| # taz.de -- Unschuldig im Gefängnis: Verdächtig des Justizirrtums | |
| > Saß Manfred Genditzki 13 Jahre lang unschuldig im Gefängnis? Der | |
| > sogenannte Badewannenmord wird verhandelt – zum dritten Mal. | |
| Bild: Manfred Genditzki zwischen seiner Anwältin und seinem Anwalt | |
| München taz | Als Manfred Genditzki am Mittwochmorgen den Gerichtssaal A | |
| 101 im Münchner Justizgebäude betritt, tut er dies zum ersten Mal als | |
| freier Mann. Einen dringenden Tatverdacht sieht das Gericht bei dem | |
| 62-Jährigen nicht. Dabei ist es exakt der Mann, der in diesem Gebäude | |
| bereits zwei Mal wegen des Mordes an Liselotte K. verurteilt worden ist und | |
| dafür mehr als 13 Jahre in Haft saß. Also genau wegen der Sache, um die es | |
| auch am Mittwoch wieder geht. | |
| Am 28. Oktober 2008, so hatte das Gericht damals geurteilt, habe Genditzki | |
| in einer Wohnanlage, in der er als Hausmeister arbeitete, die 87-jährige | |
| Liselotte K. in ihrer eigenen Badewanne ertränkt. Der angebliche Grund: Der | |
| Mann habe Liselotte K. zuvor im Verlauf eines Streits bewusstlos geschlagen | |
| und diese Tat dann verdecken wollen. | |
| Nein, ein Happy-End kann es bei diesem Wiederaufnahmeverfahren so oder so | |
| nicht geben. Wenn denn alles so abgelaufen ist, wie es der Angeklagte | |
| darstellt – und darauf deutet viel hin – und er am Ende freigesprochen | |
| werden sollte, bleiben dennoch [1][mehr als 13 Jahre, die Manfred Genditzki | |
| im Gefängnis saß]. Jahre, in denen seine beiden jüngeren Kinder | |
| heranwuchsen, in denen seine ersten Enkel geboren wurden, in denen er seine | |
| Familie nur bei gelegentlichen Besuchen im Gefängnis sehen konnte. | |
| Es klingt fast verharmlosend, wenn Genditzki selbst nur von einem „Auf und | |
| Ab der Gefühle“ und von „vielen schlechten Tagen“ spricht, die er im Kna… | |
| verlebt habe. | |
| ## Wacklige Indizienlage | |
| Für seine Anwältin Regina Rick ist es denn auch nicht weniger als ein | |
| Justizskandal, was da an diesem Mittwoch in die dritte Runde geht, wie sie | |
| in der Mittagspause vor dem Saal erneut in die Kameras schimpft. Eines ist | |
| es in jedem Fall: ein Stück Justizgeschichte. Denn Wiederaufnahmeverfahren | |
| sind sehr selten, die juristischen Hürden hierfür sehr hoch. | |
| Im Gerichtssaal hat Genditzki seine graue Strickjacke ausgezogen. Im weißen | |
| Hemd sitzt er aufrecht auf seinem Stuhl, die Hände im Schoß. Er schaut den | |
| Staatsanwalt unverwandt an, während dieser die Anklage verliest. Zwei, drei | |
| mal ein leichtes, kaum merkliches Kopfschütteln. Einmal legt ihm die hinter | |
| ihm sitzende Anwältin beruhigend eine Hand auf den Rücken, flüstert ihm | |
| kurz etwas zu. | |
| Den Text, den der Staatsanwalt vorliest, hört Genditzki nicht zum ersten | |
| Mal. Die Anklageschrift trägt das Datum des 18. August 2009, war schon | |
| Grundlage des ersten Verfahrens. Doch seither hat sich viel getan. Nicht | |
| nur wurde Genditzki zweimal aufgrund einer wackligen Indizienlage zu | |
| lebenslanger Haft verurteilt, erstmals 2010 und dann noch einmal in der | |
