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# taz.de -- Situation der Gewerkschaften: Allein machen sie dich ein
> Solidarität ist das Geschäft der Gewerkschaften, doch die
> Mitgliederzahlen sinken. Deuten dagegen die vielen Streiks derzeit auf
> einen kämpferischen 1. Mai?
Bild: Heraus zum 1. Mai (so war das im vergangenen Jahr): Ein Demonstrationszug…
Wenn am Montag in Berlin und vielen anderen Städten tausende
Arbeiter*innen anlässlich des Tags der Arbeit auf die Straße gehen, ist
Fevzi Sikar auf jeden Fall wieder mit dabei. Der 51-Jährige ist
stellvertretender Betriebsratsvorsitzender bei Mercedes Benz in
Berlin-Marienfelde und schon mit 16 Jahren in die Gewerkschaft IG Metall
eingetreten. Damals, als junger Azubi, noch mehr aus betrieblichem Zwang
als aus Überzeugung, sagt er heute rückblickend. Doch das änderte sich
schnell. „Mir ist klar geworden, dass wir nur solidarisch etwas erreichen
können“, sagt Sikar zur taz. Die traditionelle Gewerkschaftsdemo am 1. Mai
ist für ihn daher nicht nur ein Pflichttermin, sondern auch die
Gelegenheit, mit anderen Arbeiter*innen ins Gespräch zu kommen und sich
zu vernetzen.
Sikar, der mit acht Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist,
fühlte in der Gewerkschaft plötzlich eine Verbundenheit mit anderen
Arbeiter*innen. „Ich habe gemerkt, dass wir alle dieselben Nöte haben. Wir
waren nicht mehr ohnmächtig, sondern konnten gemeinsam etwas erreichen.“
Diese kollektive Erfahrung der Stärke versucht Sikar an junge Menschen
weiterzugeben. Denn die IG Metall leidet, wie alle anderen Gewerkschaften
auch, seit Jahren unter massivem Mitgliederschwund.
Rund 5.6 Millionen Arbeiter*innen waren Ende 2022 im Deutschen
Gewerkschaftsbund (DGB), dem größten gewerkschaftlichen Dachverband,
organisiert. Das sind etwa eine halbe Million weniger als noch vor zehn
Jahren und weniger als die Hälfte als vor 30 Jahren. Nach der
Wiedervereinigung war die Mitgliederzahl durch den Anschluss des Freien
Deutschen Gewerkschaftsbundes der DDR um vier auf 11,8 Millionen
angestiegen, seitdem gehen die Zahlen kontinuierlich zurück.
Heute sind von den rund 45,5 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland nur
12,4 Prozent in einer der großen Gewerkschaften organisiert, davon nur 34
Prozent Frauen. Auch inklusive der kleineren Gewerkschaften sieht es nicht
viel besser aus.
Dass vor allem junge, weibliche und migrantische Arbeiter*innen
seltener einer Gewerkschaft beitreten, erklärt sich Fevzi Sikar mit der
Trägheit großer Organisationen. „Die Gesellschaft hat sich schneller
gewandelt als die Gewerkschaften.“ Zumal sich heute weniger Menschen als
Arbeiter*innen begreifen würden und damit auch der Solidaritäts-Gedanke
zunehmend verloren ginge. „Heute liegt der Fokus mehr auf dem einzelnen
Individuum, das Kollektiv steht nicht mehr im Vordergrund.“
Das ist je nach Branche unterschiedlich stark ausgeprägt. In großen
Industriebetrieben wie Sikars Mercedes Werk in Berlin sind Gewerkschaften
traditionell stark und es gehört zum guten Ton, sich zu organisieren – auch
weil die IG Metall hier gute Ergebnisse erzielt. In anderen Bereichen sieht
es da schon anders aus. Alexander Wall ist 33 Jahre alt und arbeitet als
ITler bei Gematik in Berlin, eine Firma, die für die Digitalisierung des
Gesundheitswesens zuständig ist. Im Gegensatz zu den meisten seiner
Kolleg*innen ist Wall gewerkschaftlich organisiert. „Ich wusste erst
nicht, welche Gewerkschaft überhaupt zuständig ist“, sagt er der taz. Bei
seiner Arbeit würde über so etwas nicht geredet, das gelte als Privatsache.
