| # taz.de -- Gewerkschaften zum 1. Mai: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit | |
| > Die Gewerkschaften müssen angesichts einer hohen Inflation bei den | |
| > Tarifverhandlungen liefern – Erwartungen können leicht enttäuscht werden. | |
| Bild: Jasmin Fahimi spricht am 21.03., dem Großstreiktag im öffentlichen Dien… | |
| „Ungebrochen solidarisch“ – das Motto des DGB in diesem Jahr für seine | |
| traditionellen Kundgebungen am 1. Mai bietet Interpretationsspielraum. Es | |
| lässt sich einerseits als selbstbewusste Feststellung lesen – andererseits | |
| aber auch als Aufforderung, ja möglicherweise sogar Hilferuf. So | |
| kämpferisch am Tag der Arbeit die Reden der [1][DGB-Vorsitzenden Yasmin | |
| Fahimi] in Köln oder von Verdi-Chef Frank Werneke in Frankfurt am Main | |
| auch sein werden, können sie doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein | |
| schwieriges Jahr ist, in dem sich die organisierte Arbeiterbewegung | |
| befindet. Ob die Gewerkschaften gestärkt oder geschwächt aus ihm | |
| hervorgehen werden, ist noch nicht ausgemacht. | |
| Auf den ersten Blick mag eine solche Skepsis verwundern. Schließlich haben | |
| die zahlreichen Warnstreiks in den ersten Monaten dieses Jahres gezeigt, | |
| wie mobilisierungs- und kampffähig die deutschen Gewerkschaften immer noch | |
| sind. Und das hat sich für sie ausgezahlt. Allein Wernekes Verdi | |
| verzeichnet seit Jahresbeginn mehr als 70.000 neue Mitglieder. | |
| Doch wie viele davon werden am Ende des Jahres noch dabei sein? Das wird | |
| sich daran entscheiden, für wie akzeptabel sie die mitunter ziemlich große | |
| Differenz zwischen gewerkschaftlichem Anspruch und tarifvertraglicher | |
| Wirklichkeit halten. Einen Hinweis darauf wird Verdi am 12. Mai bekommen. | |
| Dann endet die Mitgliederbefragung über [2][den Tarifabschluss für die 2,5 | |
| Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen]. | |
| Gerade an diesem Abschluss lässt sich anschaulich machen, in welchem | |
| Dilemma sich die Gewerkschaften derzeit befinden. Der Tarifeinigung | |
| vorausgegangen war ein monatelanger Arbeitskampf, an dem sich mehr als eine | |
| halbe Million Beschäftigte beteiligten. Höhepunkt war der [3][eintägige | |
| Mobilitätsstreik Ende März], mit dem Verdi und die Eisenbahngewerkschaft | |
| EVG gemeinsam den öffentlichen Verkehr weitgehend stillgelegt hatten. Diese | |
| große Streikbereitschaft resultierte aus einer hohen Erwartungshaltung, | |
| nämlich dem nicht unberechtigten Anspruch, sowohl aktuelle | |
| Kaufkraftverluste zu verhindern als auch eine bereits erlittene | |
| Reallohnschrumpfung abzumildern. | |
| Dem entsprach die Verdi-Forderung nach einer Lohnerhöhung in diesem Jahr | |
| von 10,5 Prozent, mindestens jedoch 500 Euro mehr im Monat. Herausgekommen | |
| ist deutlich weniger: Wie schon zuvor bei der Deutschen Post gibt es dieses | |
| Jahr im öffentlichen Dienst nur eine steuer- und abgabenfreie | |
| Inflationsausgleichsprämie – obwohl Verdi immer wieder wortreich bekundet | |
| hat, eine solche Sonderzahlung könne nur Ergänzung zu einer absolut | |
| unverzichtbaren Lohnerhöhung sein. Doch die kommt in Höhe von mindestens | |
| 340 Euro erst im März kommenden Jahres. | |
| Hat Verdi schlecht verhandelt? Nein, das lässt sich nicht behaupten. | |
| Zumindest diesmal nicht. Vor drei Jahren aber leider schon, als die | |
| Gewerkschaft während der Coronapandemie einem äußerst niedrigen | |
| Tarifabschluss mit einer viel zu langen Laufzeit zustimmte. Das bescherte | |
| den Beschäftigten schon 2021 einen Reallohnverlust, obwohl damals die | |
| Inflationsrate noch weitaus niedriger lag. Als dann mit Beginn des | |
| Ukrainekriegs die Lebenshaltungskosten dramatisch anstiegen, erwies sich | |
| der Tarifvertrag von 2020 endgültig als Fiasko. | |
| ## Großer Reallohnverlust | |
| Solche Tarifabschlüsse gab es seinerzeit in zahlreichen Branchen. Das macht | |
| es den Gewerkschaften jetzt so schwer. Nach gerade veröffentlichten | |
| Berechnungen des Statistischen Bundesamts sanken insgesamt die Reallöhne in | |
| Deutschland im vergangenen Jahr um durchschnittlich 4 Prozent gegenüber | |
| 2021, einmalige Sonderzahlungen mitgerechnet. Wobei höhere Tarifverträge, | |
| die 2022 in Reaktion auf die gestiegene Inflation abgeschlossen wurden, die | |
| Bilanz aufhübschen. In etlichen Bereichen ist der Reallohnverlust also noch | |
| größer. | |
| Das erklärt die Enttäuschung etlicher Beschäftigter, wenn jetzt das | |
| Ergebnis einer Tarifverhandlung „nur“ ist, einen weiteren Kaufkraftverlust | |
| verhindert zu haben. So kann Verdi-Chef Werneke zwar zu Recht verkünden, | |
| die „größte Tarifsteigerung in der Nachkriegsgeschichte im öffentlichen | |
| Dienst“ erreicht zu haben – und trotzdem bricht kein Jubel aus. | |
| Eine noch härtere Bewährungsprobe steht der EVG bevor. Sie ist mit einer | |
| Rekordforderung in den Tarifstreit mit der Deutschen Bahn gegangen: | |
| Mindestens monatlich 650 Euro mehr soll es dieses Jahr geben. Entsprechend | |
| enorm ist die Fallhöhe. Die EVG hat angedroht, den Zugverkehr wochenlang | |
| lahmzulegen. Aber würde sie das tatsächlich wagen? Und wie werden die | |
| Bahnbeschäftigten reagieren, wenn letztlich ein mit den Verdi-Abschlüssen | |
| vergleichbares Ergebnis herauskommen sollte? Es ist ein schwieriges Jahr | |
| für die Gewerkschaften. | |
| 30 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Pascal Beucker | |
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