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# taz.de -- Grüner Landrat Jens Marco Scherf: Der Lanz-Rat
> Jens Marco Scherf ist Landrat in Miltenberg in Unterfranken. Beim Thema
> Geflüchtete warnt der Grüne vor einer Überlastung der Kommunen – auch in
> Talkshows. Seine Partei müsse sich ehrlich machen.
Bild: Jens Marco Scherf in einer ehemaligen Grundschule, die zu einer Unterkunf…
Röllfeld/Miltenberg taz | Vielleicht ist es ja ein Zeichen von Umsicht und
Verantwortung, Alarm zu rufen, bevor wirklich Land unter ist. Die
Flüchtlingsnotunterkunft im unterfränkischen Röllfeld, Landkreis
Miltenberg, am Rande eines Wohngebiets, zwischen freiwilliger Feuerwehr und
einem Sportgelände, macht jedenfalls nicht den Eindruck, aus allen Nähten
zu platzen. Keine Container, keine Zeltstädte weit und breit. Man wäre fast
dran vorbeigefahren.
Jens Marco Scherf öffnet die Tür zu der ehemaligen Grundschule. Mit seinen
wuscheligen Haaren und dem Achttagebart würde man ihn eher für den Leiter
der Einrichtung halten als für den Landrat.
Scherf hat Alarm gerufen – im zweiten Jahr des Kriegs in der Ukraine, und
in einer Welt, in der über hundert Millionen Menschen auf der Flucht sind.
Er hat nicht polemisch gesagt: „Wir schaffen das nicht.“ Oder: „Wir könn…
nicht allen helfen“, wie es [1][der mittlerweile Ex-Grüne Boris Palmer]
formulierte. Aber Scherf, der einzige grüne Landrat Bayerns, gab die
Stimmung an der Basis schon früh nach oben weiter: Dass die Ehrenamtlichen
nicht mehr können, dass er keine Immobilien mehr für die Erstaufnahme
findet, und dass Schulen und Integrationskurse langsam überlaufen.
Er stieß auf taube Ohren, sagt er, bis er aus Sicht der Grünen zum
Äußersten ging, sich mit Boris Palmer verbündete und [2][in der Talkshow
von Markus Lanz] zu Gast war. Danach kannte man Jens Marco Scherf
bundesweit.
In der Geflüchteten-Notaufnahme in Röllfeld geht an diesem Tag im März aber
augenscheinlich alles seinen ruhigen Gang. 60 Menschen aus Afghanistan
leben hier. Unten im Parterre haben zwei Familien einen eigenen Bereich,
oben leben die jungen Männer in den alten Klassenzimmern mit sechs oder
acht Betten. Die Jungs würden auch mit anpacken, wenn es was zu tun gibt,
sagen die Mitarbeiter.
Die Haltestelle für den Schulbus, die wegen Befürchtungen der Anwohner vom
Eingang der Unterkunft ein paar Meter die Straße runter verlegt worden ist,
soll wieder zurückkommen. Es gibt hier keinen Ärger, weder mit Gegnern noch
mit den Bewohnern. Alles kein Problem also?
Vielleicht nur auf den ersten Blick. Scherf lässt beim Gespräch dem Leiter
der Notaufnahme Mathias Kunz den Vortritt: Der berichtet, dass man keine
Mitarbeiter zur Betreuung der Notaufnahme findet. „Sachbearbeiter Asyl“,
das will keiner mehr werden.
Auch die Zahl der Ehrenamtlichen bricht weg. Seit Corona, aber auch, weil
die meisten Engagierten seit 2014 dabei sind und langsam nicht mehr können.
Kunz und seine Mitarbeiterin leiten die Einrichtung. Neben den
Security-Männern sind sie die Einzigen, die rund um die Uhr zuständig sind.
## Die Dauerbelastung sei das Problem, sagt Scherf
Der [3][Landkreis Miltenberg] im nordwestlichen Zipfel von Bayern hat
130.000 Einwohner. 3.000 Geflüchtete sind hier mit Wohnungen und
Arbeitsplätzen zu versorgen, Helfer müssen sie auf Behördengänge begleiten.
700 bis 800 der Geflüchteten sind noch aus den Jahren 2014 und 2015 hier,
längst nicht alle von ihnen haben Arbeit und eigenen Wohnraum.