Obwohl in der IT-Branche eher eine Einzelkämpfermentalität herrsche und
auch in seinem Freundeskreis niemand Mitglied einer
Arbeiter*innenvertretung sei, ist es Wall trotzdem wichtig, sich zu
organisieren. Auch wenn er im Großen und Ganzen zufrieden mit seinen
Arbeitsbedingungen ist, ihm geht es ums Prinzip. „Mir ist es wichtig, dass
sich Arbeiter gegen ausbeuterische Verhältnisse wehren. Auch wenn es mich
nicht betrifft, will ich andere dabei unterstützen, und wenn es nur
finanziell ist.“
In Kontakt mit Gewerkschaften kam er das erste Mal vor zwei Jahren, als er
noch als Lehrer an einer Berliner Schule arbeitete und seine
Kolleg*innen in den Warnstreik traten. Obwohl Wall neu und
Quereinsteiger war, schloss er sich ihnen an.
„Ich fand es wichtig mitzumachen, als Zeichen der Solidarität“, sagt der
gelernte Ingenieur. Viele seiner Kolleg*innen hätten sich jedoch nicht
beteiligt. „Ich hatte den Eindruck, dass sich viele nicht richtig vertreten
gefühlt haben, weil die Gewerkschaften immer nur mehr Geld statt bessere
Arbeitsbedingungen fordern“, sagt er. „Ich dachte mir: Ohne Gewerkschaften
wäre es noch schlimmer.“ Also trat Wall in die GEW ein. Ein Jahr später
hängte er den Lehrerberuf an den Nagel, weil die Belastung zu hoch war. In
der Gewerkschaft blieb er trotzdem.
Wall ist nicht der Einzige, der durch Arbeitskämpfe zur Gewerkschaft
gefunden hat. Seit Wochen kommt es im Zuge der Tarifverhandlungen bei Post,
Bahn und im öffentlichen Dienst zu Warnstreiks mit ungewöhnlich hoher
Beteiligung. Hunderttausende legten teils mehrere Tage ihre Arbeit nieder,
um angesichts hoher Inflation und steigender Lebenshaltungskosten
zweistellige Lohnforderungen durchzusetzen. Von der aktuellen Welle an
Ausständen scheint zumindest Verdi zu profitieren: Während die zweitgrößte
Gewerkschaft Deutschlands seit ihrer Gründung 2001 fast eine Million
beziehungsweise ein Drittel ihrer Mitglieder verloren hat, verzeichnet sie
laut Verdi-Chef Frank Werneke seit Jahresbeginn über 70.000 neue
Mitglieder.
Doch nicht alle werden in ihrem Arbeitskampf von den großen Gewerkschaften
unterstützt. So spricht Verdi aktuell zwar [1][den georgischen und
usbekischen Lkw-Fahrern], die seit Wochen mit wilden Streiks auf der
hessischen Raststätte Gräfenhausen wegen nicht gezahlter Löhne gegen einen
polnischen Unternehmer protestieren, seine Solidarität aus. Als vor zwei
Jahren jedoch die zumeist migrantischen Fahrradlieferant*innen des
wegen seiner schlechten Arbeitsbedingungen [2][umstrittenen Berliner
Start-Ups Gorillas] in einen wilden Streik traten, gingen die
Gewerkschaften auf Distanz. „Wir haben Verdi und die NGG gefragt, ob sie
uns unterstützen, doch sie wollten nicht“, sagt die Kurierfahrerin Duygu
Kaya zur taz. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass es da Solidarität gibt.“
Wilde Streiks, also Arbeitsniederlegungen, die nicht von einer Gewerkschaft
organisiert sind oder eine tarifliche Einigung zum Ziel haben, sind in
Deutschland verboten. Weil die Gorillas-Arbeiter*innen ihren Protest selbst
organisiert hatten und Verdi diesen nachträglich nicht legitimieren wollte,
wurden Kaya und hunderte andere Rider, wie sich die Kurierfahrer*innen
nennen, daraufhin entlassen. Die gebürtige Türkin geht dagegen gemeinsam
mit zwei ehemaligen Kollegen aus Mexiko und Indien gerichtlich vor. Doch es
geht ihnen um mehr: „Wir kämpfen dafür, dass wilde und politische Streiks
legalisiert werden.“
Zum Prozess vor dem Berliner Arbeitsgericht am Dienstag sind neben rund 50
Unterstützer*innen auch Vertreter*innen der IG Metall und der GEW
mit Transparenten gekommen. Während draußen die Kampagne für ein
umfassendes Streikrecht eine Kundgebung abhält, geht es drinnen im
Gerichtssaal um die grundsätzliche Frage, wie zeitgemäß das deutsche
Streikrecht angesichts der heutigen Arbeitsbedingungen noch ist. Für
Rider-Anwalt Benedikt Hopmann steht die derzeitige Rechtspraxis im
Widerspruch zur europäischen Sozialcharta, die wilde Streiks durchaus
erlaubt.
