| # taz.de -- Nach Parteiaustritt des Tübinger OB: Boris Palmer ist dann erst ma… | |
| > Nach dem jüngsten Eklat tritt Tübingens Oberbürgermeister aus den Grünen | |
| > aus. Späte Einsicht eines Provokateurs mit Potenzial. | |
| Bild: Nicht die erste Entgleisung: Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübing… | |
| Für Boris Palmers Verhältnisse kam das Einsehen diesmal geradezu | |
| blitzartig. Am Freitagabend hatte er in Frankfurt vor einer Gruppe | |
| Demonstranten, die ihn mit „Nazi, Nazi“-Rufen niederbrüllen wollten, die | |
| Benutzung des N-Worts verteidigt. Wer ihn deshalb zum Rassisten stemple, | |
| handle nicht anders als die Nazis. [1][„Das ist der neue Judenstern“], | |
| sagte Palmer daraufhin. | |
| Schon in der [2][Veranstaltung an der Goethe-Universität Frankfurt] zum | |
| Thema Migration bekam er dafür harsche Kritik zu hören. Und die weiteren | |
| Reaktionen aus der Partei und seinem Umfeld dürften dem Tübinger | |
| Oberbürgermeister gezeigt haben, dass er mit dem Auftritt, der auf Twitter | |
| dokumentiert wurde, endgültig zu weit gegangen ist. | |
| Selbst einer seiner wichtigsten Unterstützer, der ehemalige grüne | |
| Spitzenpolitiker Rezzo Schlauch, hatte Palmer noch am Wochenende in einer | |
| öffentlichen Erklärung die „persönliche und politische Loyalität“ | |
| aufgekündigt und sein Mandat als Anwalt für ihn niedergelegt. | |
| Am Montagabend dann schrieb Boris Palmer auf Facebook ungewöhnlich | |
| zerknirscht, er sehe ein, er habe als Oberbürgermeister nie so reden | |
| dürfen: „Eines ist mir klar: So geht es nicht weiter. Die wiederkehrenden | |
| Stürme der Empörung kann ich meiner Familie, meinen Freunden und | |
| Unterstützern, den Mitarbeitern in der Stadtverwaltung, dem Gemeinderat und | |
| der Stadtgesellschaft insgesamt nicht mehr zumuten.“ | |
| ## 22 Jahre Irrungen | |
| Palmer gibt bekannt, eine einmonatige Auszeit zu nehmen, und meldete sich | |
| am Montag in seinem Rathaus krank. Im Juni werde er seine Amtsgeschäfte | |
| vorübergehend niederlegen, erklärte die Stadt am Dienstag. Gleichzeitig | |
| erklärte Palmer in zwei Schreiben an die Bundes- und Landespartei seinen | |
| Austritt aus den Grünen, die er trotz aller Differenzen stets als seine | |
| politische Heimat bezeichnet hatte. | |
| Damit geht das Kapitel Boris Palmer und die Grünen nach vielen Irrungen und | |
| 22 Jahren wohl endgültig zu Ende. Lange provozierte er seine Partei bis an | |
| die Schmerzgrenze und darüber hinaus. Mitten im Flüchtlingssommer 2015 | |
| entgegnete er im Gegensatz zu seiner Partei der Kanzlerin „Wir schaffen es | |
| nicht“ und wollte damit auf die drohende Überlastung der Kommunen bei der | |
| Flüchtlingsbetreuung hinweisen. | |
| Er wehrte sich gegen Sprechverbote im Grünen-Milieu, die Umbenennung der | |
| Tübinger Universität und verteidigte Tierversuche in einem Uni-Institut. | |
| Dann wollte er Flüchtlingen fundamentale Menschenrechte absprechen, wenn es | |
| den Ermittlungen in einem Mordfall diene. Kurz vor dem Auftakt zu Bundes- | |
| und Landtagswahlen seiner Partei 2021 platzte er schließlich mit einem | |
| satirisch gemeinten, aber rassistisch intonierten Facebook-Tweet in den | |
| Landesparteitag der Partei. | |
| Folge ist 2022 das Verfahren zum Parteiausschluss, den Rezzo Schlauch als | |
| sein Anwalt noch einmal abbiegen kann. Dabei hilft, dass Palmer inzwischen | |
| zum dritten Mal die Oberbürgermeisterwahl in absoluter Mehrheit gewonnen | |
| hat. Diesmal gegen eine grüne Kandidatin. Das grüne Enfant terrible ist da | |
| wohl auf dem Zenit seines persönlichen Erfolgs. Bundesgrüne, die Palmer | |
| sonst auch eher kritisch gegenüberstehen, staunen, dass er zusammen mit | |
| seiner Gegenkandidatin Ulrike Baumgärtner 70 Prozent der Tübinger dazu | |
