# taz.de -- Klimakrise in Brasilien: Schlammige Ungleichheit | |
> Bei einer Starkregen-Katastrophe an der Südostküste verloren mehr als | |
> 2.000 Menschen im Februar ihr Zuhause. Viele warten bis jetzt auf | |
> Entschädigung. | |
SãO PAULO UND SãO SEBASTIãO taz | Die Idylle ist trügerisch. Funkelnd senkt | |
sich die Sonne am Horizont, sanfte Wellen rauschen am Strand von Juquehy, | |
ein Ortsteil von São Sebastião. An der brasilianischen Südostküste im | |
Großraum von São Paulo boomt der Tourismus, gestresste reiche Großstädter | |
bezahlen hier für eine Ferienwohnung gerne mal 700 Euro pro Nacht. | |
Ein paar hundert Meter vom Strand entfernt ist dieser Traum eine bittere | |
Illusion. Die 17-jährige Nathiele Santos steht vor den Trümmern ihrer | |
Schule. Schlamm und Fluten haben den Großteil der Klassenzimmer zerstört. | |
Denn vor inzwischen mehr als vier Monaten hat es hier [1][in kurzer Zeit so | |
stark geregnet] wie noch nie seit brasilianischer Wetteraufzeichnung, mehr | |
als 700 Millimeter in sechs Stunden. Das ist mehr Niederschlag als in | |
Berlin in einem ganzen Jahr. Die Katastrophe ließ über 2.000 Menschen mit | |
Häuserruinen und mehr als 60 Todesopfer zurück, hauptsächlich in den | |
ärmeren Teilen der Stadt. Eine Zerstörung, mit der die Leute vor Ort noch | |
immer zu kämpfen haben. | |
Im Gegensatz zu den meisten Villen am Strand hat an Nathiele Santos’ Schule | |
noch niemand aufgeräumt. Die Schule liegt an einem der für die Region | |
typischen, unbefestigten Abhänge: Zwischen dichtem Wald und Abhang sind | |
hier durch den Regen Massen an unbefestigter Erde abgesackt und haben Teile | |
der Gebäude mitgerissen. Als die Fluten kamen, fiel die Schule für die | |
17-Jährige drei Wochen lang aus. Dabei hätte sie sich eigentlich für die | |
Aufnahmeprüfung an der Universität vorbereiten müssen. Inzwischen läuft der | |
Schulbetrieb wieder, allerdings eingeschränkt, denn ein Teil der | |
Schulgebäude und der Pausenhof sind nicht nutzbar, voll von Morast, alten | |
Gebäudeteilen und Gestrüpp. „Wir mussten während dem Unterricht und in der | |
Mittagspause auf dem Boden sitzen“, sagt Santos. | |
Nathiele Santos wird, so gut es geht, weiterlernen. Ihr Ziel: ein | |
Jura-Studium in São Paulo, sie wäre die erste der Familie, die studiert. | |
Ihre Mutter arbeitet in den Villen am Strand als Haushälterin. Menschen wie | |
sie erhalten den Tourismus vor Ort. Und es sind vor allem sie, die im | |
Februar viel verloren haben. | |
## Nicht die erste Katastrophe | |
Der Starkregen kam für Nathiele Santos und ihre Familie wie aus dem Nichts. | |
Sie wachte um vier Uhr morgens auf, als Schlammmassen und Wasser das Haus | |
ihrer Familie fluteten. Am Hang gelegen, hatte es gegen den Erdrutsch keine | |
Chance. „Am Anfang dachte ich, dass ist der gleiche Regen wie sonst auch | |
immer an Karneval. Und dann kam immer mehr Schlamm und Regen, und wir | |
hörten Leute um Hilfe schreien.“ Als sie aus dem Fenster schauten, waren | |
die fünf Häuser um sie herum schon komplett zerstört. Sie hatten Angst, | |
dass jeden Moment die Decke einstürze. „Ich wusste nicht, ob Freunde und | |
Verwandte überleben. Es war furchtbar.“ | |
