# taz.de -- Literatursoziologin über das Schreiben: „Eine hoch soziale Täti… | |
> Wer warum Autor:in wird und warum nicht mal Carl Spitzwegs „Armer Poet“ | |
> ganz alleine dichtet: Die Soziologin Carolin Amlinger über das Schreiben. | |
Bild: Auch seine Dachkammer ist Teil des gesellschaftlichen Hauses: „Der arme… | |
taz: Frau Amlinger, haben sie immer gewusst, dass sie schreiben wollen – | |
oder es zumindest mal tun würden? | |
Carolin Amlinger: Die Autor:innen, mit denen ich gesprochen habe, waren | |
sich tatsächlich immer darüber im Klaren, dass sie schreiben wollen und | |
schreiben werden. Bei mir, glaube ich, war das etwas kontingenter: Ich habe | |
schon immer viel Gegenwartsliteratur gelesen hat und ich habe mich als | |
Soziologin schon früh dafür interessiert, was „under the cover“ passiert, | |
hinter dem Buchrücken. Literatur war für mich nie nur eine ästhetische | |
Eigenwelt, sondern gleichzeitig ein soziales Universum, das [1][nach | |
eigenen Gesetzen] funktioniert. Aber zum Schreiben fühlte ich mich nicht | |
unbedingt wie viele Autor:innen berufen, sondern mein Beruf brachte mich | |
– ganz pragmatisch – zum Schreiben. | |
Ich frage, weil die etwaige Berufenheit Schreibender so prominent und so | |
weit vorne in Ihrem Buch auftritt – was den Verdacht nährt: Das wird wohl | |
über den geschilderten Einzelfall hinaus Gültigkeit haben. | |
Das hat sich tatsächlich durch nahezu alle Gespräche gezogen: Sätze wie | |
„Ich muss schreiben“ oder „ich kann nicht anders als schreiben“ sind mir | |
immer wieder begegnet. Also etwas, das dem nüchternen Erwerbssinn eines | |
Berufes auf den ersten Blick entgegensteht. Schreiben ist für | |
Autor:innen immer noch eine leidenschaftliche Hingabe an die Tätigkeit, | |
auch gegen äußere Hindernisse. Vermutlich gerade weil es schwer ist, vom | |
Schreiben zu leben. | |
Zu den verbreitetsten Bildern vom Schreiben – oder den Schreibenden – | |
dürfte das Alleinsein zählen: als Eigenschaft, vielleicht sogar Bedingung | |
dafür, schreiben können. Ich las, dass Carl Spitzwegs Bild (bzw. Bilder) | |
„Der arme Poet“ seit Beginn des 21. Jahrhunderts in Umfragen immer wieder | |
[2][das beliebteste oder eines der beliebtesten Bilder] der Deutschen ist. | |
Sich diesem von solchen Mythen und solcher Heroik umrankten Phänomen | |
soziologisch anzunähern, ausgerechnet: Das kann doch gar nicht ergiebig | |
sein. Oder gerade doch? | |
[3][Der soziologische Blick] kann gerade die Illusion von Autonomie | |
entlarven. Selbst der Poet Spitzwegs ist nur auf dem Gemälde isoliert von | |
der Gesellschaft. In seiner Dachkammer bewohnt er das gesellschaftliche | |
Haus, wenn auch ein randständiges Zimmer. Sein literarisches Werk gilt nur, | |
indem es anerkannt wird durch legitimierte Institutionen wie beispielsweise | |
Literaturpreise oder auch Verlage, die das Werk veröffentlichen. Das heißt: | |
Was uns als autonom erscheint, ist eigentlich eine hoch soziale Tätigkeit. | |
Die Rolle des Verlags hat sich ja in kurzer Zeit stark verändert, es ist | |
heute leichter denn je, selbst (s)ein Buch herauszubringen. | |
Es ist ein wenig widersprüchlicher. Auf der einen Seite können wir heute | |
theoretisch alle Autor:innen sein, indem wir unser Buch selbst | |
veröffentlichen. Auf der anderen Seite nimmt parallel aber auch die | |
Professionalisierung zu. Wir können etwa literarisches Schreiben studieren, | |
und viele tun dies auch. Das Perfide ist allerdings, dass gerade die | |
Verberuflichung suggeriert, Schreiben sei ein Beruf wie jeder andere – aber | |
das ist es nicht. | |
Inwiefern? | |
Schreiben ermöglicht in einem klassischen berufssoziologischen Sinn keinen | |
langfristigen Erwerb. Die Autor:innen, mit denen ich gesprochen habe, | |