| gebracht hat, für acht weitere Jahre grüne Politik zu wählen. | |
| ## Vertane Chance | |
| Spätestens dieser Erfolg zeigt, was Boris Palmer für seine Partei auch | |
| hätte sein können: eine kommunal- und klimapolitische Galionsfigur, von | |
| denen seine Partei nicht so viele hat. Palmer schafft in seiner Stadt eine | |
| hohe Akzeptanz für eine sozialökologische Politik. Er vereint | |
| Wirtschaftswachstum und CO2-Reduktion, er machte in der Wohnraumfrage | |
| Ernst, und drohte Besitzern leerstehender Wohnungen mit Enteignung. | |
| Und als Fridays for Future auf die Straße ging, nutzte er diesen | |
| Rückenwind, um dem Stadtrat ein einstimmiges Bekenntnis zum klimaneutralen | |
| Tübingen bis 2030 abzuringen. Das ist der Grund, warum die Tübinger Grünen | |
| selbst jetzt noch bereit sind, mit ihm an dieser „realistischen Chance zu | |
| arbeiten“, wie sie in einer Stellungnahme schreiben. | |
| Großen Teilen der Öffentlichkeit wird Palmer aber nicht als erfolgreicher | |
| Klimapolitiker und Oberbürgermeister in Erinnerung bleiben, sondern als | |
| kalter Provokateur und Rechthaber. Zuletzt hatte er nach dem [3][Mord an | |
| dem Geflüchteten Basiru Jallow] noch während der Ermittlungen den Toten des | |
| Drogenhandels beschuldigt. Erst nach Gesprächen unter anderem auch mit | |
| Seelsorgern hatte er sich dafür entschuldigt. | |
| Es war [4][nicht die erste ressentimentgeladene Wortmeldung] mit | |
| ungünstigem Timing. Die SPD-Fraktion im Stadtrat weigerte sich daraufhin, | |
| weiter mit Palmer zusammenzuarbeiten. | |
| ## Sohn des Remstal-Rebell | |
| Am Ende ist es ausgerechnet ein Nazivergleich, der offenbar auch Palmer | |
| selbst klargemacht hat, wie wenig er sich unter Kontrolle hat. Das | |
| Rassismus-Label als den „neuen Judenstern“ zu bezeichnen hätte in fast | |
| jeder Partei für ein Parteiausschlussverfahren gereicht, das der Grüne | |
| Volker Beck dann am Wochenende auch erneut beantragt hatte. | |
| Dabei müsste er es, anders als irgendwelche Querdenker-Wichtigtuer, aus | |
| eigener Anschauung besser wissen. Palmer schreibt selbst in seiner | |
| Erklärung vom Wochenende: „Aus einer großen übermächtigen Gruppe als Nazi | |
| bezeichnet zu werden, hat tief in mir sitzende Erinnerungen wachgerufen. An | |
| die Gruppe Jugendlicher, dir mir als Junge Schläge androhten und riefen, | |
| man habe nur vergessen, meinen Vater zu vergasen.“ | |
| Vater Helmut Palmer war das uneheliche Kind eines jüdischen Vaters, der vor | |
| den Nazis geflohen ist. Eigentlich Obstbauer, wurde er nach dem Krieg als | |
| „Remstal-Rebell“ zum bundesweit bekannten politischen Original, der mit | |
| teils maßloser Polemik vermeintliche und tatsächliche Naziseilschaften in | |
| der Politik kritisierte. Für seine Beleidigungen war er mehrfach in Haft. | |
| Sein Sohn Boris hat öfter bekannt, wie sehr er darunter gelitten hat. | |
| Es scheint, als hätte Boris Palmer jetzt erkannt, dass er diesem Weg des | |
| Vaters nicht weiter folgen darf. Er wolle sich professionelle Hilfe holen, | |
| schreibt er nach dem jüngsten Vorfall. Das zu tun und öffentlich zu | |
| bekennen nötigt Beobachtern Respekt ab, auch den vieler seiner zahlreichen | |
| Gegner und wenigen verbliebenen Unterstützer. Respekt, den der Politiker | |
| Boris Palmer anderen gegenüber zu oft hat vermissen lassen. | |
| 2 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Judenstern-Aeusserung-am-Rande-von-Konferenz/!5931295 | |
| [2] /Rassismus-bei-Konferenz-in-Frankfurt/!5928559 | |
| [3] https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Boris-Palmer-und-Basiru-Jallow-im-selbe… | |
| [4] /Boris-Palmer-soll-die-Gruenen-verlassen/!5766161 | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Stieber | |
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