Ein paar Kilometer von Santos’ Heimatort entfernt sitzt | |
Katastrophenforscher und Meteorologe Marcelo Seluchi in seinem Büro. Er | |
arbeitet für den [2][nationalen Frühwarnungsdienst Cemaden], der für | |
Risikoprävention bei Naturkatastrophen zuständig ist. Es ist nicht das | |
erste Interview, das er als Experte zu der Tragödie von São Sebastião | |
führt. Der Metereorologe meint, sie hätten ungefähr zwei Tage vorher | |
gewusst, dass sich die Kaltfront über dem Ozean in einen | |
überdurchschnittlichen Zyklon verwandeln würde. Daraufhin hätten sie die | |
Stadtverwaltung von São Sebastião benachrichtigt. | |
Zwar versuchten Verwaltung und Katastrophenschutz, die Bewohner vorher per | |
SMS zu warnen, doch die meisten hatten schon kein Netz oder Internet mehr – | |
deswegen kamen keine Nachrichten an. Andere Vorwarnsysteme gab es keine. | |
Rettungskräfte kamen zudem tagelang nicht durch, weil Regen und Erdrutsche | |
die Straße versperrt hatten, überließen die zahlreichen Verletzten und | |
Vermissten erst mal sich selbst. | |
Auf Anfrage der taz, inwiefern die Stadt bessere Maßnahmen hätte treffen | |
können, schrieb die Sprecherin des Bürgermeisters: Auf so eine Katastrophe | |
könne man sich nicht vorbereiten. Und als Bürgermeister Felipe Augusto in | |
einem Interview gefragt wurde, warum man in den Ortsteilen keine Sirenen | |
zur Warnung installiert hätte, antwortete er gereizt: „Seit wann retten | |
Sirenen Leben?“ | |
Seluchi widerspricht dem Bürgermeister. Sirenensysteme hätten bei anderen | |
Naturkatastrophen in Brasilien schon gute Dienste geleistet: „Es gab eine | |
Reihe von Versäumnissen, die sich auf die schlimmste Weise ergänzten – | |
durch den Karneval war der Katastrophenschutz nicht so gut ausgestattet wie | |
sonst, zum Beispiel.“ Die Hauptprobleme ließen sich nicht in kurzer Zeit | |
lösen, das ist neben der Klimakrise auch die soziale Verletzlichkeit. | |
Die Fluten vom 18. Februar – sie sind nicht Brasiliens erste | |
Naturkatastrophe an der gut bevölkerten Küste. São Sebastião ist nur ein | |
Extrembeispiel: Die Stadt, ein Konglomerat aus Küstenorten mit einer Länge | |
von insgesamt 100 Kilometern, platzt aus allen Nähten. In den letzten 40 | |
Jahren hat sich die Einwohnerzahl hier vervierfacht. Und die Menschen mit | |
irregulärem Wohnstatus, die an den unbefestigten Hängen wohnen, sind hier | |
doppelt so viele wie im nationalen Durchschnitt. Wohn- und Klimakrise | |
machen hier die brasilianische Schere zwischen Arm und Reich sichtbar wie | |
kaum wo sonst. | |
## Tragödien und Solidarität | |
Brasilien gehört zu den ungleichsten Ländern der Erde. In São Sebastião | |
bedeutet das: viele reiche Großstädter und eine arme Minderheit, die für | |
sie arbeitet. Ihre Häuser sind in unbefestigten Zonen an Hängen errichtet, | |
weil sie die teuren Böden, die Behördenauflagen und die Kosten für den | |
brasilianischen Bürokratiedschungel nicht bezahlen können. Bis in die 70er | |
Jahre hinein lebten noch die Caiçara, [3][Indigene], an den Stränden. Im | |
Zuge des Baus einer Autobahn von Rio de Janeiro an den Strand in São Paulo | |
wurden sie teils gewaltvoll vertrieben. Der Streifen zwischen Bergen und | |
Meer ist schmal und dadurch teuer. | |
