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# taz.de -- Belarussisches Regime gegen Sprache: Verboten, Belarusse zu sein
> Der belarussische Staatschef Lukaschenko versucht, den Sowjetmenschen zu
> erschaffen. Sprache und Kultur sind zur politischen Waffe geworden.
Bild: Anti-Lukaschenko Protest im August 2020 in Minsk: Auf der Liste der sogen…
Jeder dreizehnte politische Gefangene in Belarus ist Künstler,
Schriftsteller, Musiker oder Journalist. Der Druck des Regimes von
Alexander Lukaschenko auf die schöpferische Intelligenz steigt von Tag zu
Tag. Und auf der Liste der sogenannten „Extremisten“ (so heißen nach
Ansicht des Diktators alle diejenigen, die die belarussische Kultur lieben
oder ihre Muttersprache sprechen möchten) stehen allein 127 Menschen aus
dem Kulturbereich. Hunderttausende [1][Belarussen haben ihr Heimatland nach
den Repressionen des Jahres 2020 verlassen].
An einer großen Universität des Landes wurde der Lehrstuhl für
belarussische Ethnographie und Folklore abgeschafft. In den staatlichen
Fernsehsendern kann man russische Propagandisten sehen und hören. In der
Nationalen Akademie der Wissenschaften finden regelmäßig Razzien bei
Wissenschaftlern statt, die dem Regime nicht gefallen.
Die belarussische Kultur ist zur Zielscheibe der offiziellen Staatsmacht
geworden, und in den fast 30 Jahren der Herrschaft Lukaschenkos ist auf
diesem Gebiet fast nur noch verbrannte Erde übrig. Das Fach „Ideologie des
belarussischen Staates“ gibt es in jeder Bildungseinrichtung, aber
Belarussisch-Unterricht für Schülerinnen und Schüler gibt es nur einmal
wöchentlich. Und unterrichtet wird die Sprache mit der Didaktik und
Methodik des Fremdsprachenunterrichts.
Warum zerstört eine Diktatur planmäßig das eigene Volk und dessen
kulturelle Werte? Das belarussische Regime versucht, analog zur
Sowjetunion, den Sowjetmenschen zu erschaffen. Der sowjetische oder „rote“
Mensch, wie ihn die belarussiche Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin
[2][Swetlana Alexijewitsch] nennt, hat keine nationale Identität, es
mangelt ihm an Bewusstsein, und er spricht die Sprache des „großen
russischen Bruders“ – die russische Sprache.
## Muttersprache als politische Instrument
Eigentlich ist es doch klar, dass für jedes Volk seine eigene Sprache, die
Muttersprache, eine der wichtigsten Komponenten für die Schaffung eines
nationalen Bewusstseins, für das „nation building“ ist. Aber für die Län…
des postsowjetischen Raums, vollständig russifiziert und ideologisiert, ist
sie DIE wichtigste Komponente des nationalen Bewusstseins überhaupt.
„Viele Völker hat es gegeben, die zuallererst ihre Sprache verloren haben.
Wie der Mensch, dem man vor seinem Tod noch die Sprache nimmt, und dann
stirbt er sehr bald darauf. Darum gebt unsere belarussische Sprache nicht
auf, damit wir nicht untergehen. Man erkennt die Menschen entweder im
Gespräch oder an der Kleidung, die sie tragen.
Die Rede, die Sprache, das ist also die Kleidung der Seele“, schrieb 1891
einer der Begründer der nationalen belarussischen Literatur, Franzischak
Bahuschewitsch. Er wurde seinerzeit von den Machthabern des Russischen
Imperiums unterdrückt, das sich damals das gesamte Territorium des heutigen
Belarus einverleibt hatte.
## Unabhängige Medien sind im Exil
Mehr als 130 Jahre sind seitdem vergangen, und noch immer kämpfen die
Belarussen für das Recht, in ihrer Muttersprache sprechen zu dürfen – in
ihrem Heimatland. [3][Die unabhängigen belarussischen Medien sind im Exil],
und die belarussischen Menschenrechtsorganisationen berichten Tag für Tag
von neuen Verhaftungen. Der Stadtführer und Journalist Ihor Chmara wurde am
2. August 2022 verhaftet, weil er auf der Straße Belarussisch gesprochen
hatte. Menschenrechtler erfuhren davon durch einen Mithäftling von Ihor
[4][aus dem Okrestina-Gefängnis in Minsk].
Menschenrechtler berichten auch, dass schon einige solcher Fälle bekannt
sind, bei denen Menschen wegen des Gebrauchs der belarussischen Sprache
verhaftet wurden. Ihor wurde zu 2,5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt,
unter anderem auch wegen „Extremismus“.
Die ehemalige Abgeordnete des Repräsentantenhauses der Nationalversammlung
der Republik Belarus (Unterhaus), Alena Anisim, kam nach einer zwölftägigen
Administrativstrafe wieder frei. Sie war am 17. Mai 2023 bei der Arbeit
verhaftet worden – im Institut für Sprachwissenschaft an der Nationalen
Akademie der Wissenschaften von Belarus. Sie war Vorsitzende der
“Francysk-Skaryna-Gesellschaft für belarussische Sprache“, die 2021 von der
belarussischen Regierung aufgelöst worden war.
## Nationale Werte und nationale Sprache
Der Kulturmanager, Förderer der belarussischen Sprache und Gründer des
Geschäfts für nationale Symbolik und Souvenire [5][“Symbal.by“] Pawel
Belous wurde nach vier Artikeln des Strafgesetzbuches von Belarus
angeklagt, unter anderem wegen Hochverrates, und am 11. Mai 2023 zu 13
Jahren Strafkolonie unter verschärften Bedingungen verurteilt.
Das Gefühl der Zugehörigkeit zum Heimatland und zum eigenen Volk ist nicht
nur eine ethnische Frage. In erster Linie geht es dabei um ein gemeinsames
nationales Bewusstsein, gesammelte kulturelle Erfahrungen und den Wunsch,
nationale Werte und eine nationale Sprache zu schaffen und sie von
Generation zu Generation weiterzugeben.
Die Zerstörung dieses Erbes bedeutet, die dazugehörige Nation zu zerstören,
es hieße, die Nation vom Angesicht der Erde zu tilgen. Aber das
belarussische Volk kämpft weiter für seine Freiheit. Und es wird siegen.
V.T., Schriftstellerin aus Belarus. Aus Sicherheitsgründen schreibt sie
unter Pseudonym.
Aus dem Russischen [6][Gaby Coldewey]
16 Jun 2023
## LINKS
[1] /Emigration-aus-Belarus/!5714602
[2] /Nobelpreis-fuer-Literatur-2015/!5237044
[3] /Belarussisches-Oppositionsmedium-Nexta/!5884290
[4] /Gaby-Coldewey/!a23976/
[5] /Zensur-in-Belarus/!5748831
[6] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
V. T.
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