# taz.de -- Prozess um angeblichen „Badewannen-Mord“: „Die 13 Jahre sind … | |
> Es war einer der größten Justizirrtümer der deutschen | |
> Nachkriegsgeschichte. Jetzt wurde Manfred Genditzki vom Vorwurf des Mords | |
> freigesprochen. | |
Bild: Nach dem Freispruch des Münchner Landgerichts ist Manfred Genditzki endl… | |
MÜNCHEN taz | Es ist Punkt 10 Uhr an diesem Freitagvormittag, als das linke | |
Bein von Manfred Genditzki zur Ruhe kommt. Die Anspannung war ihm zuvor | |
deutlich anzusehen. Während die Fotografen und Kameraleute im Gerichtssaal | |
ihre Bilder einfingen, er sich noch ein letztes Mal vor dem Urteilsspruch | |
mit seinen Verteidigern besprach, wippte er die ganze Zeit nervös mit dem | |
Bein. | |
Doch dann, als die Richter den Saal betreten haben, die Vorsitzende | |
Richterin Elisabeth Ehrl das Urteil im Wiederaufnahmeverfahren gegen | |
Manfred Genditzki verkündet, die Worte „im Namen des Volkes“ und „wird | |
freigesprochen“ fallen, steht das Bein still. Oben auf der Zuschauertribüne | |
ist ein schwerer Seufzer zu hören, jemand beginnt zu weinen. Es ist | |
Genditzkis Schwester. | |
Zum Schluss waren sie sich ja ohnehin alle einig: Die Staatsanwaltschaft | |
forderte Freispruch, die Verteidigung forderte Freispruch, und so war es | |
keine allzu große Überraschung, dass auch das Gericht zu dem Schluss kam: | |
Manfred Genditzki hat mit dem Tod der Rentnerin Liselotte K. nichts zu tun. | |
Er saß nicht nur für einen Mord im Gefängnis, den er nicht begangen hatte, | |
sondern für einen Mord, den es nie gegeben hat. Denn nach allem | |
menschlichen Dafürhalten war es ein Unfall, bei dem die alte Frau ums Leben | |
kam. | |
Genditzki selbst verfolgt die anschließende Urteilsbegründung, die genau | |
dies darlegt, weitgehend regungslos. Er sitzt aufrecht auf dem Stuhl, auf | |
dem er schon so viele Verhandlungstage verbracht hat. Die Hände hat er in | |
den Schoss gelegt und blickt vor sich hin. Erst hinterher, als er aus dem | |
Gerichtssaal tritt, seine Kinder in den Arm nimmt, seine Frau küsst, von | |
jemandem Blumen in die Hand gedrückt bekommt, erst dann wird er zum ersten | |
Mal lächeln. | |
## Wiederaufnahmeverfahren sehr selten | |
Es ist ein Prozess, der schon vor seinem Ende an diesem Freitag | |
Justizgeschichte geschrieben hat. Wiederaufnahmeverfahren sind eine sehr | |
seltene Sache. So weist Laurent Lafleur, der Pressesprecher des | |
Landgerichts München, darauf hin, dass er seit fast 17 Jahren bei der | |
Justiz sei und der Fall Genditzki in dieser Zeit das erste | |
Wiederaufnahmeverfahren am Schwurgericht des Landgerichts München I sei. | |
Auch erfahrenere Kollegen könnten sich nur an ein weiteres Verfahren | |
erinnern, bei dem es um ein Tötungsdelikt ging. „Da gab es am Ende aber | |
eine erneute Verurteilung.“ | |
Auch Justizirrtümer sind selten. Zumindest diejenigen, die von der Justiz | |
selbst eingestanden werden. In sehr wenigen solcher Fälle hat in der | |
deutschen Nachkriegsgeschichte jemand länger unschuldig im Gefängnis | |
gesessen als Manfred Genditzki. So verurteilte etwa das Schwurgericht des | |
Landgerichts Offenburg einen Mann wegen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus, | |
der dann 14 Jahre seine Haft absaß, bevor seine Unschuld bewiesen war. | |
Dieses Urteil fiel 1955. | |
[1][Vom „Badewannen-Mord“ war in den ersten beiden Verfahren gegen Manfred | |
Genditzki stets die Rede.] Das vermeintliche Verbrechen, dessentwegen der | |