Wenn der Tourismus in São Sebastião floriert und immer mehr wohlhabende | |
Menschen ihre Häuser in der beliebten Region errichten, wird der Boden | |
gleichzeitig immer teurer. Und es bleibt weniger Platz und Wohnort für | |
Minderheiten. „Leider hat die Politik diese Situation lange ignoriert. Und | |
heute haben wir zehn Millionen Menschen im ganzen Land, die in Risikozonen | |
leben, Tendenz steigend. Es ist eine untragbare Katastrophe“, sagt der | |
Klimaforscher Seluchi. | |
Dort, wo Marina Ferreira Ferien macht, gibt es keinen Schlamm mehr, dabei | |
liegt ihr Haus nur ein paar Ortschaften von Nathiele Santos Haus entfernt. | |
Die 21-jährige Studentin aus São Paulo kommt gerne an den Wochenenden nach | |
São Sebastião, ihre Familie hat sich vor zehn Jahren unweit des Strandes | |
ein Ferienhaus gekauft. Zwar standen auch hier die Straßen im Februar unter | |
Wasser, liefen die teuren Autos voll mit Schlamm. Aber Portier, Gärtner und | |
weitere Angestellte haben sich schon längst darum gekümmert, dass alles | |
wieder ordentlich ist. Nun sitzt Ferreira im Haus ihrer Familie im | |
gutbürgerlichen Stadtteil Perdizes in São Paulo, nach einem Tag an der Uni, | |
sie studiert öffentliche Verwaltung. | |
Wenn Ferreira an die Tragödie zurückdenkt, denkt sie vor allem an | |
Solidarität. Als sie hier im Februar Urlaub machte und es stark zu regnen | |
anfing, sagte sie die Karnevalsparty, zu der sie mit ihren Freund:innen | |
gehen wollte, ab. Sie harrte während der Katastrophe im Haus aus. Sobald | |
man wieder nach draußen konnte, half sie einer Nichtregierungsorganisation, | |
Kleider, Decken und Lebensmittel an Betroffene zu verteilen. | |
„In meinem engen Umfeld haben alle geholfen“, erzählt sie. Doch sie kenne | |
auch Leute, die im Angesicht der Katastrophe einen Helikopter mieteten oder | |
mit ihrem eigenen in die Stadt flohen. Sie selbst fuhr fünf Tage nach der | |
Tragödie, als die Straßen wieder mehr oder weniger frei waren, mit ihrer | |
Familie zurück nach São Paulo. Ein paar Wochen später sei sie mal wieder in | |
der Stadt gewesen, am Strand, und habe sich dort mit der Haushälterin | |
unterhalten. „Die meinte, die Stadtverwaltung hat schon gut geholfen, damit | |
die Leute nicht auf der Straße schlafen müssen.“ | |
Zwar hat die Stadt viele obdachlos Gewordene in einer öffentlichen | |
Einrichtung untergebracht, lokalen Gruppen zufolge sind jedoch noch über | |
1.000 Menschen ohne Wohnung, schlafen auf öffentlichen Plätzen und am | |
Strand. Die Stadt weist diesen Vorwurf auf Anfrage der taz von sich. Vier | |
Monate nach der Katastrophe sind zahlreiche Häuser noch immer | |
einsturzgefährdet. Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen regnet es | |
immer noch sehr regelmäßig, die Bewohner könnten einer erneuten Tragödie | |
ausgesetzt sein. | |
Laut der Stadtverwaltung sind Aufräumtrupps des Katastrophenschutzes noch | |
vor Ort. Doch Einheimische beschweren sich, dass ihnen beim Aufbau der | |
Straßen und ihrer Häuser niemand hilft. Das Wasser aus den Leitungen ist | |
eine braune Brühe. An einigen Türen hängen rote knallige Schilder der | |
Stadtverwaltung: Das Betreten der Gebäude ist hier verboten. | |
