| # taz.de -- AfD in Thüringen: Die rassistische Revolution | |
| > Aus Angst vor einer Landnahme der AfD erzählen sich Demokraten Märchen | |
| > über die rechtsextreme Partei und ihre Wählerschaft. Das ist | |
| > gefährlich. | |
| Bild: Björn Höcke (l) und Tino Chrupalla, AfD-Bundesvorsitzender (r), gratuli… | |
| Die AfD stellt wahrscheinlich bald [1][ihren ersten Landrat in | |
| Deutschland.] Jedenfalls dann, wenn Robert Sesselmann den Demokratiecheck | |
| der Thüringer Landesverwaltung übersteht. 14.993 Menschen haben ihn am | |
| vergangenen Sonntag gewählt, für den CDU-Kandidaten stimmten in der | |
| Stichwahl 13.420 Wähler:innen. | |
| In Reaktion auf die nach der Wahl oft geäußerte Angst vor einer | |
| fortschreitenden rechtsextremen Landnahme in Ostdeutschland versuchten sich | |
| Menschen aus dem politisch liberalen demokratischen Spektrum im | |
| Relativieren dieser Angst. Diese Relativierungen werden nach so gut wie | |
| jedem Wahlsieg der AfD in klassischen und sozialen Medien verbreitet. Sie | |
| kommen als Äußerung der Vernunft und des Pragmatismus daher, vernebeln aber | |
| einen kühlen Blick auf das, was in Thüringen und in anderen Gegenden | |
| Ostdeutschlands tatsächlich geschieht. | |
| Da wäre als erste Relativierung die Behauptung, Ostdeutsche wählten die | |
| AfD, weil niemand ihnen zuhört. Dieses „Zuhören“ ist eine so unscharfe | |
| Projektion, dass jede:r sich alles Mögliche darunter vorstellen kann. Und | |
| sie verdeckt, dass die AfD in Ostdeutschland eine sehr klare Vorstellung | |
| von diesem Zuhören hat. Sie nimmt die in Ostdeutschland weit verbreiteten | |
| [2][Ressentiments gegen den „Westen]“ auf und versucht sie in ihrem Sinn zu | |
| einer Waffe zu machen. | |
| Dass der „Westen“ die hauptsächliche Quelle von Ungerechtigkeit gegen | |
| Ostdeutsche sei, ist eine in Ostdeutschland weit verbreitete Überzeugung. | |
| Alle, denen das nicht klar ist, hat der Verkaufserfolg von Dirk Oschmanns | |
| Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ wahrscheinlich überrascht. | |
| Die AfD nimmt diese Überzeugungen auf und mengt ihnen rassistische und | |
| chauvinistische Elemente bei. Bei ihr wird der „Westen“ zu einem | |
| migrantisierten, verweiblichten und dekadenten politischen Raum, in dem das | |
| eigentliche Volk, also deutsche Weiße, kein Gehör mehr findet. Bei der | |
| Propaganda von der „Umvolkung“ fungiert der „Westen“ als Dystopie, in d… | |
| dieser „Bevölkerungsaustausch“ bereits gelungen ist. Die AfD propagiert die | |
| Idee einer weißen Avantgarde in Ostdeutschland, die (noch) nicht so | |
| verweiblicht, verweichlicht und migrantisiert sei. Mit Slogans wie | |
| „Vollende die Wende“ beschwört sie die Idee eines zweiten rassistischen | |
| 1989, einer Revolution, die das bestehende politische System überwinden | |
| soll. | |
| ## Weiße ostdeutsche Männer | |
| Dass diese Revolutionsidee stark auf weiße ostdeutsche Männer zielt, | |
| schwingt oft in Witzen und Halbsätzen mit, zeigt sich unter anderem beim | |
| Personal, wird aber auch in schlichter Deutlichkeit geäußert. Die | |
| Parteitagsrede von Thüringens Parteichef Björn Höcke, in der dieser 2015 | |
| die Wiederentdeckung der Männlichkeit beschwor, wurde sogar ein bisschen | |
| berühmt. Vergangene Woche machte ein Video von Maximilian Krah die Runde, | |
| einem in Sachsen aufgewachsene Europaabgeordneten der AfD. Er rät jungen | |
| Männern ohne Freundin, nicht „links“, „lieb“ und „schwach“ zu sein… | |
| [3][„Echte Männer sind rechts.“] | |
| Man kann das als Clownerie abtun, aber auch nur dann, wenn man vergisst, | |
| dass faschistische Bewegungen das Clownshafte immer in sich tragen. Die | |
| Idee der AfD von Ostdeutschland ist klar die eines Raums, in dem weiße | |
| Ostdeutsche, vor allem Männer, endlich das kriegen, was ihnen angeblich | |
| zusteht. Die AfD ist, wie jede faschistische Inkarnation, Anbieter eines | |
| Profitgeschäfts für Weiße, vor allem Männer. | |
| Eine weitere dieser nach Wahlen geäußerten vermeintlich vernünftigen | |
| Projektionen ist: Nicht alle Wähler:innen der AfD sind echte | |
| Rechtsextreme. Woher kommt die Vorstellung, alle müssten „richtige“ Nazis | |
| sein für eine rechtsextreme Hegemonie? Selbst bei Aufstieg und Herrschaft | |
| des Nationalsozialismus war der Kern der „echten Nazis“ vergleichsweise | |
| klein. | |
| Die Mitgliederzahl der NSDAP ist nur ein Indiz, denn in „der Partei“ waren | |
| schon zahlreiche Mitläufer:innen wie mein Urgroßvater, der ein Haus | |
| bauen und einen speziellen Kredit abgreifen wollte. Sie hatte 1945 um die | |
| 8,5 Millionen Mitglieder – bei knapp 79 Millionen Einwohner:innen, | |
| gezählt 1938. Die größte Gruppe sind in rechtsextrem bestimmten politischen | |
| Räumen immer die Mitläufer, die eine mehr oder minder präzise Vorstellung | |
| davon haben, was der Kern will, dessen Agieren insgesamt aber für richtig | |
| halten und/oder denken, dass auch sie davon profitieren. | |
| ## Ostdeutsches Langzeitbewußtsein | |
| Die dritte große Vernunftsprojektion ist die Erwartung, AfD-Wähler:innen | |
| würden recht bald enttäuscht werden, weil ein Landrat, ein Parlamentarier, | |
| ein Diesunddasfunktionär sich an bestimmte Vorgaben halten, endlich | |
| Verantwortung übernehmen müsse et cetera. | |
| Das kann stimmen, besonders bei den Mitläufer:innen, die schnellen Profit | |
| von ihrer Wahlentscheidung erwarten. Aber es gibt gerade in Ostdeutschland, | |
| begründet durch die Erfahrungen bei der Überwindung der DDR, ein | |
| Bewusstsein dafür, dass es Jahre dauern kann, ein politisches System zu | |
| stürzen. Viele AfD-Wähler:innen haben eine – zumindest gefühlte – | |
| langfristige Perspektive. Dass es eben dauern kann, bis sich „wirklich | |
| etwas ändert“. | |
| Ein Landrat in Thüringen hat tatsächlich nur begrenzte Möglichkeiten, | |
| AfD-Positionen zu vertreten. Aber ein erster Schritt in Richtung | |
| Machtübernahme ist er eben auch. Und er kann alles, was er nicht tun kann, | |
| auf „die da oben“ und „das System“ schieben. | |
| 1 Jul 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Schulz | |
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