1.600 Geflüchtete kamen vergangenes Jahr allein aus der Ukraine. Im Moment
kommen jeden Monat 30 bis 40 Geflüchtete dazu. Zurzeit vor allem aus
Ländern wie Afghanistan. Kein Politiker, weder von der CSU noch von den
Grünen, mache ihm Hoffnung, dass der Druck in den nächsten Monaten wieder
abnehme, sagt Scherf. Die Dauerbelastung sei das Problem.
Es fehle Personal, Kita-Plätze, Lehrerinnen, Wohnungen für die
Anschlussunterbringung anerkannter Geflüchteter. Engpässe, unter denen auch
die deutsche Bevölkerung leide. Kein Bürgermeister sei unter diesen
Bedingungen mehr bereit, eine weitere Unterbringung aufzumachen. Selbst
wenn es bisher – wie in Röllfeld – problemlos läuft.
Neulich war Jens Marco Scherf in einer Bürgerversammlung. Es ging um eine
kleine Einrichtung, wenige Familien in einem Privathaus sollten in einem
kleinen Ort im Landkreis untergebracht werden. Es gab viel Zorn, viele
Vorurteile. Erst hätten sich die Bürger gesorgt, was alles passieren
könnte. Als Scherf ihnen versicherte, dass die Polizei regelmäßig präsent
sein werde, hieß es, das wollen wir auch nicht, dass bei uns im Ort ständig
die Polizei rumfährt.
„Das ist der Unterschied“, sagt Scherf. „2015 kippte die Stimmung ins
Positive, jetzt ist es umgekehrt.“
An der Parteispitze der Grünen wolle das keiner hören, sagt Scherf. Das
habe sich erst geändert, als er zu Markus Lanz eingeladen wurde. In der
Sendung beschrieb Scherf plastisch die Situation in seinem Landkreis. Er
sagte, dass er ein schlechtes Gewissen habe, junge Afghanen monatelang
untätig in der Notunterkunft festhalten zu müssen, weil er keine Wohnungen
für sie habe. Und auch, weil seinem Landkreis die Kapazitäten für
Integrationsmaßnahmen fehlten.
Er sagte, dass er gerade nach der Pandemie auf alle Fälle vermeiden wolle,
wieder Turnhallen zu Notunterkünften zu machen. Kinder und Jugendliche
hätten die vergangenen zwei Jahre auf Sport und so viel anderes verzichten
müssen.
Als Lanz ihn fragte, ob er denn für Zäune an den EU-Außengrenzen sei, um
den Zustrom zu regulieren, antwortete er: Wenn es das wirkungsvolle Mittel
wäre, dann „hätte ich damit keine Probleme“. „Es ist doch nichts ethisch
Verwerfliches daran, dass wir eine Kontrolle darüber haben wollen, wer in
die Europäische Union hinein will. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit
für ein staatliches Gebilde.“
Scherf entwirft die Idee von „Aufenthaltszonen“ an den EU-Grenzen oder
Flüchtlingszentren in Krisenregionen, die „wirklich menschenwürdige
Bedingungen bieten“. Dann würden nicht mehr nur junge Männer kommen, die
die harten und gefährlichen Flüchtlingswege überstehen, sondern auch
Frauen, Kinder und Familien.
Scherfs Botschaften von der Basis sind für Grüne unbequem. Sie haben schon
vor 30 Jahren im Bundestag gegen den Asylkompromiss gestimmt. 2015 flogen
der Kanzlerin Merkel dann auch grüne Herzen zu, als sie sagte, wenn man
gegenüber Flüchtlingen kein freundliches Gesicht zeigen könne, dann sei das
nicht mehr ihr Land. Als wenige Wochen später still und leise die
Balkanroute geschlossen wurde, gab es dazu aber auch von den Grünen wenig
Kritik.
