# taz.de -- Dekolonisierung der russischen Sprache: Ein Imperium des Wortes | |
> Noch immer gibt es im Russischen geografische Begriffe aus der | |
> Sowjetzeit, die heute schlicht imperialistisch sind. Und damit falsch. | |
Bild: Ukrainisches Rekrutierungsplakat, 2023. Der Gebrauch der ukrainischen Spr… | |
Der Zerfall der Sowjetunion führte zu einer ganzen Reihe von Tragödien. | |
Eine davon sieht gerade die ganze Welt: den Krieg in der Ukraine. Das | |
Sowjetimperium ist kollabiert, aber die Folgen davon sind bis heute | |
schmerzhaft und zeigen sich auch immer wieder in der Sprache. | |
## Das Beispiel Baltikum | |
In der russischen Sprache gibt es das Toponym „Pribaltika“ – es ist in der | |
sowjetischen Zeit entstanden und bezeichnet eine Region, die die drei | |
baltischen Republiken umfasst: die lettische SSR (Sozialistische | |
Sowjetrepublik), die litauische SSR und die estnische SSR („Pribaltika“ ist | |
nicht die wortwörtliche Entsprechung des im Deutschen gebräuchlichen | |
Toponyms „Baltikum“, deswegen wird hier sowie bei den folgenden Beispielen | |
das russische Wort beibehalten; Anm. der Übersetzerin). | |
Fünfzig Jahre lang, vom Augenblick des Anschlusses dieser drei Länder an | |
die UdSSR im Jahr 1940 bis zu ihren Unabhängigkeitserklärungen 1990, war | |
der Begriff fest in der russischen Sprache verwurzelt und wird bis heute | |
häufig verwendet (vor allem von der älteren Generation), wenn man von den | |
drei Staaten spricht. | |
Aber allein hinter diesem einen Wort verbirgt sich ein Konflikt. Das | |
russische „Pribaltika“ bezeichnet ein Gebiet am Rande eines Imperiums, | |
irgendwo dort, weit weg an der Ostsee (auf Russisch: „Baltisches Meer“ – | |
„Baltijskoje More“; die russische Vorsilbe „pri“ bedeutet „bei, in der | |
Nähe“; Anm. der Übersetzerin). | |
Heute lehnen die Staaten des Baltikums – und genau so und nicht anders | |
werden sie genannt – das Wort „Pribaltika“ prinzipiell und entschieden ab, | |
weil durch dieses Wort der Imperialismus und Kolonialismus Russlands | |
ausgedrückt wird, einem Land, unter dem alle drei Länder stark gelitten | |
haben, von dem sie sich dann befreiten – und heute mit Schrecken auf den | |
großen und furchterregenden Nachbarn im Osten schauen. | |
## Das Beispiel südlicher Kaukasus | |
Fast genauso verhält es sich mit dem Toponym „Sakawkasje“. Auch dieser | |
Begriff ist in sowjetischer Zeit entstanden und bezeichnet drei Länder: | |
Georgien, Armenien und Aserbaidschan (alle drei sind früher als die Staaten | |
des Baltikums Teil der Sowjetunion geworden). Der Begriff „Sakawkasje“ | |
bedeutet: eine Region „hinter dem Kaukasus“, das heißt: irgendwo in den | |
kaukasischen Bergen. Das Wort selber verweist uns damit also auf die | |
Stelle, von wo aus der Sprechende auf diese Region schaut. Ganz | |
offensichtlich von Zentralrussland, aus Moskau. | |
Für Moskau sind sowohl „Pribaltika“ als auch „Sakawkasje“ entlegene Ge… | |
eines großen Reiches, seine zweitrangigen, untergeordneten Anhängsel. Aber | |
seit dem Zerfall der UdSSR hat sich die Welt verändert. Georgien, Armenien | |
und Aserbaidschan sind jetzt selbständige Staaten und keine Randgebiete | |
oder Anhängsel von irgendetwas. Für die Menschen in Georgien ist | |
„Sakawkasje“ Woronesch, Rostow – oder sogar Moskau – nämlich etwas, was | |
„hinter dem Kaukasus“ liegt, von ihrem geografischem Standpunkt aus | |