Nathiele Santos Familie hat inzwischen eine neue Unterkunft gefunden. Die | |
Miete können sie sich jedoch kaum leisten: Knapp 300 Euro für wenige | |
Quadratmeter, und das, während ihre Mutter gerade ihre Arbeit verloren hat. | |
Die Stadtverwaltung übernimmt zwar einen Teil der Miete, doch das reicht | |
nicht. Die Schülerin musste selbst arbeiten gehen und fehlte eine Woche in | |
der Schule, um Geld für die Miete zu verdienen. Und es könnte sein, dass | |
Familie Santos auch dort nicht sicher ist. Das Haus liegt in der Nähe eines | |
Wasserfalls, der bei einem erneuten Starkregen leicht über die Ufer treten | |
könnte. In den Plänen der Stadtverwaltung gilt das Gebiet allerdings als | |
sicher. Sie und andere halten die Einteilung für willkürlich, viele fordern | |
eine Entschädigung für ihr Haus und Terrain. Eine Anfrage an den | |
Katastrophenschutz dazu blieb unbeantwortet. | |
Dabei blieben Staat und Stadt nicht untätig. In den Tagen nach der | |
Katastrophe besuchten Bürgermeister, Gouverneur und sogar [4][Präsident | |
Lula da Silva] den Ort des Unglücks. Über eine Million Euro flossen von | |
Staat und Land an die Stadt, um die betroffenen Gebiete wiederaufzubauen, | |
dazu kamen fast sechs Millionen Euro an Geldspenden. Die Stadtverwaltung | |
brachte viele Familien in provisorischen Wohnungen im Nachbarort unter, | |
bezahlte mit Spendengeldern die Unterkünfte für Familien in Pensionen. | |
Und sie plant über 700 Wohnungen für die Familien in den unbefestigten | |
Gebieten, schon in wenigen Wochen sollen sie fertig sein. Einige der Häuser | |
sind Sozialwohnungen und Teil eines nationalen Projekts von Präsident Lula, | |
der in den nächsten Jahren über zwei Millionen neue Wohnungen in ganz | |
Brasilien bauen will. Der Antrag dafür ging gerade erst durch den | |
Nationalkongress. | |
Doch viele sind alles andere als zufrieden. Nathiele Santos sagt, sie | |
findet es gut, dass der Präsident an den Tagen nach der Katastrophe vor Ort | |
war: „Aber er kam nicht zu uns – er hat den falschen Leuten zugehört.“ | |
Damit meint sie vor allem den Bürgermeister Felipe Augusto – denn der hat | |
gerade bei den Ärmeren nicht viele Freunde. Sie spekulieren, ob er mit den | |
Spendengeldern seine nächste Wahlkampagne finanzieren wird. Die | |
Schlagzeilen zu Augusto häufen sich, zurzeit läuft ein | |
Amtsenthebungsverfahren gegen ihn, weil er Gelder während der | |
Covid19-Pandemie veruntreut haben soll. | |
Und auch hier haben viele das Gefühl: Das Geld wird für die falschen | |
Projekte verwendet. Anstatt deren Wohnungen wiederaufzubauen, mussten | |
einige betroffene Familien umsiedeln. Sie sollen bald nur wenige Meter | |
weiter, in einem der neuen Wohnkomplexe, wohnen. Das Gebiet ist aber noch | |
immer voll von Morast und knöcheltiefem Wasser. Die Stadtverwaltung und die | |
staatliche Wohnungsbauagentur wollten es trockenlegen: Inzwischen werden | |
auf dem noch immer feuchten Boden die ersten Häuserplatten | |
aneinandergesetzt. Mit schmalen Zwischenräumen – viel Platz werden die | |
Familien hier nicht haben. | |
Eine, die das lautstark kritisiert, ist Rosilene de Jesus Santos. Sie wohnt | |
seit 30 Jahren im ärmsten Stadtteil São Sebastiãos, Vila Sahy. „Niemand hat | |
