem Tag an der Uni,
sie studiert öffentliche Verwaltung.
Wenn Ferreira an die Tragödie zurückdenkt, denkt sie vor allem an
Solidarität. Als sie hier im Februar Urlaub machte und es stark zu regnen
anfing, sagte sie die Karnevalsparty, zu der sie mit ihren Freund:innen
gehen wollte, ab. Sie harrte während der Katastrophe im Haus aus. Sobald
man wieder nach draußen konnte, half sie einer Nichtregierungsorganisation,
Kleider, Decken und Lebensmittel an Betroffene zu verteilen.
„In meinem engen Umfeld haben alle geholfen“, erzählt sie. Doch sie kenne
auch Leute, die im Angesicht der Katastrophe einen Helikopter mieteten oder
mit ihrem eigenen in die Stadt flohen. Sie selbst fuhr fünf Tage nach der
Tragödie, als die Straßen wieder mehr oder weniger frei waren, mit ihrer
Familie zurück nach São Paulo. Ein paar Wochen später sei sie mal wieder in
der Stadt gewesen, am Strand, und habe sich dort mit der Haushälterin
unterhalten. „Die meinte, die Stadtverwaltung hat schon gut geholfen, damit
die Leute nicht auf der Straße schlafen müssen.“
Zwar hat die Stadt viele obdachlos Gewordene in einer öffentlichen
Einrichtung untergebracht, lokalen Gruppen zufolge sind jedoch noch über
1.000 Menschen ohne Wohnung, schlafen auf öffentlichen Plätzen und am
Strand. Die Stadt weist diesen Vorwurf auf Anfrage der taz von sich. Vier
Monate nach der Katastrophe sind zahlreiche Häuser noch immer
einsturzgefährdet. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen regnet es
immer noch sehr regelmäßig, die Bewohner könnten einer erneuten Tragödie
ausgesetzt sein.
Laut der Stadtverwaltung sind Aufräumtrupps des Katastrophenschutzes noch
vor Ort. Doch Einheimische beschweren sich, dass ihnen beim Aufbau der
Straßen und ihrer Häuser niemand hilft. Das Wasser aus den Leitungen ist
eine braune Brühe. An einigen Türen hängen rote knallige Schilder der
Stadtverwaltung: Das Betreten der Gebäude ist hier verboten.
Nathiele Santos Familie hat inzwischen eine neue Unterkunft gefunden. Die
Miete können sie sich jedoch kaum leisten: Knapp 300 Euro für wenige
Quadratmeter, und das, während ihre Mutter gerade ihre Arbeit verloren hat.
Die Stadtverwaltung übernimmt zwar einen Teil der Miete, doch das reicht
nicht. Die Schülerin musste selbst arbeiten gehen und fehlte eine Woche in
der Schule, um Geld für die Miete zu verdienen. Und es könnte sein, dass
Familie Santos auch dort nicht sicher ist. Das Haus liegt in der Nähe eines
Wasserfalls, der bei einem erneuten Starkregen leicht über die Ufer treten
könnte. In den Plänen der Stadtverwaltung gilt das Gebiet allerdings als
sicher. Sie und andere halten die Einteilung für willkürlich, viele fordern
eine Entschädigung für ihr Haus und Terrain. Eine Anfrage an den
Katastrophenschutz dazu blieb unbeantwortet.
Dabei blieben Staat und Stadt nicht untätig. In den Tagen nach der
Katastrophe besuchten Bürgermeister, Gouverneur und sogar [4][Präsident
Lula da Silva] den Ort des Unglücks. Über eine Million Euro flossen von
Staat und Land an die Stadt, um die betroffenen Gebiete wiederaufzubauen,
dazu kamen fast sechs Millionen Euro an Geldspenden. Die Stadtverwaltung
brachte viele Familien in provisorischen Wohnungen im Nachbarort unter,
bezahlte mit Spendengeldern die Unterkünfte für Familien in Pensionen.
Und sie plant über 700 Wohnungen für die Familien in den unbefestigten
Gebieten, schon in wenigen Wochen sollen sie fertig sein. Einige der Häuser
sind Sozialwohnungen und Teil eines nationalen Projekts von Präsident Lula,
der in den nächsten Jahren über zwei Millionen neue Wohnungen in ganz
Brasilien bauen will. Der Antrag dafür ging gerade erst durch den
Nationalkongress.