| Revision 2012. Es gab auch neue Gutachten und Aussagen, die die | |
| ursprüngliche Argumentationskette der Staatsanwaltschaft erschütterten. | |
| Liselotte K. lebte vor ihrem Tod in einer Drei-Zimmer-Wohnung in | |
| Rottach-Egern am Tegernsee. Genditzki war in ihrer Wohnanlage Hausmeister | |
| und kümmerte sich insbesondere nach dem Tod ihres Mannes um die alte Frau, | |
| erledigte Einkäufe, fuhr sie zu Terminen, trank Kaffee mit ihr. Laut | |
| Staatsanwaltschaft war er ihre „wichtigste Bezugsperson“. Zusätzlich gab es | |
| einen Pflegedienst, der täglich vorbeischaute, vor allem um die | |
| Medikamenteneinnahme zu überwachen. | |
| An jenem Oktobertag hatte Genditzki Liselotte K. gerade aus dem Krankenhaus | |
| geholt, wo sie wegen Darmproblemen für fünf Tage gewesen war. Genditzki | |
| brachte sie nach Hause, trank noch einen Kaffee mit ihr und verließ die | |
| Wohnung. Als eine Mitarbeiterin des Pflegediensts am frühen Abend | |
| vorbeikam, fand sie die Frau angezogen in ihrer eingelaufenen Badewanne | |
| liegen, ein Bein hing über den Wannenrand. Liselotte K. war tot. | |
| ## Motiv: ein bloßer Streit? | |
| So weit sind sich alle Seiten über den Hergang der Ereignisse einig. Doch | |
| was die Todesursache angeht, da gehen die Schilderungen auseinander. | |
| Während Genditzki angab, das Haus nach dem gemeinsamen Kaffee verlassen zu | |
| haben, ohne dass etwas Besonderes vorgefallen sei, kamen Polizei und | |
| Staatsanwaltschaft schnell zu der Auffassung, dass sie es hier mit einem | |
| Gewaltverbrechen zu tun haben. Vom „Badewannenmord“ war in der Folge stets | |
| die Rede. Im Visier hatten sie Manfred Genditzki. | |
| Zu Beginn des ersten Verfahrens war die Staatsanwaltschaft noch der | |
| Ansicht, der Hausmeister habe während des Krankenhausaufenthalts von | |
| Liselotte K. insgesamt 8.000 Euro, Schmuck und zwei Pelzmäntel aus ihrer | |
| Wohnung gestohlen. Nachdem K. den Diebstahl entdeckt habe, habe Genditzki | |
| ihn durch den Mord verdecken wollen. | |
| Im Verlauf des Prozesses entdeckte die Staatsanwaltschaft jedoch, dass es | |
| für diese Annahme keine ausreichenden Anhaltspunkte gab und ließ den | |
| Vorwurf des Diebstahls wieder fallen. Da dieser allerdings das Motiv für | |
| den angenommenen Mord darstellte, argumentierte sie in der Folge nur noch, | |
| es sei zu einem Streit aus nichtigem Anlass gekommen. | |
| Dass es sich um keinen Unfalltod gehandelt haben konnte, schloss das | |
| Gericht vor allem aus dem Gutachten des Rechtsmediziners, der K. | |
| obduzierte. Demnach hätte die Tote anders in der Badewanne liegen müssen, | |
| wenn sie gestürzt wäre. Außerdem habe die Leiche zwei Hämatome am Kopf | |
| festgestellt, die nicht von einem Sturz hätten herrühren können. | |
| ## Computersimulation zeigt: Sturz wäre möglich gewesen | |
| Das Gericht folgte dieser Argumentation in beiden Verfahren. „Die Kammer | |
| ist nach Würdigung aller Umstände davon überzeugt, dass als Täter nur der | |
| Angeklagte in Frage kommt“, so ließ das Gericht nach der zweiten | |
| Verurteilung am 17. Januar 2012 verlauten. Was aber, wenn es gar keine Tat | |
| gab? | |