uns gefragt, ob wir unsere Häuser aufgeben wollen und dort gegen Miete mit | |
unseren Familien auf 40 Quadratmetern wohnen wollen“, sagt sie. Der | |
Standort sei ungeeignet, der Fluss direkt neben dem Neubauprojekt werde das | |
Haus bei der nächsten Flut genauso mitreißen. Wie viele der hauptsächlich | |
Schwarzen Bevölkerung aus dem Nordosten Brasiliens kam Santos in die | |
Region, weil es hier Arbeit gab: Ihr Mann war bis zu seinem Tod als Maurer | |
tätig, sie als Köchin. Ihr Haus bauten sie selbstverständlich in die | |
irreguläre Zone, obwohl sie wussten, dass es hier leicht feucht werden | |
kann. Aus Mangel an Alternativen. | |
In Santos’ Stadtteil kann man die Ungleichheit besonders stark sehen: Die | |
Hauptstraße trennt den reichen und den armen Teil des Küstenabschnitts. | |
Links von der Straße die steilen Hänge mit Hütten, rechts die Villen, der | |
Strand. „Ich spreche für unsere Gemeinschaft, wenn ich sage: Langsam | |
glauben wir, dass wir es nur wert sind, auf die andere Seite zum Arbeiten | |
zu gehen. Wir sind es nicht wert, dort zu wohnen.“ | |
Die Köchin nennt das Umweltrassismus. „Denn die meisten reichen und weißen | |
Leute können genauso wohnen wie vorher.“ Auch die Umweltorganisation | |
Greenpeace nutzt dieses Wort, sie fordert von der brasilianischen | |
Regierung, „mit diesem kolonialistischen Erbe“ zu brechen und die schwarze | |
und indigene Bevölkerung vor Ort an den Plänen zu Risikomanagement und | |
Katastrophenschutz zu beteiligen. | |
Die Benachteiligung ist nicht nur am Wohnort sichtbar, sondern auch in der | |
Infrastruktur, im Arbeitsleben, in der Bildung. Rosilene de Jesus Santos | |
hat mit der Flut ihren Job verloren. Das Restaurant, in dem sie als Köchin | |
arbeitete, kann sie nicht weiter beschäftigen: Es fehlt offenbar das Geld, | |
das sonst die Karnevalstouristen gebracht hätten. Denn Februar ist | |
Hochsaison hier an der Küste: Es ist der wärmste Monat, es sind Ferien, und | |
an allen Ecken finden Karnevalspartys statt. Diesmal blieben die Touristen | |
wegen des Regens fern – oder flogen mit ihren Helikoptern davon, als São | |
Sebastião im Chaos versank. | |
Rosilene de Jesus Santos blieb. Wenn sie sich die Bilder der Tragödie | |
wieder vor Augen ruft, versagt ihre Stimme kurz. Sie hat viele Angehörige | |
und Freunde verloren, mit eigenen Augen gesehen, wie sie im Schlamm | |
ertranken. „Als ich mein Haus verließ, strömten die Scharen meiner Nachbarn | |
mit mir Richtung Strand, weg von den Erdrutschen. Und in den Gesichtern sah | |
ich überall den gleichen Ausdruck: Verzweiflung, und Unwissenheit darüber, | |
wie es jetzt weitergehen soll“, erinnert sie sich. | |
Rund 70 Dorfbewohner, darunter auch die Köchin, halfen sich selbst. Sie | |
sammelten sich im Kinderhort, die Mutter von drei Kindern kochte zehn Tage | |
für die anderen mit Resten und Spenden. Denn auch die Versorgungswege, | |
unter anderem die Straße nach São Paulo, waren durch den Schlamm | |
verschüttet und gesperrt. Die Bewohner organisierten Suchtrupps, sammelten | |
Essen, versorgten Verletzte provisorisch. Auch viele aus den Villenvierteln | |
kamen und halfen, eine Psychologin erklärte sich bereit, stark | |
