# taz.de -- Gewerkschaftskundgebungen am 1. Mai: Zwischen Bratwurst und Kampfes… | |
> In Berlin fordert IG Metall-Chef Hofmann eine Verkürzung der | |
> Wochenarbeitszeit. In Köln geißelt DGB-Chefin Fahimi die Tarifflucht von | |
> Unternehmen. | |
Bild: Hat genug von Lippenbekenntnissen: DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi am 1. Ma… | |
BERLIN/KÖLN taz | Die Stimmung vor dem Roten Rathaus in Berlin-Mitte | |
erinnert am Montagmittag eher an ein Volksfest als an eine politische | |
Kundgebung. Vor den Bratwurst-, Kuchen- und Bierständen haben sich lange | |
Schlangen gebildet, die aufgebauten Bierbänke sind voller Menschen, die die | |
warmen Sonnenstrahlen genießen und ausgelassen miteinander reden. Und doch | |
findet hier kein Rummel statt, sondern die diesjährige Kundgebung des | |
Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zum Tag der Arbeit. | |
Rund 6.000 Menschen sind laut Berliner Polizei mit dem Demonstrationszug | |
vom Platz der Vereinten Nationen zum Sitz der neuen Berliner | |
Landesregierung gekommen, wo sie freudig von denen empfangen werden, die | |
sich die Demo gespart haben und direkt zur Kundgebung gekommen sind. | |
Auf weniger Zuspruch trifft der neue christdemokratischen Regierende | |
Bürgermeister von Berlin: Als Kai Wegner von der Bühne aus begrüßt wird, | |
ertönen laute Buhrufe. Der neue schwarz-rote Senat stößt bei den | |
Gewerkschafter:innen offenkundig nicht auf allzu große Begeisterung. | |
Bei IG Metall-Chef Jörg Hofmann, den der Berliner DGB als Hauptredner | |
eingeladen hat, sieht das anders aus. „Wenn wir sagen, ‚ungebrochen | |
solidarisch‘“, ruft er unter Bezugnahme auf das diesjährige bundesweite | |
1.-Mai-Motto der DGB-Gewerkschaften, dann bedeute dies, Tag für Tag „gegen | |
jegliche Form von Ausbeutung und Ausgrenzung“ zu handeln. Damit trifft er | |
Ton der Versammelten. | |
## Plädoyer für Viertagewoche | |
Hofmann gibt sich betont kämpferisch. Es mache „wütend“, wenn erst die | |
Corona-, dann die Energiekrise viele Haushalte an den Rand ihrer Existenz | |
getrieben hätten, „während Konzerne Milliardengewinne ausschütteten und die | |
Zahl der Milliardäre sich in diesem Land mehr als verdoppelte“, empört er | |
sich unter großem Beifall. | |
Zustimmung erhält Hofmann auch für seine Forderung nach „Arbeitszeiten, die | |
zum Leben passen“. Eine Option dafür sei die [1][von der IG Metall ins | |
Gespräch gebrachte Viertagewoche]. Dabei sei er der „festen Überzeugung“, | |
dass ein voller Lohnausgleich bei kürzerer Arbeitszeit für die Unternehmen | |
alleine schon wegen der höheren Produktivität tragbar sei. | |
Für die Beschäftigten bedeute das, gesünder arbeiten zu können und nicht | |
wie oftmals heute frühzeitig krankheitsbedingt aus dem Job ausscheiden zu | |
müssen. Auf das „Gequatsche“ der Arbeitgeberverbände dagegen habe er | |
„keinen Bock“ mehr, poltert der 67-Jährige, der auf dem Gewerkschaftstag | |
der IG Metall im Oktober in den Ruhestand gehen wird. | |
## „Gegenentwurf zur kalten Verwertungslogik“ | |
Knapp 540 Kilometer entfernt steht die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi auf | |
dem Kölner Heumarkt auf der Bühne. Die Gewerkschaften stünden „für einen | |
Gegenentwurf zur kalten Verwertungslogik der reinen Marktwirtschaft“, ruft | |
sie den etwa 15.000 Demonstrant:innen entgegen, die nach | |
Veranstalterangaben zur zentralen DGB-Kundgebung in die Domstadt gekommen | |
sind. Nur mit einer starken organisierten Arbeiterbewegung und | |
Tarifverträgen könne der Profitgier etwas entgegengesetzt werden. | |
„Von allein und aus reiner Einsicht bewegt sich in den Chefetagen doch gar | |
nichts für das Gemeinwohl, für eine gute Arbeitswelt oder gegen den | |
Klimawandel“, sagt die seit knapp einem Jahr amtierende [2][erste Frau an | |
der DGB-Spitze]. „Am deutlichsten sehen wir die Notwendigkeit unseres | |
Kampfes derzeit bei den Lohnauseinandersetzungen“, so Fahimi. Denn [3][das | |
beste Mittel gegen steigende Lebenshaltungskosten seien kräftige Lohn- und | |
Gehaltszuwächse]. | |
Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass Tarifverträge mittlerweile in vielen | |
Wirtschaftszweigen und Betrieben den Beschäftigten nicht mehr den | |
notwendigen Schutz bieten könnten. „Ganz einfach deswegen, weil von Jahr zu | |
Jahr sich immer mehr Arbeitgeber der Verantwortung entziehen und auf | |
Tarifflucht gehen“, klagt Fahimi. Von der Bundesregierung verlangt die | |
DGB-Chefin, dass sie sich dem EU-Ziel verpflichtet, die Tarifbindung wieder | |
auf mindestens 80 Prozent anzuheben. „Wir haben die Schnauze voll von | |
Lippenbekenntnissen!“ | |
Wie schon zuvor Jörg Hofmann in Berlin erinnert auch Yasmin Fahimi in ihrer | |
Rede in Köln an das dunkelste Datum der deutschen Gewerkschaftsgeschichte: | |
den 2. Mai 1933. „Vor 90 Jahren haben die Faschisten unsere | |
Gewerkschaftshäuser besetzt“, ruft sie aus. Das dürfe sich niemals | |
wiederholen. „Und auch für die Neufaschisten sage ich: Ihr habt hier nichts | |
in unseren Reihen zu suchen.“ | |
Die menschenverachtenden Spaltungsversuche, mit denen Populist:innen | |
und Rechtsextreme das soziale Klima in der Gesellschaft vergiften und die | |
Menschen gegeneinander treiben wollten, würden „stets unsere ungebrochene | |
Gegenwehr finden“, gibt sich Fahimi entschlossen. Um sich gegen Hass, Hetze | |
und Verleumdung zu stellen, brauche es ein solidarisches Miteinander. | |
Nach Angaben des DGB nahmen bundesweit insgesamt 287.880 Menschen | |
bundesweit an den diesjährigen gewerkschaftlichen 1.-Mai-Veranstaltungen | |
teil. | |
1 May 2023 | |
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## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
Marie Frank | |
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