Das Berliner Arbeitsgericht bestätigt zwar die Kündigungen als rechtens,
doch den Kläger*innen bleibt noch der Weg zum Bundesarbeitsgericht oder
zum europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Duygu Kaya will jedenfalls
nicht so schnell aufgeben. In ihren Augen bleibt prekär Beschäftigten, die
sich mit ihren befristeten Arbeitsverträgen und ihrer dezentralen
Arbeitsweise nur schwer gewerkschaftlich organisieren können, nichts
anderes übrig, als sich selbstorganisiert und spontan gegen schlechte
Arbeitsbedingungen zu wehren. Zumal man sich auf die Gewerkschaften nicht
verlassen könne, wie sie aus ihren Erfahrungen weiß.
Für die 34-Jährige sind die DGB-Gewerkschaften Dinosaurier, die die
veränderte Arbeitswelt ignorieren. Weiße alte Akademiker, die sich nicht
radikal genug für die Interessen der Arbeiter*innen einsetzen. „Sie
haben keine Ahnung, wie prekär unsere Arbeitsbedingungen sind, und sind
nicht in der Lage, ihre althergebrachte Denkweise, wie man
Arbeiter*innen organisiert, zu ändern“, sagt sie. Plattform-Unternehmen
wie Gorillas, aber auch Google, Facebook oder Amazon, seien etwas völlig
anderes als ein normales Büro oder eine Fabrik.
In der sogenannten Gig-Economy, in der die Arbeiter*innen flexibel
zeitlich befristete Aufträge erhalten, die über eine Online-Plattform
vermittelt werden, sei die Mobilisierung schwieriger, auch weil die
Arbeiter*innen oft alle paar Monate wechseln. „Gewerkschaften geben
sich nicht die Mühe, sich dort zu engagieren“, sagt Kaya. Nicht nur bei
Gorillas, auch bei vielen anderen Lieferdiensten haben sich daher in den
vergangenen Jahren Workers Collectives gegründet, die sich selbst
organisieren und für ihre Rechte wie etwa einen Betriebsrat kämpfen – und
damit den Job der Gewerkschaften übernehmen.