Jetzt sind die Grünen Teil der Bundesregierung und [4][im Kabinett liegt
ein Vorschlag von Nancy Faeser, Asylverfahren europaweit an die
Außengrenzen zu verlegen]. Letztlich der alte Plan von Horst Seehofer, der
an der SPD in der großen Koalition gescheitert ist. Kontrollen an
EU-Außengrenzen, das steht für viele Grüne eher für illegale Pushbacks und
Knüppeln als für rechtmäßige Verfahren. Jens Marco Scherf aber schreibt,
als der Faeser-Vorschlag bekannt wird, per SMS: „Das ist ein wichtiger
Schritt in Richtung Struktur, Ordnung und Steuerung. Steter Tropfen höhlt
doch den Stein.“
Das Flüchtlingsthema ist für die Grünen gefährlich, warnt Ansgar Stich. Er
ist Schulleiter eines Gymnasiums in Miltenberg. Hinter seinem Schreibtisch
sieht man durchs Fenster eine neue Sporthalle, die er auch nur ungern für
Geflüchtete bereitstellen würde, wie er sagt. Im Herbst will Stich für die
Grünen in den Bayerischen Landtag einziehen, Jens Marco Scherf kennt er
schon lange, sie seien befreundet, sagt er.
## Sorge um die grüne Identität
Waffenlieferungen an die Ukraine, Kohleverstromung und LNG-Terminals im
Naturschutzgebiet vor der Küste – im Moment seien die Grünen in der
Bundesregierung ständig gezwungen, Kehrtwenden bei ihren Kernthemen zu
machen. Das könnte eine Entwicklung sein wie bei der CDU in den
Merkeljahren, sagt Stich. Man verliere dann die Identität. So ein Kernthema
sei auch Asyl und Migration. Aber am Ende ist Stich Scherfs Meinung: „Wir
müssen die Migration steuern, da hat Jens Marco schon recht.“
Scherf ist die Identität der Partei nicht ganz so wichtig wie dem
Landtagskandidaten Stich. Er ist Anhänger der Theorie, dass schmerzhafte
Reformen immer nur die Parteien aus dem jeweils eigenen Lager durchsetzen
können: Schröder die Hartz IV-Reformen, Merkel den Atomausstieg und jetzt
halt die Grünen Reformen in der Flüchtlingspolitik. In Krisenzeiten könne
man nicht an Grundsätzen festhalten, man müsse Probleme lösen. Scherf gibt
zu, seine Warnrufe verschafften ihm hier im Landkreis Spielraum gegenüber
den Bürgermeistern, wenn er neue Unterkünfte brauche. Er kann sagen: Seht
her, ich hab ja alles versucht. Sogar dem Kanzler hab ich geschrieben.
Man könnte das Populismus nennen. Oder die ausgefuchste Doppelstrategie
eines Landrats in Krisenzeiten.
Ein linker Grüner war Scherf nie. Der Vater Unternehmer, die Mutter Beamtin
mit kommunistischer Vergangenheit, beide später mit CSU-Parteibuch,
schickten sie den Sohn, als er sich für Politik zu interessieren begann,
Mitte der 80er zur Jungen Union. Es war die Zeit der Schrecken vor HIV und
der Forderungen des damaligen Münchener Gesundheitsreferenten Peter
Gauweiler, Risikogruppen zu kasernieren. Scherf war davon abgestoßen und
bald wieder weg.
Später im Lehramtsstudium in Würzburg studiert er Bundestagsreden. Die
West-Grünen waren gerade aus dem Bundestag geflogen. Scherf begeisterte
sich für die Reden der Abgeordneten der Ost-Bürgerrechtler von Bündnis 90,
wie Konrad Weiß und Werner Schulz. „Die haben mich politisch sozialisiert“,
sagt er.
Als er nach Jahren in der Kommunalpolitik 2014 zum Landrat gewählt wurde,
war das eine ziemliche Überraschung. In Bayern werden Landräte vom Volk
gewählt. Der Landkreis ist ziemlich zersplittert, der grüne Kandidat, als
Schulleiter und Kreisrat gut bekannt, machte in den über 80 Städtchen und
Dörfern Haustürwahlkampf. Beim zweiten Mal trat er mit dem Slogan „Aus
Liebe zur Heimat“ auf dezentem blau-hellgrünen Hintergrund an. Scherf sagt
selbst, über Würzburg während des Studiums sei er nie hinausgekommen. Ein
echter Kommunalpolitiker also, der wenig mit den Statussymbolen früherer
Landräte anfangen kann. Dem Fahrer seines Vorgängers hat er eine andere
Aufgabe im Landratsamt gegeben, von seinem Heimatort Wörth fährt er jeden
Tag mit dem Zug ins Büro nach Miltenberg.
