| # taz.de -- 1. Mai und Gewerkschaften: Neuer Frühling | |
| > Beschäftigte in Europa wehren sich gegen niedrige Löhne und steigende | |
| > Lebenshaltungskosten. Aber für die Gewerkschaften bleibt noch viel zu | |
| > tun. | |
| Bild: Traditionsbewusst mit roter Nelke zur Maikundgebung | |
| Der 1. Mai ist für uns ein Tag zum Feiern. Aber wir erheben auch Einspruch. | |
| Am Tag der Arbeit feiern wir die Erfolge der Gewerkschaftsbewegung. Unsere | |
| erfolgreiche Kampagne für den Acht-Stunden-Tag stand am Beginn des | |
| internationalen Tags der Arbeiterbewegung. Und wir bleiben der Tradition | |
| der Gründer unserer Bewegung treu, wenn wir weiter konkrete Verbesserungen | |
| der Bedingungen für arbeitende Menschen fordern. | |
| Kurz vor dem 1. Mai 1913 schrieb Rosa Luxemburg [1][in einem Artikel], dass | |
| „das Gespenst der Teuerung (…) ein flammendes Zeugnis für die lebendige | |
| Wahrheit und die Macht der Ideen der Maifeier“ sei. Deshalb hat die | |
| europäische Gewerkschaftsbewegung in diesem Jahr erst recht einen Anlass, | |
| auf die Straße zu gehen. Alarmierend steigende Lebenshaltungskosten werden | |
| von Unternehmen verursacht, die auf zynische Weise die Preise und [2][ihre | |
| Profite immens steigern] und dies auf Versorgungsprobleme schieben, die | |
| durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine entstanden seien. | |
| Gleichzeitig müssen Beschäftigte den größten Reallohnverlust seit Beginn | |
| des Jahrhunderts hinnehmen. | |
| Nichtsdestotrotz wurde [3][nur in einer Handvoll europäischer Länder eine | |
| Übergewinnsteuer auf solche zusätzlichen Profite eingeführt]. Ich nenne | |
| diese Teuerung ja lieber „Gierflation“. Aber viele führende Politiker sind | |
| abermals entschlossen, die breite Bevölkerung für eine weitere Krise | |
| bezahlen zu lassen, an der sie keinerlei Schuld tragen. Austerität 2.0 | |
| kommt auf uns zu: Politiker fordern Lohnzurückhaltung, gleichzeitig | |
| schießen die Zinsen in die Höhe, Macron setzt in Frankreich auf | |
| undemokratische Weise eine Rentenreform durch, und in Dänemark wird ein | |
| Feiertag gestrichen. | |
| Aber wir sehen heute in Europa auch, dass die Menschen sich wehren. Ein | |
| Dutzend Mal [4][haben die Beschäftigten in ganz Frankreich gestreikt]. | |
| Großbritannien erlebte 2022 die ausgedehntesten Arbeitskämpfe seit den | |
| 1980er Jahren, und in Deutschland kam es Ende März zum „Super-Streiktag“. | |
| Krankenpflegerinnen in Lettland, Arbeiter in tschechischen Reifenfabriken | |
| und Transportarbeiter in den Niederlanden haben sich in den vergangenen | |
| Monaten erfolgreich eine bessere Bezahlung erstritten. | |
| Gewerkschaften wehren sich auch erfolgreich gegen Taktiken, die | |
| Organisierung in weiteren Betrieben zu verhindern. [5][Beschäftigte bei | |
| Amazon in Deutschland] haben immer wieder gegen die Arbeitsbedingungen dort | |
| gestreikt, in Großbritannien in diesem Jahr erstmals. Überall in Europa | |
| organisieren sich die Beschäftigten und erringen Erfolge. Wir können an | |
| diesem 1. Mai stolz sein. Die Herausforderung ist jetzt, aus diesem | |
| Frühling der Arbeiterbewegung dauerhafte Verbesserungen zu | |
| erstreiten.Deshalb wird eine Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung beim | |
| Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbunds in diesem Monat oberste | |
| Priorität haben. 1.000 Delegierte und Teilnehmer, die mehr als 45 | |
| Millionen Beschäftigte repräsentieren, werden nach Berlin kommen und | |
| einen Aktionsplan für die kommenden vier Jahre beraten. | |