können nicht oder kaum von ihren Honoraren leben. Preise und | |
Auszeichnungen, Formen öffentlicher Förderung also, die die volatilen | |
Marktdynamiken abfedern soll, werden als kontingent und potenziell auch als | |
ungerecht wahrgenommen. Also, wir haben auf der einen Seite die | |
Entwicklung, dass theoretisch alle schreiben können, aber de facto können | |
nur wenige davon ihren Lebensunterhalt bestreiten. | |
Und nun tritt auch noch [4][Künstliche Intelligenz] hinzu mit dem | |
Versprechen, kalkulierbare Markterfolge liefern zu können. Hat das bei den | |
von Ihnen Befragten eine Rolle gespielt, oder sahen die ihre Konkurrenz | |
eher noch woanders? | |
Damals, also vor über fünf Jahren, wurde die Konkurrenz noch stärker bei | |
Selfpublishern verortet. Mir sind teilweise alte Stereotype wieder | |
begegnet, die von männlichen Schriftstellern bereits im 19. Jahrhundert | |
geäußert wurden, wie der Vorwurf des geschäftsschädigenden Dilettantismus | |
von „schreibenden Hausfrauen“. Ihren Werken wurde Literarizität | |
abgesprochen, und alte, verstaubte, geradezu ständische Modelle von | |
Autorschaft schimmerten manchmal zwischen den Zeilen durch. Viele | |
Autor:innen, mit denen ich gesprochen habe, waren gegenüber digitalisiertem | |
Schreiben eher skeptisch eingestellt. | |
Warum genau? | |
Weil sie – durchaus zu Recht – Sorge hatten um ihr Berufsmodell von freier | |
Autorschaft, das gebunden ist an Werkherrschaft, also an das geistige | |
Eigentum. Da drohen durchaus berufliche Standards unterminiert zu werden. | |
Ich habe aber den Eindruck, dass ein Großteil der Autor:innen einen | |
durchaus [5][pragmatischen Umgang mit KI] hat: Sie wird als Werkzeug | |
benutzt, das die eigene Kreativität befördert. Das Spannende ist doch eher, | |
ob wir, die Leser:innen, einen autorlosen Text lesen würden. Oder brauchen | |
wir Autorschaft als eine notwendige Fiktion, die zur Literatur gehört? | |
Ich glaube, ich kenne niemanden, der nicht in den Laden geht und fragt nach | |
dem … bei Ihnen ist das Beispiel [6][„der neue Kehlmann“]. Das wäre also | |
ein interessantes Experiment: Ein Verlag bringt Texte, von denen er | |
überzeugt ist, unter Geheimhaltung der Autor:innenschaft auf den Markt | |
– das dürfte eine ziemliche Pleite werden. | |
Das hätte ich auch gedacht. Aber ich habe meine Studierenden gefragt, ob | |
sie einen KI-generierten Text lesen würden. Und zu meiner Verwunderung | |
hatte die Mehrheit damit gar kein Problem – solange ihre Erwartungen an den | |
Text erfüllt werden. | |
Sie haben die Krise erwähnt: Der Buchmarkt – oder besser: auch der | |
Buchmarkt – wird gerne als in der Krise befindlich beschrieben. Ganz vorne | |
steht bei Ihnen der Satz: „Das Ende der Buchkultur ist nicht zu | |
befürchten.“ Kann ihre Forschung, können deren Ergebnisse, kann also | |
[7][Ihr Buch] irgendwem Beruhigung stiften, der zum Beispiel davon lebt, | |
Bücher zu schreiben; oder davon, dass andere sie geschrieben haben? | |
Ich kann insofern beruhigen, als dass die Krisensymptome, mit denen wir | |
heute zu kämpfen haben – die tendenzielle Überproduktion von Titeln oder | |
die Konzentration des Verlagswesens – allesamt zum modernen Buchmarkt | |
dazugehören. Diese Entwicklungen gab es schon immer, und wird es immer | |
wieder geben. Gleichzeitig gibt es aber auch Anlass zur Beunruhigung: | |
Gerade in Zeiten, in denen wir tatsächlich mit einem gesellschaftlichen | |
Bedeutungsverlust des Mediums Buch zu kämpfen haben, ist es | |
wahrscheinlicher, dass die Krisen, die latent im Buchmarkt schlummern, | |
nochmal stärker in Erscheinung treten. | |
28 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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