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# taz.de -- EU-Abgeordneter über Asylrecht: „Ich will eine bessere Asylpolit…
> Der Grüne Erik Marquardt kämpft für eine humane Asylpolitik. Ein Gespräch
> über die drohende Verschärfung des Asylrechts und grüne Kompromisse.
Bild: Protest gegen die europäische Asylrechtsreform Anfang Juni vor dem Bunde…
Erik Marquardt ist müde. Er habe in den vergangenen Wochen wenig
geschlafen, sagt er am Telefon. Marquardt sitzt für die Grünen im
Europaparlament, seine Schwerpunkte sind Flucht, Migration und
Menschenrechte, er war selbst als Seenotretter aktiv. Den Beschluss zur
europäischen Asylpolitik, den SPD-Innenministerin Nancy Faeser als
„historisch“ bezeichnet und die grüne Außenministerin Annalena Baerbock m…
abgesegnet hat, hält er für „einen Fehler“: „Es gab einen Durchmarsch
rechter Positionen“, schrieb er auf [1][Twitter] und kritisierte die
Vereinbarung scharf. Marquardt hofft, dass die Asylrechtsverschärfung noch
im weiteren Prozess verhindert werden kann. Trotzdem hat er auf dem kleinen
Parteitag der Grünen, dem Länderrat, einen Kompromiss mitgetragen, der die
Asylrechtsverschärfung zwar kritisiert, aber die grünen Minister nicht auf
eine Ablehnung festlegt.
wochentaz: Herr Marquardt, Sie halten die Zustimmung der Bundesregierung
zur [2][Einigung beim gemeinsamen europäischen Asylrecht, kurz GEAS], für
einen Fehler. Aber [3][als es beim kleinen Parteitag der Grünen, dem
Länderrat, um Konsequenzen ging], haben Sie einem wachsweichen Papier
zugestimmt. Was ist passiert?
Erik Marquardt: Es ging auf dem Länderrat nicht darum, Personen nach
Canossa zu schicken. Sondern zu schauen, wie wir verhindern können, dass
die EU sich auf eine Reform einigt, die noch mehr Chaos und Leid erzeugt.
Ich würde deswegen nicht sagen, dass dieses Papier wachsweich ist.
Sondern?
Es gibt keine Aufweichung der grünen Positionierung. Wir haben
festgehalten, dass wir die Asylrechtsverschärfungen falsch finden und dass
wir als Grüne bei dieser Reform statt verpflichtender Grenzverfahren mehr
Verbindlichkeit bei einer fairen Verteilung wollen. Einige öffentlich sehr
unterbeleuchtete Punkte haben wir kritisch benannt, zum Beispiel, dass
nicht nur Menschen mit geringen Anerkennungsquoten in Grenzverfahren kommen
können. Sichere Drittstaatskonzepte sollen ja massiv ausgeweitet werden,
das kann dazu führen, dass ein Großteil der Schutzsuchenden kaum noch
Zugang zu Schutz in Europa hat. Man würde die Asylanträge nicht mehr
inhaltlich prüfen, sondern als unzulässig ablehnen, weil die Menschen über
einen sicheren Drittstaat nach Europa gekommen sind. Das trifft dann auch
Menschen aus Syrien oder Afghanistan – unabhängig von der
Anerkennungsquote. In der öffentlichen Diskussion wurde so getan, als würde
sie das gar nicht treffen. Sie wären aber die Hauptbetroffenen.
Die Position der Partei hat die grüne Spitze nicht davon abgehalten, der
Einigung auf EU-Ebene zuzustimmen. Und der Beschluss des Länderrats zieht
keine roten Linien für die nächste Abstimmung ein. Wenn Sie die
Asylrechtsverschärfung verhindern wollen, hätte es dann nicht roter Linien
bedurft?
