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# taz.de -- Pride in Georgien: 100 Meter Freiheit
> In Tbilissi wird ab 1. Juli eine Woche Pride gefeiert. Ein Besuch bei den
> Protagonist*innen, zwischen alter Feindschaft und neuen Allianzen.
Bild: Dragperformer*innen Ina (l.) und Koko in Tbilissi
Tbilissi taz | Bei der Ankunft Ende Mai am Tbilissi Pride Office fällt
sofort eine Hakenkreuzschmiererei auf der weißen Eingangstür ins Auge. „Oh,
das muss ganz frisch sein“, sagt Miko Shakhdinarian gelassen, während er
den Schlüssel ins Schloss steckt. Er ist einer der Mitbegründer der
Organisation, die sich für die Rechte der queeren Community in Georgien
einsetzt. „Mal beschmeißen sie unser Büro mit Eiern, mal zeichnen sie
riesige Svastikas auf unsere Türen. Einschüchtern lassen wir uns davon
nicht.“
Mit „die“ meint Shakhdinarian ultrarechte und christlich-orthodoxe Gruppen,
die Mitarbeitende der Organisation seit ihrer Gründung im Jahr 2019 bereits
unzählige Male angegriffen haben. Wie im Juli 2021, während der ersten
Pride Parade, als ein queerfeindlicher Mob die Geschäftsstelle stürmte.
Medienvertreter*innen, die sich zu dem Zeitpunkt im Office befanden, um
über die Ereignisse zu berichten, wurden schwer verletzt. Die große
Prideflagge, die am Balkon des gelben Hauses hängt und laut Shakhdinarian
die einzige sichtbare Regenbogenfahne in ganz Tbilissi sei, setzten sie in
Flammen. Die Polizei sah an jenem Tag tatenlos von der anderen Straßenseite
zu. Die bereits laufende Pride Parade wurde daraufhin abgesagt. Vor Gericht
beschuldigte der Anwalt der Angeklagten später Shakhdinarian, er hätte das
Büro selbst verwüstet. Die Täter kamen anschließend frei. „Nach einer
Attacke erfahren queere Menschen hier oft eine Art zweiten Angriff durch
die Polizei und die Justiz“, erzählt der 27-Jährige.
Auch wenn Georgien Homosexualität im Jahr 2000 entkriminalisiert hat,
belegt das Land 2023 laut dem Spartacus Gay Travel Index Platz 96 der
[1][queerfreundlichsten Länder der Welt.] Deutschland, in dem laut
Queerbeauftragten der Bundesregierung, Sven Lehmann, täglich drei
queerfeindliche Straftaten erfasst werden, liegt auf Platz 9. Umso
wichtiger ist die kleine Vashlovani-Straße für die queere Community, auf
der nicht nur das Tbilissi Pride Office liegt, sondern auch einige der
wenigen offen queeren Bars und Clubs der Stadt. „100 Meter Freiheit“ nennt
die LGBTIQA*+-Community deswegen diese kleine Seitenstraße im Zentrum der
georgischen Hauptstadt.
Nur wenige Meter vom Tbilissi Pride Office entfernt findet an diesem Abend
eine Dragperformance in der „Mimosa Bar“ statt. Davor tummeln sich viele
junge Besucher*innen. Etwas weiter steht eine Gruppe angetrunkener, älterer
Männer, die die Gäste kritisch aus der Entfernung beäugt und anpöbelt,
sobald sie ihren Weg kreuzen.
## „Kern der Show ist der Schmerz“
„Eine Security gibt es hier nicht. Dafür reicht das Geld nicht“, sagt die
Dragperformerin Arkprincess schon an diesem Abend. Die 27-Jährige steht
seit mehr als einem Jahr als Dragqueen auf der Bühne. Für sie ist Drag
politisch. Die Shows mache sie für diejenigen queeren Menschen in der
Gesellschaft, die aus Angst vor Gewalt in der Familie und der Gesellschaft
keine Möglichkeit haben, sichtbar zu werden. Vor ihrem Auftritt läuft „Born
this way“ von Lady Gaga im Hintergrund, die Gäste singen lauthals mit. Als
Arkprincess mit ihrem schwarzen langen Kleid und den kniehohen roten
Plateaustiefeln auf die Bühne tritt, jubelt ihr die Menge zu. Auch wenn
ihre Performance als Cruella-de-Ville-Double für eine ausgelassene Stimmung
beim Publikum sorgt, trügt der Schein, sagt sie: „Auf der Bühne sind wir
vielleicht lustig, weil das zur Show gehört, aber der Kern der Show ist der
Schmerz, den alle in der queeren Community in Georgien teilen.“
Koko, wie sie von Freund*innen auch genannt wird, ist bekannt in der
Szene. Sie ist Teil des Kollektivs „The Dragball“, Georgiens erstem dieser
Art, das seit einem Jahr existiert und mittlerweile aus mehr als 30
Menschen besteht. Gemeinsam organisieren sie Veranstaltungen, finanziert
durch Spenden des Tbilissi Pride Office, die mehrheitlich aus dem Ausland
stammen.