## Nicht seine Wortwahl
Eine Sitzung des grünen Kreisverbands Ende März in der griechischen
Gaststätte Zorbas, nicht weit vom Landratsamt in Miltenberg. Die
Mitglieder, die meisten über 50, versammeln sich im Nebenzimmer bei Gyros
und Apfelwein. Vegan ist hier nur eine Portion Pommes. Die Grüne Jugend
gibt es nicht mehr im Landkreis, die seien zum Studieren in Großstädte
gegangen, heißt es.
Die Mitglieder des Kreisverbands diskutieren die Perspektiven für die
bayerische Landtagswahl. Eigentlich warten alle auf den „Jens Marco“, wie
sie ihn nennen. Der muss vorher noch irgendeine Ehrenmedaille überreichen.
Seit seinem Auftritt beim ZDF-Talk hat der Landrat hier einen neuen
Spitznamen: „der Lanz-Rat“. Dabei schwingt eine Mischung aus Spott und
Stolz mit. Die Stimmung ist nicht besonders kritisch gegenüber dem Landrat.
Man müsse beim Thema Flüchtlinge das Wasser von den Mühlen der AfD nehmen,
sagt ein Mitglied. Erst als er für den Wahlkampf Diskussionen mit Boris
Palmer vorschlägt, gibt es Widerspruch.
Scherf kommt reingerauscht. Es sei schön gewesen, bei der Ehrung mal über
etwas anderes als Flüchtlinge zu sprechen, sagt er. „Selber schuld“, ruft
jemand, eher im Scherz. Dann wird es ernst, Scherf erinnert noch einmal an
das letzte Jahr. Als er am 24. Februar 2022 die Meldung von der russischen
Offensive gegen die Ukraine gelesen habe, habe er noch aus der Versammlung
der Kreissparkasse heraus erste Maßnahmen zur Vorbereitung auf Flüchtlinge
ergriffen.
Seitdem seien er und seine Leute nicht mehr aus dem Krisenmodus
rausgekommen. Scherf redet unverstellt. Er sagt: „Leute, ganz im Ernst …“,
und dass ihm manchmal „der Arsch auf Grundeis gehe“, wenn er sehe, wie in
Ländern wie Schweden oder Dänemark Rechtsextreme an der Regierung beteiligt
werden. „Wir dürfen den Rechten das Thema nicht überlassen.“ Dafür gibt …
viel Zustimmung an diesem Abend.
Die einzige wirklich kritische Wortmeldung an diesem Abend kommt von einem
Mann etwas im Abseits. Armin Schneidler ist nicht mal Parteimitglied.
Schneidler war mal Betriebsrat in einem Unternehmen in der Region, heute
engagiert er sich mit seiner Frau für Flüchtlinge. Asylverfahren an
Außengrenzen, wie sich Scherf das denn vorstelle? Er denke da an die
Zustände wie im Lager Moria.
Mit welchen EU-Nachbarn er denn die Rückführung organisieren wolle? Mit
Libyen, Syrien oder Iran? Er habe Freunde bei der Seenotrettung, die
könnten von der Küstenwache in Libyen berichten. Schneidler sagt,
eigentlich habe er eine sehr gute Meinung vom Miltenberger Landrat. Aber
der Auftritt bei Lanz habe ihn geschockt. „Wenn ein Grüner sagt, das Boot
ist voll, dann ist das einfach fatal.“
Jens Marco Scherf wirkt ein wenig betroffen. Das sei nicht seine Wortwahl
gewesen, sagt er. Und dass es ihm darum gehe, Antworten zu finden. Alles
andere würde nur den Rechten nutzen. Die Umfragen drei Wochen später
scheinen Scherf recht zu geben. Die AfD liegt plötzlich bundesweit
gleichauf mit den Grünen.
8 May 2023
## LINKS
[1] /Nach-Parteiaustritt-des-Tuebinger-OB/!5928626
[2] https://www.youtube.com/watch?v=4ajdjW1BBAQ
[3] https://www.landkreis-miltenberg.de/Landkreis/Startseite.aspx
[4] /Europaeische-Fluechtlingspolitik/!5928621
## AUTOREN
Benno Stieber
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