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# taz.de -- Rechtsextremismus in Georgien: Gegen Queerness und die EU
> Georgien ist eines der homophobsten Länder Osteuropas. Die Gewalt der
> Rechten kann tödlich enden. Viele von ihnen wirken nun gegen einen
> EU-Beitritt.
Bild: Tiflis, Juli 2021: Demo nach dem gewaltsamen Tod des TV-Journalisten Alex…
Tiflis taz | Am 9. Juni jubeln etwa 20 Männer vor dem Gebäude der
EU-Vertretung im Stadtzentrum der georgischen Hauptstadt Tiflis. Sie
wollen, dass die Botschafter aller 27 EU-Länder ausgewiesen werden. „Heute
wird viel darüber geredet, ob Georgien in die Europäische Union aufgenommen
werden sollte“, schreit einer der Männer. „Aber warum fragt eigentlich
keiner, ob Georgien die EU aufnimmt?“ Einige Tage zuvor hatten die
EU-Botschafter in einem gemeinsamen offenen Brief den Schutz von queeren
Menschen in Georgien gefordert und die georgischen Behörden dazu
aufgerufen, deren Versammlungsfreiheit zu gewährleisten.
Vertreter rechtsextremer Gruppen interpretierten diesen Brief als
Provokation. Gemeinsam mit anderen organisierte Guram Palawandischwili die
Aktion vor dem Gebäude der EU-Vertretung. Er leitet eine Organisation
namens Gesellschaft zur Verteidigung von Kinderrechten und fordert schon
seit vielen Jahren ein Gesetz zum „Schutz“ von Minderjährigen vor Dingen,
die er als „LGBT-Propaganda“ bezeichnet, also vor jeglicher Erwähnung von
LGBT*IQ, sei es in Büchern, Filmen oder generell in der Öffentlichkeit. Es
soll ein Pendant werden zum Gesetz, das in Russland bereits seit 2013 in
Kraft ist.
Bereits 2019 hatte Palawandischwili versucht, [1][die Vorführung eines
georgischen Films zu stören, in dem es um eine Liebesbeziehung zweier
Männer in einem Tanzensemble geht]. Zwei Jahre später organisierte er eine
gewalttätige Protestaktion gegen den Marsch der Würde der georgischen
queeren Community: Bei der Aktion am 5. Juli 2021 verletzten Rechtsextreme
53 Journalist*innen. Einer von ihnen, Alexander (Lekso) Laschkarawa, ein
Kameramann des Fernsehsenders TV Pirveli, [2][musste notoperiert werden,
eine Woche später fand seine Mutter ihn tot in seinem Bett].
Noch immer sitzen rund 30 Menschen wegen dieser Gewalttaten in Haft – die
Organisatoren sind nicht darunter. Auch der Premierminister von Georgien
hatte sich damals zu dem Vorfall geäußert. „Wenn 95 Prozent der
Bevölkerung gegen Propagandamärsche sind“, sagt er – und meint damit den
Marsch der Würde, nicht den rechtsextremen Gewaltexzess – „müssen wir uns
dieser Meinung beugen. Niemals werden in Georgien Minderheiten der Mehrheit
ihren Willen diktieren.“
## 90 Prozent der Bevölkerung wollen in die EU
Am 9. Juni 2022 ist Palawandischwili nun also wieder unterwegs. Heißt das,
dass er gegen den EU-Beitritt ist? „Ich tue alles dafür, dass Georgien
nicht in die Union der Eurosodomiten kommt“, antwortet er. Zehn Minuten
später verhaftet ihn die Polizei, weil er eine EU-Flagge zerrissen hat.
Georgien ist eines der homophobsten Länder Osteuropas. Queere Menschen
werden regelmäßig überfallen und angegriffen, und der Staat kann oder will
sie nicht schützen. Politiker vermeiden es, über ihre Rechte zu sprechen.
Deswegen hat der 32-jährige Aktivist Emso Kwarazchelija 2018 in Belgien
Asyl beantragt. „Ich wurde bedroht, ich wurde geschlagen. Am Ende war ich
erschöpft und habe verstanden, dass ich nicht länger als Aktivist
weitermachen kann“, sagt er.
Er musste Georgien verlassen, so wie er schon 2014, nach einem Coming-out,
seine Heimatstadt verlassen musste. In der kleinen Schwarzmeerstadt Poti
mit 47.000 Einwohner*innen konnte er nicht bleiben. Kwarazchelija
möchte nicht an diese Zeit zurückdenken, als er jeden Tag in Gefahr war,
als er „nicht einschlafen konnte, wenn ich nicht neben dem Bett eine Axt
oder etwas Ähnliches liegen hatte“. Mittlerweile arbeitet Kwarazchelija
beim Roten Kreuz. Seine eigene Migrationserfahrung kommt ihm dabei zugute,
denn er hilft jetzt geflüchteten Ukrainer*innen bei der Integration.