Einer, der aus den Gewerkschaften heraus immer wieder lautstark
tiefgreifende Veränderungen fordert, ist Orhan Akman. Der 47-jährige
gebürtige Kurde arbeitet als politischer Gewerkschaftssekretär bei Verdi in
Berlin. Dort würde man den unbequemen Gewerkschafter mit seinen Rufen nach
Reformen am liebsten loswerden: Bereits mehrfach wurde Akman wegen seiner
kritischen Äußerungen fristlos gekündigt – wogegen er sich bislang
erfolgreich gerichtlich wehrt. Am Mittwoch wurde er bis auf Weiteres
freigestellt. „Die deutsche Gewerkschaftsbewegung steht an einem
Scheideweg“, sagt Akman der taz. „Wir haben so viele Leute in Lohn und Brot
wie noch nie. Trotzdem sind wir auf einem Tiefpunkt, was die organisierten
Belegschaften und Beschäftigten angeht.“
Der Grund für die „tiefgreifende Krise“ liegt für ihn auf der Hand: „Un…
Strukturen sind ziemlich konservativ, altbacken und zu bürokratisch und
damit zunehmend mitgliederfern.“ Akman, der seit mehr als 20 Jahren
gewerkschaftlich arbeitet, beobachtet eine zunehmende Entfremdung zwischen
den Gewerkschaften und der Basis, also den Arbeiter*innen. „Wir müssen die
Gewerkschaften strukturell neu denken“, findet er. Dazu gehöre eine
stärkere Verankerung in den Betrieben, aber auch eine klarere Kante gegen
die Regierungspolitik, die mit dem Segen der DGB-Gewerkschaften seit Jahren
eine Umverteilung von unten nach oben und damit eine Politik gegen die
Beschäftigten betreibe. „Wir brauchen auch keine Leute in Vorständen der
Gewerkschaften, die 15.000 Euro im Monat verdienen, wie soll man das einem
Beschäftigten erklären?“
Dass es in den Führungsebenen von Gewerkschaften zudem kaum
Migrant*innen gibt, hält Akman, der als erster Migrant für den
Verdi-Bundesvorstand kandidierte, für einen großen Fehler und eine vertane
Chance. Migrant*innen, aber auch Frauen, würden von den Gewerkschaften
strukturell vernachlässigt, was sich letztlich räche. „Wenn ich die
Interessen der Beschäftigten nicht ernsthaft vertrete, treten sie auch
nicht in die Gewerkschaft ein.“ Die Leute seien jedoch auf dem Arbeitsmarkt
und die Gewerkschaften seien gut beraten, sie auch zu organisieren. „Dann
haben wir eine gute Chance, aus der Krise einen Befreiungsschlag zu
machen.“ Das wäre nicht nur für die Gewerkschaften, sondern auch für die
Arbeiter*innen von Vorteil. Denn schwache Gewerkschaften wirken sich
auf die Tarifbindung aus: Während die in anderen europäischen Ländern wie
Frankreich bei fast 100 Prozent liegt, kommt in Deutschland nur jede*r
zweite Beschäftigte in den Genuss eines Tarifvertrags – und arbeitet damit
im Schnitt eine Stunde weniger als Beschäftigte ohne Tarifvertrag, bei 11
Prozent mehr Lohn.
Doch die Gewerkschaften scheinen aufzuwachen. Nicht nur wird mehr
gestreikt, auch in Sachen Streikrecht, dem einzigen Druckmittel, das
Arbeiter*innen überhaupt haben, tut sich was: So kämpfen aktuell drei
Lehrer*innen mit Unterstützung der GEW vor dem Europäischen Gerichtshof
gegen das Beamtenstreikverbot, ein Urteil wird in einigen Monaten erwartet.
Auch die Verbindung von Streiks mit politischen Forderungen ist kein Tabu
mehr: Anfang März tat sich [3][Verdi mit Fridays for Future] zusammen und
bestreikte bei einem gemeinsamen Aktionstag den öffentlichen Nahverkehr. Am
Frauenkampftag einige Tage später riefen GEW und Verdi die
Erzieher*innen zum Streik auf. Im April sorgte die IG Metall mit ihrem
Vorstoß für [4][eine Vier-Tage-Woche] für Furore. Wenn das Schule macht,
wird das vielleicht doch noch ein kämpferischer 1. Mai.
30 Apr 2023
## LINKS
[1] /Lkw-Fahrer-Streik-in-Graefenhausen/!5930891
[2] /Arbeitsbedingungen-bei-Lieferdiensten/!5812180
[3] /Verdi-und-Fridays-for-Future/!5917285
[4] /Gewerkschaft-fuer-Vier-Tage-Woche/!5923169
## AUTOREN
Marie Frank
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