Auf die Frage, ob sie glauben, die Regierung könne die Shows verbieten, wie
in einigen US-Bundesstaaten mittlerweile der Fall, sagt Ina: „Die Shows
wurden nur noch nicht verboten, weil die Regierung keine Ahnung hat, dass
sie existieren.“ Ina ist auch als Dragperformer*in unter dem Namen KY
Cygni bekannt und Kokos Begleitung an diesem Abend. Dabei ist Drag nicht
neu in Georgien. „Dragshows gab es auch früher schon, allerdings versteckt
in Garagen und Hinterhöfen, denn viele hatten Angst davor, sichtbar zu
werden.“ Erst die vielen positiven Reaktionen und die ausverkauften Shows
haben mehr Dragperfomer*innen dazu ermutigt, öffentlich aufzutreten.
„Aber verdienen tun wir damit nichts, im Gegenteil. Wir arbeiten hart, um
uns überhaupt die Kostüme und das Make-Up finanzieren zu können. Wir machen
das für die Community hier in Georgien.“
Koko arbeitet als Führungskraft im Personal- und Projektmanagement, als
Tänzerin und als Make-Up-Artist. Viel Geld bleibt am Ende nicht übrig.
Nicht nur die Outfits seien teuer, auch die Mieten seien seit dem
russischen Angriffskrieg auf die Ukraine fast um das Dreifache gestiegen.
Viele müssten aus ihren Wohnungen raus und vorübergehend bei der Familie
unterkommen, erzählen Koko, Ina und Shakhdinarian.
## Russische Neuankömmlinge
Die Schuld geben sie unter anderem den etwa 150.000 russischen
Staatsbürger*innen, die sich laut Innenministerium [2][seit Kriegsbeginn in
Georgien aufhalten] und damit knapp vier Prozent der Gesamtbevölkerung
ausmachen. Die russischen Neuankömmlinge sind oft in der Lage, teurere
Mietpreise zu zahlen. „Die Russen haben unsere Straßen definitiv
gentrifiziert, aber gleichzeitig kann man die Verantwortung nicht wirklich
auf Einzelpersonen abwälzen, wenn die eigene Regierung nichts unternimmt“,
sagt Ina. Denn bisher können russische Staatsbürger*innen ohne Visum
ins Land reisen.
„Für manche mag es so wirken, als würden diese Menschen vor dem Krieg
fliehen, aber für mich als Georgierin ist es so, als wäre mein Land bis
heute von ihnen besetzt. Sie haben diese imperialistische Mentalität,
beispielsweise erwarten sie von uns, Russisch mit ihnen zu sprechen. Auch
wenn wir fließend Russisch können, wollen wir kein Russisch mit ihnen
reden.“ Nicht weil sie russische Menschen hassen würden, es sei nicht
persönlich, es sei politisch. „Wie kann man in dem Land, das man
kolonisiert hat, ein Flüchtling sein?“, fragt Ina rhetorisch.
Mit dieser Perspektive sind sie nicht allein. Im Land herrscht großes
Misstrauen. Vielen Georgier*innen ist noch lebhaft in Erinnerung, wie
russische Panzer im Kaukasuskrieg 2008 nur 40 Kilometer vor den Toren der
Hauptstadt standen. Dieses Misstrauen wird zusätzlich durch die anhaltende
Präsenz russischer Truppen in Abchasien und Südossetien bestärkt, die sich
mit russischer Unterstützung einseitig von Georgien abgespalten haben,
völkerrechtlich jedoch weiterhin zum Land gehören. Eine Umfrage zeigt, dass
90 Prozent der Georgier*innen Russland derzeit als größte politische
Bedrohung wahrnehmen.
Auch die queere Szene ist besorgt über den russischen Einfluss in Georgien,
denn bereits 2020 wurde bekannt, dass die rechte Partei „Allianz der
Patrioten Georgiens“ durch Russland mitfinanziert wird. Die Stimmung ist
angespannt. Wie zuletzt, als das umstrittene Agentengesetz verabschiedet
werden sollte. An den Protesten gegen das Gesetz nach russischem Vorbild
beteiligte sich auch die queere Community. „Auf den Demonstrationen standen
wir plötzlich gemeinsam neben Menschen, die uns normalerweise angepöbelt
hätten auf der Straße“, erinnert sich Ina. Der gemeinsame russische Feind
machte aus dengeorgischen Feinden kurzzeitig Verbündete.
Dass die Verbundenheit bis Anfang Juli anhält, wenn eine ganze Woche Pride
in der Hauptstadt stattfinden soll, bezweifeln die Dragkünstler*innen
allerdings. Shakhdinarian rechnet auch dieses Jahr wieder mit Angriffen auf
das Tbilissi Pride Office.
28 Jun 2023
## LINKS
[1] /Neue-Partei-in-Georgien/!5900623
[2] /Russischer-Einfluss-in-Georgien/!5935536
## AUTOREN
Sonja Smolenski
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