Wir haben sehr lange um diesen Text gerungen und ja, es stimmt: Eine
Checkliste oder ähnliches gibt es nicht. Das ist vielleicht schwer
nachvollziehbar, aber die Voraussetzung für richtige Entscheidungen ist
auch, dass wir zum Beispiel stärker hinterfragen, warum die Postfaschistin
Meloni dem Kompromiss zugestimmt hat – und nicht so sehr, welche drei
Punkte wir auf jeden Fall ändern wollen. Mit roten Linien hätten wir
denjenigen einen Gefallen getan, die sagen wollten, dass die Führung
Rückhalt verloren hat und dass die Grünen naiv sind und sich pragmatischen
Lösungen verweigern. Aber die Reform, die der Rat will, macht nichts
besser, sondern verschlimmert die Lage, das ist auch einhellige Meinung in
der Migrationswissenschaft. Mir war wichtig, dass wir über diese Inhalte
reden und nicht über Personen.
Annalena Baerbock hat in ihrer Rede die Einigung verteidigt und gesagt,
dass es aus ihrer Sicht mehr Argumente dafür als dagegen gibt – 51 zu 49
Prozent. Warum sollte das bei der nächsten Abstimmung anders sein?
Das Thema ist für die Partei identitär. Die Hälfte der Mitglieder ist seit
2016 beigetreten, viele von ihnen, weil sie für eine funktionierende,
humane Asylpolitik kämpfen. Das Vertrauen in die Führung ist weiterhin da,
obwohl es Kritik an der Entscheidung gibt. Aber viele erwarten jetzt, dass
in Zukunft bessere Entscheidungen getroffen werden. Und bei der
EU-Asylreform müssen noch viele Entscheidungen getroffen werden.
Viele, die sich für eine menschenwürdige Asyl- und Geflüchtetenpolitik
einsetzen, sind entsetzt. Ihre Deutung: Die Grünen legalisieren Lager an
den Außengrenzen und unterstützen eine Ausweitung des Drittstaatensystems.
Pro Asyl hat beim Länderrat vor der Tür demonstriert. Viele dieser
Aktivist*innen haben große Hoffnungen in Politiker wie Sie gesetzt.
„Ich habe an diesen Mann geglaubt. Seht euch das an“, hat die
Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız mit einem Verweis auf Ihre Rede auf dem
Länderrat getwittert. Und jemand von der Seenotrettung schreibt: „Ihr habt
die Menschen verraten.“ Was sagen Sie dazu?
Ich verstehe das Bedürfnis, uns zu kritisieren. Meine Rede war aber an
diejenigen in der Partei und außerhalb gerichtet, die uns dafür kritisiert
haben, dass wir die Entscheidung und die Argumente dafür hinterfragen. Dass
ich die Entscheidung ablehne, wusste jeder im Raum. Wenn man Entscheidungen
kritisiert, gibt es den Reflex, nicht nach den inhaltlichen Argumenten zu
fragen, sondern darauf zu verweisen, dass man Regierungsentscheidungen
nicht öffentlich zu kritisieren hat. Ich habe gesagt, dass wir den Mut zum
Zweifel brauchen. Ich meinte nicht den Mut, die Menschenrechte
anzuzweifeln, sondern solche Entscheidungen.
Für viele wirkten Sie so, als habe die Grünen-Spitze Sie auf Linie
gebracht.
Und andere sehen es so, dass wir die Befürworter der Entscheidung überzeugt
haben.
Auf die bin ich noch nicht getroffen. In Ihren ersten Tweets nach der
Ratsentscheidung hörten Sie sich nicht so kompromissbereit an. Da haben Sie
sogar geschrieben, dass Sie über persönliche Konsequenzen nachdenken.
Wir werden sehen, wer Recht hat. Bei dem Tweet ging es nicht darum, ob ich
von meinen Posten zurücktrete oder aus der Partei austrete – ich mein’, wo
soll ich denn hin? Ich will eine bessere Asylpolitik, die bekomme ich ja
nicht, wenn ich mich mit einem Aperol in den Garten setze. Wir müssen
geschlossen und auch über Parteigrenzen hinweg weiter kämpfen. Natürlich
habe ich sehr damit gerungen, wie ich mich auf dem Länderrat verhalte. Aber
zu behaupten, Annalena Baerbock ist doof – das ist nicht meine Meinung und
das führt ja nicht dazu, dass wir das Leid an den Außengrenzen beenden.
