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# taz.de -- Die Entwicklung der Grünen: Das eingehegte Denken
> Eine globale Ethik der Gerechtigkeit hat bei den Grünen keine Heimat
> mehr. Notwendig ist eine politisch-philosophische Gegenkultur.
Bild: Grenzzaun am Evros zwischen der Türkei und Griechenland: Was ist Sicherh…
Was ist Gewalt – und für wen? Was ist Sicherheit – und vor wem? Antworten
darauf sind für ein emanzipatorisches Denken essenziell. Und an den
Antworten scheiden sich Weltentwürfe.
Es gibt Gründe, darüber gerade in diesen Tagen zu schreiben. Denn mir ist,
als befände ich mich in einem sich ständig verkleinernden Raum. Die Wände
rücken auf mich zu. Ich weiß, ich bin falsch in diesem Raum, es ist ein
falscher Ort, aber ich scheine dort hineinzugehören, so sieht das Script es
vor. Ich bin unentrinnbar Teil eines sich verengenden, verhärtenden,
aufrüstenden Europas, und meine Hilflosigkeit schützt nicht davor,
mitschuldig zu werden. Denn für das Kind in einem Grenzgefängnis ist mein
Widerwille bedeutungslos.
„Nicht in meinem Namen!“, zu rufen, hätte nur Berechtigung, wenn es eine
geistige, eine politisch-philosophische Gegenkultur gäbe, die sich der
aufgezwungenen Versicherheitlichung unseres Lebens widersetzt. Doch scheint
das Gespür für die ethische Unerträglichkeit bestimmter Verhältnisse
verloren gegangen zu sein und damit die Voraussetzung, über diese
Verhältnisse hinaus zu denken.
Die Entwicklung, welche die Grünen genommen haben (und lange zuvor die
Sozialdemokratie), hat zur Folge, dass radikal fortschrittliche Politik in
essentiellen Fragen keine organisierte Stimme mehr hat. Kompromissloser
Schutz von Menschenrechten, eine universalistische Ethik der Gerechtigkeit
und die Überzeugung: „Eine andere Welt ist möglich“, haben bei den Grünen
keine Heimat mehr.
## Wo bleibt die Rebellion auf der Straße?
Dieser Zustand verlangt nach einer ungebärdigen außerparlamentarischen
Opposition, gerade zu den Anliegen einer globalen Ethik, wozu Klimaschutz
ebenso wie der [1][Schutz Geflüchteter] gehören. Das grüne Führungspersonal
scheint gar nicht mehr zu begreifen, dass es andere Auffassungen dessen
gibt, was politisch ist, etwa bei der Letzten Generation: Stören wollen,
provozieren, irritieren, den kapitalistischen Lebensalltag unterbrechen.
Dabei lehrt alle Erfahrung, wie der politische Betrieb von außen her zu
beeinflussen ist; der Aufstieg der Grünen wäre anders gar nicht
vorstellbar. Heute sind sie indes eine Kraft der Disziplinierung, der
Einhegung geworden, der Betäubung und Verbravung des Denkens. Während sich
andere verzweifelt ans Pflaster kleben, sind die Grünen mit den
herrschenden Verhältnissen verleimt. In der Ampelregierung hat sich diese
politische Degeneration in ungeahnter Weise beschleunigt.
Gerade zu einer Zeit, wo radikales Andersdenken und -handeln so nötig ist,
wird Radikalität nun [2][bekämpft, diffamiert, inhaftiert.] Jüngst sprachen
territoriale Demonstrationsverbote in mehreren Städten trotz ganz
verschiedener Anlässe eine gemeinsame Sprache: Ganze Gruppen der
Bevölkerung werden pauschal der Neigung zu Gewalttätigkeit bezichtigt,
weswegen ihre Grundrechte außer Kraft gesetzt werden können.
Die [3][Präventivhaft, die mittlerweile gegen Klimaschützer angewandt
wird,] damit sie sich einem geplanten Protest gar nicht erst nähern können,
ist die kleine Schwester der präventiven Internierung von
Asylbewerber:innen an den EU-Grenzen. Die Politik der
Versicherheitlichung setzt Grundrechte außer Kraft, die Allgemeinheit nimmt
daran keinen Anstoß, und bestimmte Medien hetzen zuverlässig gegen jene,
denen die Rechte genommen werden.
## Die Grünen stehen auf der falschen Seite
Der [4][Polizeikessel jüngst in Leipzig] erinnerte mich an den ersten
bundesdeutschen Kessel dieser Art; Hamburg 1986. Danach protestierten
50.000 Menschen gegen die Polizeigewalt; ein Gericht erklärte den Kessel
später für rechtswidrig. 37 Jahre ist das her. Die Grünen waren damals ein
verlässliches Element in einem Milieu, das einen Begriff von Solidarität,
Bürgerrechten und Widerstand hatte. Heute stehen sie häufig eher auf der
anderen Seite.
Wie sich die Definitionen von Gewalt und Sicherheit sukzessive verschieben,
das markiert durchaus den Geländegewinn rechter Gesellschaftskonzepte – und
wenn sie nun gegendert daherkommt, ändert das nicht ihren Charakter.
Während die [5][Angriffe gegen Geflüchteten-Unterkünfte steigen,] denkt
sich die Bundesinnenministerin ein Verbot von Küchenmessern in Bussen und
Bahnen aus, mit „stichpunktartigen Kontrollen“ – mit anderen Worten:
Racial Profiling. Die „Messermänner“ von Alice Weidel sind in der
Sozialdemokratie angekommen, so wie Seehofers Grenzgefängnisse nun grün
angestrichen Wirklichkeit werden.
All dies sind nicht allein deutsche Phänomene; doch hat die Hinnahme von
Jahrzehnten neoliberaler Politik hier auf breiter Ebene eine Lähmung
links-oppositionellen Handelns bewirkt. Es geht anders, wie ein Blick nach
Frankreich beweist, wo Militanz bis weit hinein in die Gewerkschaften
legitim ist.
Frankreich zeigt aber ebenso: Bei der Unterdrückung einer derart
entschlossenen Opposition verwischt heute die Grenze zwischen
demokratischen und autoritären Staaten. Gummigeschosse sind dort zur
Standardbewaffnung geworden. Sie werden jederzeit eingesetzt, trotz
schwerster Verletzungen bei den Opfern, früher gegen die Gelbwesten,
mittlerweile gegen die Renten-Proteste. Der Umstand, dass 70 Prozent der
Franzosen die sogenannte Reform ablehnen, ist für die Wahl der Mittel
unerheblich. Kaum anders als in autoritären Staaten gilt hier die Devise:
„der Straße widerstehen“. Und zwar [6][mit einer Härte], für die sich der
Begriff „Politik der Verachtung“ eingebürgert hat.
Sicherheit für wen, Gewalt gegen wen? Verstörend, nicht ergründet das
Ausmaß europäischer Gewaltgläubigkeit im Ukrainekrieg. Kaum dass öffentlich
noch ein Leiden spürbar wäre an der Logik eines sogenannten
Abnutzungskriegs, auf Jahre prognostiziert. Vielleicht leiden viele allein,
in einem sich verengenden Raum.
28 Jun 2023
## LINKS
[1] /Bootskatastrophe-auf-Fluchtroute/!5941300
[2] /Union-will-Haerte-gegen-Letzte-Generation/!5935268
[3] /Klimaproteste-in-Berlin/!5935121
[4] /Kritik-an-Polizeieinsatz-in-Leipzig/!5936024
[5] /Vermehrte-Angriffe-auf-Fluechtende/!5937736
[6] /Rentenreform-in-Frankreich/!5936361
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
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