Traumatisierten zuzuhören. Mit jedem Tag stieg der Frust: vorrangig auf die | |
Stadtverwaltung, die sie nicht vorgewarnt hat. Die seit Jahren ohnmächtig | |
der Urbanisierung, der Immobilienspekulation und den wachsenden Favelas | |
zusieht. Dass dort mehrstöckige Wohnkomplexe errichtet werden, wo jetzt | |
schon niemand wohnen will, sehen die meisten Bewohner kritisch. | |
Marina Ferreira kann den Frust verstehen: Sie findet, es wird zu wenig | |
getan. Und auch sie ist der Meinung, dass Hochhäuser am Strand seltsam | |
aussehen würden und kein würdiges Wohnen für die Betroffenen darstellen. | |
Einige Ideen des Gouverneurs für neue Wohnprojekte findet sie aber gut.Und | |
sie glaubt, dass viele zu kritisch sind mit den Leuten, die helfen wollten. | |
Sie sieht die Schuld nicht bei der Stadtverwaltung, sondern bei der | |
sozialen Ungleichheit. „Die sorgt eben dafür, dass die einfacheren Leute in | |
der Nähe des Hanges wohnen. Weil das das ist, was für sie übrig bleibt.“ | |
Meteorologe Marcelo Seluchi kann sich Hochhäuser im Risikogebiet São | |
Sebastião ebenfalls nicht vorstellen. „Bei diesen Gebieten handelt es sich | |
um unbefestigte Ebenen, die sich von den Bergen gelöst haben und in tiefer | |
gelegene Gebiete abrutschen. Das muss man sich sehr gut überlegen, ob man | |
dorthinein ein Hochhaus bauen kann.“ Auf die Frage der taz, ob es schon ein | |
Umweltgutachten dazu gebe, wollten weder staatliche Wohnungsbauagentur noch | |
Stadtverwaltung Auskunft geben. Letztere teilte allerdings mit, dass sie | |
darauf Wert lege, dass die Häuser aus einem besonders widerstandsfähigen | |
Holz gebaut werden sollen. | |
Als die Familien während der Flut im Kinderhort zusammensaßen, beschlossen | |
sie, sich zu wehren. Rosilene Jesus de Santos ist seitdem gewählte | |
Vertreterin des Dorfbeirats, der „Vereinigung der Betroffenen“. Sie und | |
neun andere vertreten diejenigen, die die Regenfälle am stärksten | |
mitgenommen haben, tragen ihre Kritik, in Form von Bildern ihrer zerstörten | |
Häuser und Schulen, auf Social Media und in die Welt hinaus. Sie wollen | |
mehr Struktur, fordern eine Studie über die Versäumnisse der Verwaltung und | |
die geologische Lage. | |
Zwei Monate nach der Tragödie standen sie vor dem Rathaus und | |
protestierten. Es war auch ein Gesprächsangebot, eine Aufforderung, endlich | |
den Problemen der Leute zuzuhören. Doch die Türen des Rathauses blieben | |
verschlossen, die Stadt reagiere nicht auf jegliche Kontaktversuche, | |
beschweren sich die Aktivist:innen. Auch eine Nachfrage der taz an die | |
Stadtverwaltung blieb unbeantwortet. | |
## „Es ist keine Tragödie, es ist ein Verbrechen“ | |
Trotzdem geben die Betroffenen nicht auf. An einem Tag im Mai, inzwischen | |
ist die Tragödie schon mehr als drei Monate her, versammeln sich Menschen | |
mit bunten Transparenten im Auditorium im Landtag des Staats São Paulo. Auf | |
den Schildern stehen Sprüche wie: „Es ist keine Tragödie, es ist ein | |
Verbrechen.“ Die Stimmung ist aufgeheizt. Einmal unterbricht eine Frau eine | |
der Reden. Sie hat zwei Literflaschen mit braunem Brackwasser in der Hand. | |
„Das ist das Wasser, mit dem ich mich duschen soll!“, ruft sie empört. | |
Mehrere Leute nicken zustimmend. | |