Doch viele sind alles andere als zufrieden. Nathiele Santos sagt, sie
findet es gut, dass der Präsident an den Tagen nach der Katastrophe vor Ort
war: „Aber er kam nicht zu uns – er hat den falschen Leuten zugehört.“
Damit meint sie vor allem den Bürgermeister Felipe Augusto – denn der hat
gerade bei den Ärmeren nicht viele Freunde. Sie spekulieren, ob er mit den
Spendengeldern seine nächste Wahlkampagne finanzieren wird. Die
Schlagzeilen zu Augusto häufen sich, zurzeit läuft ein
Amtsenthebungsverfahren gegen ihn, weil er Gelder während der
Covid19-Pandemie veruntreut haben soll.
Und auch hier haben viele das Gefühl: Das Geld wird für die falschen
Projekte verwendet. Anstatt deren Wohnungen wiederaufzubauen, mussten
einige betroffene Familien umsiedeln. Sie sollen bald nur wenige Meter
weiter, in einem der neuen Wohnkomplexe, wohnen. Das Gebiet ist aber noch
immer voll von Morast und knöcheltiefem Wasser. Die Stadtverwaltung und die
staatliche Wohnungsbauagentur wollten es trockenlegen: Inzwischen werden
auf dem noch immer feuchten Boden die ersten Häuserplatten
aneinandergesetzt. Mit schmalen Zwischenräumen – viel Platz werden die
Familien hier nicht haben.
Eine, die das lautstark kritisiert, ist Rosilene de Jesus Santos. Sie wohnt
seit 30 Jahren im ärmsten Stadtteil São Sebastiãos, Vila Sahy. „Niemand hat
uns gefragt, ob wir unsere Häuser aufgeben wollen und dort gegen Miete mit
unseren Familien auf 40 Quadratmetern wohnen wollen“, sagt sie. Der
Standort sei ungeeignet, der Fluss direkt neben dem Neubauprojekt werde das
Haus bei der nächsten Flut genauso mitreißen. Wie viele der hauptsächlich
Schwarzen Bevölkerung aus dem Nordosten Brasiliens kam Santos in die
Region, weil es hier Arbeit gab: Ihr Mann war bis zu seinem Tod als Maurer
tätig, sie als Köchin. Ihr Haus bauten sie selbstverständlich in die
irreguläre Zone, obwohl sie wussten, dass es hier leicht feucht werden
kann. Aus Mangel an Alternativen.
In Santos’ Stadtteil kann man die Ungleichheit besonders stark sehen: Die
Hauptstraße trennt den reichen und den armen Teil des Küstenabschnitts.
Links von der Straße die steilen Hänge mit Hütten, rechts die Villen, der
Strand. „Ich spreche für unsere Gemeinschaft, wenn ich sage: Langsam
glauben wir, dass wir es nur wert sind, auf die andere Seite zum Arbeiten
zu gehen. Wir sind es nicht wert, dort zu wohnen.“
Die Köchin nennt das Umweltrassismus. „Denn die meisten reichen und weißen
Leute können genauso wohnen wie vorher.“ Auch die Umweltorganisation
Greenpeace nutzt dieses Wort, sie fordert von der brasilianischen
Regierung, „mit diesem kolonialistischen Erbe“ zu brechen und die schwarze
und indigene Bevölkerung vor Ort an den Plänen zu Risikomanagement und
Katastrophenschutz zu beteiligen.
Die Benachteiligung ist nicht nur am Wohnort sichtbar, sondern auch in der
Infrastruktur, im Arbeitsleben, in der Bildung. Rosilene de Jesus Santos
hat mit der Flut ihren Job verloren. Das Restaurant, in dem sie als Köchin
arbeitete, kann sie nicht weiter beschäftigen: Es fehlt offenbar das Geld,
das sonst die Karnevalstouristen gebracht hätten. Denn Februar ist
Hochsaison hier an der Küste: Es ist der wärmste Monat, es sind Ferien, und
an allen Ecken finden Karnevalspartys statt. Diesmal blieben die Touristen
wegen des Regens fern – oder flogen mit ihren Helikoptern davon, als São
Sebastião im Chaos versank.