gesehen. Deswegen muss diese Region heute „südlicher Kaukasus“ genannt | |
werden. Und nicht anders. | |
## Das Beispiel Ukraine | |
Nach genau dieser Logik sagen diejenigen, die gegen den Krieg in der | |
Ukraine sind „in der Ukraine“, und nicht „auf der Ukraine“ (auf Russisc… | |
Ukraine“ bzw. „na Ukraine“; Anm. der Übersetzerin). Letzteres verwenden … | |
jene, die die Ukraine nicht für einen unabhängigen Staat halten. | |
Wenn man auf Russisch nämlich von einem Land spricht, benutzt man die | |
Präposition „in“: In Deutschland, in Spanien, in Brasilien. Und die | |
Präposition „auf“ benutzt man immer dann, wenn man frei von Subjektivität | |
über ein Gebiet spricht, von der (russischen) Region Stawropol zum | |
Beispiel, oder vom „fernen Osten“ (gemeint ist hier die Pazifikregion der | |
Russischen Föderation, auf Russisch „Dal’nyj Wostok“, Anm. der | |
Übersetzerin). | |
Wenn man auf Russisch also „auf der Ukraine“ sagt, bedeutet das, dass man | |
damit dem Land quasi sein Recht auf Unabhängigkeit abspricht. | |
Ich denke, man muss nicht erklären, wie schmerzhaft diese Frage im Jahr | |
2023 ist, in dem die russländische Staatspropaganda unveränderlich weiter | |
„auf der Ukraine“ schreibt und spricht. Und das ist natürlich eine | |
politische Frage. | |
Alle unabhängigen russländischen Medien (von denen sich die meisten nicht | |
mehr auf dem Gebiet der Russländischen Föderation befinden) verwenden „in | |
der Ukraine“, obwohl auch sie fast alle bis vor anderthalb Jahren bis | |
Kriegsbeginn „auf der Ukraine“ genutzt haben. Denn bis zu Beginn des | |
Großangriffs Russlands war diese Frage lange nicht so schmerzhaft wie | |
jetzt. | |
Es gibt noch eine Menge weiterer russischsprachiger Toponyme, die während | |
der Sowjetzeit entstanden sind, die heute hoffnungslos veraltet sind und | |
politisch unkorrekt: Weißrussland (Belorussija), Moldawien (Moldawija), | |
Kirgisien (Kirgisija), Mittelasien (Srednjaja Asija) – statt Belarus, | |
[1][Republik Moldau], Kirgisistan und Zentralasien. | |
Es ist verständlich, dass die Fragen des Wortgebrauchs umso schmerzhafter | |
werden, je schwieriger die politische Lage in diesen Ländern ist und je | |
angespannter ihre Beziehungen zu Russland sind. | |
So ist zum Beispiel der Gebrauch des Wortes „Belarus“ und sogar | |
„belarussisch“ (statt „weißrussisch“) nach dem 2020, dem Jahr der | |
Massenproteste, ein wichtiges Kennzeichen der Sprecher*innenposition: Denn | |
es zeigt insbesondere, dass sie bzw. er nicht das Regime Lukaschenko | |
unterstützt. | |
Bei all diesen Beispielen ist die Logik bei der Verwendung der neuen | |
Toponyme immer die gleiche: Die alten Wörter mit kolonialem Bezug müssen | |
verschwinden – [2][zusammen mit dem Imperium, das sie hervorgebracht hat]. | |
Und sie müssen neuen Platz machen, um die Subjektivität und politische | |
Realität der von Russland unabhängigen Länder widerzuspiegeln. | |
Maria Bobyleva ist russische Journalistin und Autorin. Sie lebt seit März | |
2022 im lettischen Exil. | |
Aus dem Russischen von [3][Gaby Coldewey]. | |
17 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Dekolonisierung-in-der-Republik-Moldau/!5922182 | |
[2] /Koenen-Buch-Im-Widerschein-des-Krieges/!5927459 | |
[3] /Gaby-Coldewey/!a23976/ | |
## AUTOREN | |
Maria Bobyleva | |
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