Aber es liegt auch Hoffnung in der Luft: Denn vorne am Rednerpult treten | |
nicht nur die Ortsbeirate mit ihren Protestreden auf, sondern es sind auch | |
Abgeordnete verschiedener Parteien des Ausschusses für Wohnungsbau, | |
Entwicklung und Stadtreform des Landtages anwesend, die zuhören und | |
zustimmen. | |
Die Abgeordnete Marine Lou, rosa Anorak, die Haare zu einem lockeren Zopf | |
gebunden, ergreift das Wort: „Ich sehe, dass es da unterschiedliche | |
Ansichten gibt, darüber, was im Februar in São Sebastião passiert ist“, | |
vermittelt sie. „Aber die Bilder und Videos zeigen ein sehr klares Bild: | |
Die Stadtverwaltung setzt die Leute in Risiken und wird ihrer Verantwortung | |
nicht gerecht. Wir werden für mehr Klimagerechtigkeit kämpfen!“ Die | |
Grünen-Politikerin kommt aus der gleichen Partei wie die brasilianische | |
Umweltministerin Marina Silva und will sich dafür einsetzen, dass die | |
Schulen schneller wieder aufgebaut werden, damit kein Remote-Unterricht aus | |
kaputten Häusern stattfinden muss. Und dafür, dass mehr bezahlbarer | |
sozialer Wohnraum für die Leute aus den Risikozonen geschaffen wird. Auch | |
eingeladen, aber nicht erschienen zu dem Event sind Vertreter der | |
Stadtverwaltung und der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft, die für den | |
Bau der 700 Wohnungen verantwortlich sind. | |
Neben dem Wunsch nach mehr Maßnahmen dringt hier vor allem eines durch: der | |
Ruf nach mehr Demokratie und Transparenz. Es soll nicht nur geholfen | |
werden, endlich gegen die Folgen der Flutkatastrophe zu kämpfen, sondern es | |
soll sich mit den Ursachen auseinandergesetzt werden. Die Parlamentarier | |
wollen einen Antrag auf eine öffentliche Anhörung und einen | |
Untersuchungsbericht stellen, um mehr Klarheit über die Wohnsituation und | |
die Wasserqualität vor Ort zu bekommen. So will man sich besser auf die | |
nächste Krise vorbereiten. | |
Ob ihre oppositionellen Forderungen von der Landesregierung angehört | |
werden, ist jedoch fraglich. Ein weiteres Wohnungsprojekt des Gouverneurs | |
Tarcísio de Freitas, der von einigen schon als neuer konservativer | |
Präsidentschaftskandidat gehandelt wird, steht gerade zur Abstimmung, auch | |
hier werden die kritischen Stimmen bisher nicht angehört. Doch auch die | |
Leute aus Vila Sahy werden nicht leise bleiben: Sie wollen eine Doku | |
drehen, von ihren Erfahrungen erzählen und weitere Aktionen planen, um auf | |
ihre Situation aufmerksam zu machen. | |
Rosilene de Jesus Santos hält keine Rede, aber sie sitzt im Publikum und | |
hört zu und nickt manchmal. Aus ihrer Stimme ist nicht mehr nur | |
Verzweiflung herauszuhören, sondern auch Hoffnung, als sie sagt: „Weißt du, | |
wir sind echt stark, wir überleben, indem wir uns gegenseitig helfen, weil | |
wir eine Gemeinschaft sind. Wir halten uns gegenseitig auf den Beinen.“ | |
1 Jul 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Ueberschwemmungen-und-Erdrutsche/!5916991 | |
[2] http://www2.cemaden.gov.br/ | |
[3] /Menschenrechte-und-Waldschutz/!5938204 | |
[4] /Amtseinfuehrung-von-Lula-da-Silva/!5905946 | |
## AUTOREN | |
Isabel Knippel | |
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