Rosilene de Jesus Santos blieb. Wenn sie sich die Bilder der Tragödie
wieder vor Augen ruft, versagt ihre Stimme kurz. Sie hat viele Angehörige
und Freunde verloren, mit eigenen Augen gesehen, wie sie im Schlamm
ertranken. „Als ich mein Haus verließ, strömten die Scharen meiner Nachbarn
mit mir Richtung Strand, weg von den Erdrutschen. Und in den Gesichtern sah
ich überall den gleichen Ausdruck: Verzweiflung, und Unwissenheit darüber,
wie es jetzt weitergehen soll“, erinnert sie sich.
Rund 70 Dorfbewohner, darunter auch die Köchin, halfen sich selbst. Sie
sammelten sich im Kinderhort, die Mutter von drei Kindern kochte zehn Tage
für die anderen mit Resten und Spenden. Denn auch die Versorgungswege,
unter anderem die Straße nach São Paulo, waren durch den Schlamm
verschüttet und gesperrt. Die Bewohner organisierten Suchtrupps, sammelten
Essen, versorgten Verletzte provisorisch. Auch viele aus den Villenvierteln
kamen und halfen, eine Psychologin erklärte sich bereit, stark
Traumatisierten zuzuhören. Mit jedem Tag stieg der Frust: vorrangig auf die
Stadtverwaltung, die sie nicht vorgewarnt hat. Die seit Jahren ohnmächtig
der Urbanisierung, der Immobilienspekulation und den wachsenden Favelas
zusieht. Dass dort mehrstöckige Wohnkomplexe errichtet werden, wo jetzt
schon niemand wohnen will, sehen die meisten Bewohner kritisch.
Marina Ferreira kann den Frust verstehen: Sie findet, es wird zu wenig
getan. Und auch sie ist der Meinung, dass Hochhäuser am Strand seltsam
aussehen würden und kein würdiges Wohnen für die Betroffenen darstellen.
Einige Ideen des Gouverneurs für neue Wohnprojekte findet sie aber gut.Und
sie glaubt, dass viele zu kritisch sind mit den Leuten, die helfen wollten.
Sie sieht die Schuld nicht bei der Stadtverwaltung, sondern bei der
sozialen Ungleichheit. „Die sorgt eben dafür, dass die einfacheren Leute in
der Nähe des Hanges wohnen. Weil das das ist, was für sie übrig bleibt.“
Meteorologe Marcelo Seluchi kann sich Hochhäuser im Risikogebiet São
Sebastião ebenfalls nicht vorstellen. „Bei diesen Gebieten handelt es sich
um unbefestigte Ebenen, die sich von den Bergen gelöst haben und in tiefer
gelegene Gebiete abrutschen. Das muss man sich sehr gut überlegen, ob man
dorthinein ein Hochhaus bauen kann.“ Auf die Frage der taz, ob es schon ein
Umweltgutachten dazu gebe, wollten weder staatliche Wohnungsbauagentur noch
Stadtverwaltung Auskunft geben. Letztere teilte allerdings mit, dass sie
darauf Wert lege, dass die Häuser aus einem besonders widerstandsfähigen
Holz gebaut werden sollen.
Als die Familien während der Flut im Kinderhort zusammensaßen, beschlossen
sie, sich zu wehren. Rosilene Jesus de Santos ist seitdem gewählte
Vertreterin des Dorfbeirats, der „Vereinigung der Betroffenen“. Sie und
neun andere vertreten diejenigen, die die Regenfälle am stärksten
mitgenommen haben, tragen ihre Kritik, in Form von Bildern ihrer zerstörten
Häuser und Schulen, auf Social Media und in die Welt hinaus. Sie wollen
mehr Struktur, fordern eine Studie über die Versäumnisse der Verwaltung und
die geologische Lage.
Zwei Monate nach der Tragödie standen sie vor dem Rathaus und
protestierten. Es war auch ein Gesprächsangebot, eine Aufforderung, endlich
den Problemen der Leute zuzuhören. Doch die Türen des Rathauses blieben
verschlossen, die Stadt reagiere nicht auf jegliche Kontaktversuche,
beschweren sich die Aktivist:innen. Auch eine Nachfrage der taz an die
Stadtverwaltung blieb unbeantwortet.