| Noch immer profitieren zu wenige Beschäftigte von den Vorteilen | |
| gewerkschaftlicher Organisierung und tariflich abgesicherter | |
| Arbeitsverhältnisse. Sie erhalten in der Regel eine höhere Entlohnung als | |
| in Betrieben, in denen die Arbeitgeber allein die Löhne festlegen. In | |
| Deutschland sind 52 Prozent der Beschäftigten über Tarifverträge | |
| abgesichert, aber in der Hälfte der EU-Mitgliedstaaten liegt diese Quote | |
| unter 50 Prozent. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat sich bereits | |
| erfolgreich für eine [6][EU-Richtlinie zu angemessenen Mindestlöhnen] | |
| eingesetzt. | |
| In zwei Dritteln aller EU-Mitgliedstaaten liegt der Mindestlohn unter der | |
| Schwelle, an der den Beschäftigten das Abrutschen in die Armut droht. | |
| Deutschland gehörte auch dazu, bis der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht wurde | |
| – ein Beispiel, dem andere EU-Staaten folgen sollen. | |
| Vor allem verlangt die EU-Richtlinie, dass Regierungen mit Gewerkschaften | |
| zusammenarbeiten und über gesetzliche Regelungen den Anteil tarifgebundener | |
| Jobs erhöhen. Alle EU-Mitglieder müssen sich für die Tarifbindung einsetzen | |
| und gewerkschaftsfeindliche Bestrebungen bekämpfen. In Staaten mit weniger | |
| als 80 Prozent Tarifbindung muss ein Aktionsplan beschlossen werden, der | |
| dies ändert. Wir Gewerkschaften müssen dafür sorgen, dass dieser bedeutende | |
| Richtungswandel der EU in nationales Recht umgesetzt wird. Immerhin galt | |
| noch vor zehn Jahren in Brüssel das Dogma, dass Tarifverträge dem | |
| Wirtschaftswachstum schadeten. | |
| ## Vorbild USA | |
| Aber das ist nur ein Anfang. Die EU liegt in der Arbeitsmarktpolitik hinter | |
| den USA zurück. Die Biden-Regierung fördert per „Inflation Reduction Act“ | |
| nur Unternehmen, die gewerkschaftlich vereinbarte Löhne bezahlen, sich am | |
| sozialökologischen Umbau beteiligen und Gewinne reinvestieren, statt sie in | |
| die Taschen der Eigentümer fließen zu lassen. Es ist zu begrüßen, dass der | |
| Green Deal der EU ähnlich mit Investitionen umgehen will. | |
| Aber auch Arbeitnehmerrechte und soziale Prinzipien müssen festgeschrieben | |
| werden. Wir können nicht länger hinnehmen, dass große Summen öffentlicher | |
| Gelder an Unternehmen gehen, die rein eigennützig handeln, ihre | |
| Beschäftigten zu schlecht entlohnen und sich darauf verlassen, dass die | |
| Sozialsysteme für den Ausgleich sorgen: Unternehmen wie Amazon etwa, die | |
| von 2019 bis 2021 [7][öffentliche Aufträge in Höhe von 1,3 Milliarden Euro] | |
| erhalten haben. Deshalb wird eine der Forderungen im Berliner Manifest des | |
| Europäischen Gewerkschaftsbunds sein, dass keine öffentlichen Gelder mehr | |
| an gewerkschaftsfeindliche, Steuern vermeidende und die Umwelt zerstörende | |
| Unternehmen fließen dürfen. Auch dafür werden Gewerkschaftsmitglieder in | |
| Europa am 1. Mai auf die Straße gehen. | |
| Aus dem Englischen von Stefan Schaaf | |
| 1 May 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/luxemburg/luxe… | |
| [2] https://www.etuc.org/en/pressrelease/profits-rise-while-wages-fall | |
| [3] /Inflation-in-Spanien/!5864323 | |
| [4] /Krise-in-Frankreich/!5927488 | |
| [5] https://www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++d4de12cc-d3be-11ed-9d5… | |
| [6] https://www.consilium.europa.eu/de/policies/adequate-minimum-wages/ | |
| [7] https://www.uni-europa.org/news/amazon-procurement/ | |
| ## AUTOREN | |
| Esther Lynch | |
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