Aber die Debatte ist doch nicht, ob Annalena Baerbock doof ist. Die Kritik
von denen, die eigentlich Ihre Verbündeten sind, ist, dass die Grünen die
Menschenrechte von Geflüchteten verraten.
Ja, wir haben in dieser Debatte viel Glaubwürdigkeit verloren. Viele
Menschen, die sich für Geflüchtetenrechte einsetzen und vor Ort engagieren,
haben das Gefühl, dass sie keine politische Heimat mehr haben. Das ist ein
politischer Schaden, den man nur schwer wiedergutmachen kann. Aber das ist
jetzt unsere Aufgabe.
Was heißt das für Sie, dass Sie mitmachen?
Ich mache nicht mit. Ich kämpfe gegen diese Verschärfungen. Aber natürlich
wäre es für mich einfacher, wenn ich bei einer NGO mit der Dampfwalze sagen
könnte, wie schlimm die Grünen sind. Aber ich habe auch Verantwortung
dafür, wie die Grünen sind. Was nützen Minderheitenrechte, wenn wir sie am
Ende nicht gegen die Mehrheit verteidigen können? Wir müssen um diese
Mehrheiten kämpfen. Und das schaffen wir nicht mit einer entzweiten Partei.
Und deshalb winken Sie letztlich etwas durch, was gegen Ihre Überzeugung
ist?
Der Beschluss des Länderrats ist nicht gegen meine Überzeugung.
Niemand geht davon aus, dass am Ende des Trilogverfahrens, also der
weiteren Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und Parlament, eine
grundsätzlich bessere Lösung steht.
Wenn das das Ergebnis ist, muss man es ablehnen. Die Positionen von Rat und
EU-Parlament unterscheiden sich aber stark. Außerdem wird die spanische
Ratspräsidentschaft im nächsten halben Jahr gelähmt sein durch die
Neuwahlen. Dann folgen schon fast Ungarn und Polen. Wahrscheinlich gibt es
keine Einigung vor der nächsten Bundestagswahl. Wenn man es ernst meint mit
Verbesserungen, ist ohnehin die einzige Chance, das Gesamtpaket
aufzuschnüren und kleine, sinnvolle Schritte zu gehen, statt diesen
Großangriff auf das Asylrecht nur etwas weniger schlimm zu machen.
Haben Sie sich in den vergangenen Wochen manchmal gewünscht, dass die
Grünen nicht in der Regierung wären? Dann wäre Pro Asyl an Ihrer Seite und
nicht als Demo vor der Tür.
Na klar ist es leichter, nicht zu regieren und mit sich im Reinen zu sein.
Aber wir machen ja Politik, um was zu verändern. Es gibt so viele Ideen,
wie eine bessere Asylpolitik möglich wäre. Aber in dieser aufgeheizten
Debatte gibt es gar keinen Raum mehr, darüber zu diskutieren. Irgendwelche
populistischen Scheinlösungen werden als pragmatisch verkauft, obwohl sie
seit Jahren umgesetzt werden und scheitern. Ich wünsche mir nicht, dass wir
nicht in der Regierung sind. Sondern, dass wir dieses Thema stärker
priorisieren und gemeinsam mit dem Spitzenpersonal mehr Menschen
überzeugen. Diese Überzeugungsarbeit ist in den letzten Jahren zu kurz
gekommen, weil wir Angst vor dem Thema Asylpolitik hatten. Das müssen wir
abschütteln, wenn wir den Rechten nicht das Thema überlassen wollen.
23 Jun 2023
## LINKS
[1] https://twitter.com/ErikMarquardt?s=20
[2] /Zaehes-Ringen-um-neues-Asyl-System/!5939573
[3] /Einigung-der-EU-Innenminister/!5939569
## AUTOREN
Sabine am Orde
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