## „Es ist keine Tragödie, es ist ein Verbrechen“
Trotzdem geben die Betroffenen nicht auf. An einem Tag im Mai, inzwischen
ist die Tragödie schon mehr als drei Monate her, versammeln sich Menschen
mit bunten Transparenten im Auditorium im Landtag des Staats São Paulo. Auf
den Schildern stehen Sprüche wie: „Es ist keine Tragödie, es ist ein
Verbrechen.“ Die Stimmung ist aufgeheizt. Einmal unterbricht eine Frau eine
der Reden. Sie hat zwei Literflaschen mit braunem Brackwasser in der Hand.
„Das ist das Wasser, mit dem ich mich duschen soll!“, ruft sie empört.
Mehrere Leute nicken zustimmend.
Aber es liegt auch Hoffnung in der Luft: Denn vorne am Rednerpult treten
nicht nur die Ortsbeirate mit ihren Protestreden auf, sondern es sind auch
Abgeordnete verschiedener Parteien des Ausschusses für Wohnungsbau,
Entwicklung und Stadtreform des Landtages anwesend, die zuhören und
zustimmen.
Die Abgeordnete Marine Lou, rosa Anorak, die Haare zu einem lockeren Zopf
gebunden, ergreift das Wort: „Ich sehe, dass es da unterschiedliche
Ansichten gibt, darüber, was im Februar in São Sebastião passiert ist“,
vermittelt sie. „Aber die Bilder und Videos zeigen ein sehr klares Bild:
Die Stadtverwaltung setzt die Leute in Risiken und wird ihrer Verantwortung
nicht gerecht. Wir werden für mehr Klimagerechtigkeit kämpfen!“ Die
Grünen-Politikerin kommt aus der gleichen Partei wie die brasilianische
Umweltministerin Marina Silva und will sich dafür einsetzen, dass die
Schulen schneller wieder aufgebaut werden, damit kein Remote-Unterricht aus
kaputten Häusern stattfinden muss. Und dafür, dass mehr bezahlbarer
sozialer Wohnraum für die Leute aus den Risikozonen geschaffen wird. Auch
eingeladen, aber nicht erschienen zu dem Event sind Vertreter der
Stadtverwaltung und der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft, die für den
Bau der 700 Wohnungen verantwortlich sind.
Neben dem Wunsch nach mehr Maßnahmen dringt hier vor allem eines durch: der
Ruf nach mehr Demokratie und Transparenz. Es soll nicht nur geholfen
werden, endlich gegen die Folgen der Flutkatastrophe zu kämpfen, sondern es
soll sich mit den Ursachen auseinandergesetzt werden. Die Parlamentarier
wollen einen Antrag auf eine öffentliche Anhörung und einen
Untersuchungsbericht stellen, um mehr Klarheit über die Wohnsituation und
die Wasserqualität vor Ort zu bekommen. So will man sich besser auf die
nächste Krise vorbereiten.
Ob ihre oppositionellen Forderungen von der Landesregierung angehört
werden, ist jedoch fraglich. Ein weiteres Wohnungsprojekt des Gouverneurs
Tarcísio de Freitas, der von einigen schon als neuer konservativer
Präsidentschaftskandidat gehandelt wird, steht gerade zur Abstimmung, auch
hier werden die kritischen Stimmen bisher nicht angehört. Doch auch die
Leute aus Vila Sahy werden nicht leise bleiben: Sie wollen eine Doku
drehen, von ihren Erfahrungen erzählen und weitere Aktionen planen, um auf
ihre Situation aufmerksam zu machen.
Rosilene de Jesus Santos hält keine Rede, aber sie sitzt im Publikum und
hört zu und nickt manchmal. Aus ihrer Stimme ist nicht mehr nur
Verzweiflung herauszuhören, sondern auch Hoffnung, als sie sagt: „Weißt du,
wir sind echt stark, wir überleben, indem wir uns gegenseitig helfen, weil
wir eine Gemeinschaft sind. Wir halten uns gegenseitig auf den Beinen.“
1 Jul 2023
## LINKS
[1] /Ueberschwemmungen-und-Erdrutsche/!5916991
[2] http://www2.cemaden.gov.br/
[3] /Menschenrechte-und-Waldschutz/!5938204
[4] /Amtseinfuehrung-von-Lula-da-Silva/!5905946
## AUTOREN
Isabel Knippel
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