Kwarazchelija möchte nicht mehr zurück, aber er verfolgt die Ereignisse in
seiner Heimat genau. Er sagt, dass die explizite Homophobie in Georgien
eine Form des Konformismus sei. „Meine Eltern waren nicht dagegen, dass ich
schwul bin. Sie wollten nur nicht, dass sonst irgendjemand davon erfährt“,
sagt er. Konformismus kann leicht für politische Ziele missbraucht werden,
das beweisen die rechtsradikalen Gruppen.
„Tatsächlich ist es den meisten von ihnen egal, mit wem wir ins Bett
gehen“, sagt Kwarazchelija, „ihre Hauptaufgabe besteht darin, zu
verhindern, dass Georgien den Status als EU-Kandidat bekommt.“ Georgien hat
einen Antrag auf Aufnahme in die EU gestellt, zusammen mit der Ukraine und
Moldau, und wartet jetzt auf die Entscheidung der Europäischen Kommission.
Laut Meinungsumfragen unterstützen fast 90 Prozent der Bevölkerung
konsequent die Perspektive der europäischen Integration ihres Landes.
## Die Community trifft sich in Clubs
Ihre Gegner jedoch sind äußerst aktiv. „Diese Leute verbreiten russische
Propaganda und versuchen, die EU in den Augen der Bevölkerung zu
diskreditieren. Sie wissen, dass viele Menschen in Georgien Queere hassen,
und versuchen damit zu manipulieren“, sagt Kwarazchelija. Er wartet
ungeduldig darauf, dass Georgien den Status eines EU-Beitrittskandidaten
erhält.
Denn die Annäherung an Europa schützt Zehntausende Menschen, die heute noch
aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität
verfolgt werden. Alle Veranstaltungen der Tifliser Pride-Week, die am 28.
Juni begonnen hat, finden hinter verschlossenen Türen statt: keine
öffentliche Parade, keine Demo, keine Straßenparty, wie man sie in anderen
Ländern Europas im Pride-Month gewöhnt ist.
Die Community trifft sich in Clubs. Vor den Türen stehen nicht nur die
Rechten, sondern auch die Polizei – als Schutz vor extremistischen
Überfällen. Schon im Vorfeld hatten die Anführer der rechtsradikalen
Gruppen bekannt gegeben, dass sie die Versammlungen von queeren Menschen
und ihren Unterstützer*innen behindern wollen. Die NGO Tbilisi Pride
schreibt dazu in einer Erklärung vom 31. Mai: „In diesem Jahr haben wir
keine Möglichkeit, den Marsch der Würde durchzuführen. Wir sind die einzige
Gruppe, die praktisch des Versammlungs- und Demonstrationsrechts beraubt
wurde.“
Marijam Dschikija von der lokalen NGO Democracy hat in den letzten zwei
Jahren mehr als 30 Aktionen von ultrarechten Gruppen beobachtet: ihre
Motivation, ihre Kampfmethoden. Sie sind vor allem gegen Homosexuelle,
gegen ethnische und religiöse Minderheiten und gegen Covid-Impfungen. Es
sind unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Agenden, aber alle
haben eines gemeinsam: Sie sind gegen eine Annäherung Georgiens an die EU,
da diese das „Verschwinden der georgischen Identität“ zur Folge hätte.
## Beleidigungen selbst vor Gericht
In den letzten elf Monaten hat Dschikija viele der Prozesse begleitet, die
sich mit den Gewalttaten gegen Journalist*innen vom 5. Juni 2021
befassen. Oft hörte sie ähnliche Aussagen. Die Beschuldigten würden sich
selbst als politische Gefangene bezeichnen, ein Ausdruck, der im
Georgischen, wörtlich übersetzt, anders lautet: Gefangene des Gewissen.
„Sie sagen, dass sie ihre orthodoxe Religion gegen Schwule und den Westen
verteidigen müssen“, erklärt sie.
Häufig würden die mutmaßlichen Täter während des Prozesses die Opfer
beleidigen und homophobe Bemerkungen machen. Die Richter ließen dies leider
oft unbeachtet. Dschikija berichtet, dass von den 27 Angeklagten bisher nur
zwei gesagt hätten, ihre Taten zu bereuen. „Zwei 18-, 19-jährige Jungs. Sie
sagten, sie hätten einen spontanen Fehler gemacht und es sei schlecht,
andere Menschen zu schlagen“, erinnert sie sich. Das härteste Urteil, bei
dem sie im Gericht zugegen war, lautete auf anderthalb Jahre Haft.
Laut einer Studie der georgischen NGO Women’s Initiative Supporting Group
finden 53 Prozent der georgischen Bevölkerung, dass queere Menschen nicht
das Recht haben, Protestaktionen zu veranstalten. Die NGO bezeichnet das
als Fortschritt. 2016 waren noch 78 Prozent aller Befragten dieser Meinung
gewesen.
Aus dem Russischen von [3][Gaby Coldewey]
3 Jul 2022
## LINKS
[1] /Interview-zu-Homosexualitaet-in-Georgien/!5695597
[2] /Homophobe-Gewalt/!5781030
[3] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Sandro Gvindadze
## TAGS
Rechtsextremismus
Georgien
EU-Beitritt
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Schwerpunkt LGBTQIA
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Georgien
Orthodoxie
Schwerpunkt LGBTQIA
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