| Auf diese Möglichkeit deutete schon damals einiges hin – zum Beispiel das | |
| fehlende Motiv. Doch inzwischen verdichteten sich die Hinweise massiv. So | |
| hat Genditzkis Anwältin Regina Rick mit Hilfe privater Spender ein neues | |
| Gutachten in Auftrag gegeben, das mittels einer Computersimulation zeigt: | |
| Der Sturz wäre so möglich gewesen. Auch die Hämatome habe sich Liselotte | |
| demnach bei dem Sturz zuziehen können. | |
| Ein thermodynamisches Gutachten kam zudem zu dem Schluss, dass der | |
| Todeszeitpunkt wesentlich später gelegen haben muss, als ursprünglich | |
| angenommen. Genditzki gäbe dies ein Alibi. Auch die These des Gerichts, es | |
| habe keinen Grund für Liselotte K. gegeben, selbst Wasser in die Wanne | |
| einlaufen zu lassen, da sie zu der Zeit nur noch mit Hilfe des | |
| Pflegediensts badete, scheint mittlerweile zweifelhaft: Eine Bekannte von | |
| K. hatte sich Jahre nach der Verurteilung gemeldet und berichtet, dass die | |
| alte Frau die Angewohnheit gehabt habe, ihre Wäsche immer in der Badewanne | |
| vorzuwaschen. | |
| ## Vertrauen erworben, nicht erschlichen | |
| Trotz der gewichtigen Argumente, verwarf die 1. Strafkammer am Landgericht | |
| Ende 2020 einen Wiederaufnahmeantrag von Anwältin Rick als unzulässig. Das | |
| Oberlandesgericht gab jedoch einer Beschwerde Ricks gegen diese | |
| Entscheidung statt. Am 12. August 2022 [2][ordnete die 1. Strafkammer dann | |
| die Wiederaufnahme an] und setzte Genditzki auf freien Fuß. | |
| Zu Beginn des Wiederaufnahmeverfahrens am Mittwoch verliest Anwältin Rick | |
| eine Erklärung, in der sie Genditzki als überaus korrekten Menschen | |
| beschreibt. Nie habe er ein Gewaltdelikt begangen, sich auch nur geprügelt. | |
| Nie habe er etwas gestohlen. Im Gegenteil: Einmal habe er etwa die Wohnung | |
| einer Verstorbenen ausräumen sollen. Als er dabei zwei Schachteln mit | |
| Goldschmuck entdeckt habe, hätte er diese unbemerkt mitgehen lassen können. | |
| Stattdessen informierte er die Angehörigen. | |
| So habe er sich auch das Vertrauen von Liselotte K. nicht erschlichen, wie | |
| die Staatsanwaltschaft behauptet, sondern durch seine korrekte Art und | |
| Hilfsbereitschaft erworben. Sie schildert den Ablauf der Geschehnisse aus | |
| der Sicht ihres Mandanten und schließt: „Herr Genditzki hat ihr nichts | |
| getan. Er saß 13 Jahre und sieben Monate unschuldig im Gefängnis.“ | |
| Ob dies tatsächlich so ist, ob sich die bayerische Justiz hier einen | |
| [3][gravierenden und vermeidbaren Irrtum] wird vorwerfen lassen müssen, | |
| darüber hat nun das Gericht unter der Vorsitzenden Richterin Elisabeth Ehrl | |
| zu befinden. 20 Verhandlungstage hat sie dafür angesetzt. | |
| 26 Apr 2023 | |
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| [1] /Unschuldig-im-Gefaengnis/!5703214 | |
| [2] https://www.justiz.bayern.de/gerichte-und-behoerden/oberlandesgerichte/muen… | |
| [3] /Unrechte-Zwangseinweisung-in-Psychiatrie/!5637040 | |
| ## AUTOREN | |
| Dominik Baur | |
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| Gustl Mollath | |
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