Mann zweimal verurteilt wurde: Er soll am 28. Oktober 2008 die 87-jährige | |
Liselotte K. in ihrer eigenen Badewanne ertränkt haben. Genditzki arbeitete | |
in K.s Wohnanlage am Tegernsee als Hausmeister und half der alten Dame oft | |
auch mit Erledigungen. Bei einem Streit, so befanden Staatsanwaltschaft und | |
Gericht damals, habe er sie jedoch bewusstlos geschlagen, und, um die Tat | |
zu vertuschen, dann umgebracht. Eine Mitarbeiterin eines Pflegedienstes | |
hatte Liselotte K. angezogen in der eingelaufenen Badewanne aufgefunden. | |
Ein Bein hing über den Wannenrand, die Rentnerin war tot. | |
## Auf Mordtheorie versteift | |
Daraufhin lief das Ganze – etwas verkürzt – folgendermaßen ab: Man legte | |
sich zu Beginn der Ermittlungen sehr schnell auf die Mordtheorie fest. Das | |
fing schon bei der Inaugenscheinnahme durch einen ersten Gerichtsmediziner | |
an und setzte sich unmittelbar mit den einseitigen Ermittlungen der | |
zuständigen Kommissarin und der Arbeit der Staatsanwaltschaft fort. Stur | |
blieb man bei der These, fegte Indizien, die gegen sie sprachen, vom Tisch. | |
Unter dieser Prämisse kam dann nur Genditzki als Täter in Frage. Er war der | |
Letzte, der die Frau lebend gesehen hatte. Kurz zuvor hatte er sie noch aus | |
dem Krankenhaus geholt, in dem sie ein paar Tage gewesen war. Dass es kein | |
überzeugendes Motiv gab – geschenkt. | |
Dazu kam: Alle nach Meinung von Genditzkis Verteidigern zum Teil an den | |
Haaren herbeigezogenen Indizien ließen sich einigermaßen schlüssig | |
erklären. Beispiel: Ein Schlüssel, der von außen in der Wohnungstür | |
steckte. Polizei und Staatsanwaltschaft deuteten dies als Versuch | |
Genditzkis, zu verhindern, dass man ihn als Hausmeister rufe und er beim | |
Auffinden der Leiche zugegen sei. | |
Aber welchen Grund soll er dafür gehabt haben, fragt Richterin Ehrl. | |
Plausibler findet sie Genditzkis Begründung: Liselotte K. habe ihn gebeten, | |
den Schlüssel stecken zu lassen, damit später der Pflegedienst auch dann in | |
die Wohnung komme, falls sie sich hingelegt habe. Oder die angeblich | |
falsche Aussprache eines Namens: Die Polizei vermutete einen | |
Vertuschungsversuch, Genditzki habe verhindern wollen, dass man eine Zeugin | |
dieses Namens ausfindig mache. In Wirklichkeit handelte es sich schlicht um | |
einen holländischen Namen. Und Genditzki sprach ihn korrekt aus. | |
## „Keine Anhaltspunkte für ein Tötungsdelikt“ | |
Letzten Endes war es aber vor allem ein privat finanziertes biomechanisches | |
Gutachten, das Regina Rick in Auftrag gegeben hatte. Rick ist die Anwältin | |
Genditzkis, die seit Jahren – trotz diverser Rückschläge – für ein | |
Wiederaufnahmeverfahren kämpfte. Das Gutachten legte anhand von | |
Computersimulationen dar, dass die Rentnerin auch bei einem Sturz in der | |
Weise in der Wanne zum Liegen gekommen sein kann, in der sie aufgefunden | |
wurde, dass dies sogar wahrscheinlich sei. Der Gerichtsmediziner hatte dies | |
bei einer Begutachtung des Tatorts spontan ausgeschlossen und den Fall so | |
ins Rollen gebracht. | |
Mittels eines thermodynamischen Gutachtens konnte außerdem der | |
Todeszeitpunkt näher eingegrenzt werden – auf einen Zeitraum, für den | |
Genditzki ein Alibi hat. Sie sei, „vorsichtig formuliert, sehr verwundert“ | |
über die damaligen Ermittlungen, führte die Vorsitzende Richterin aus, | |
wolle aber „nicht beurteilen, was und warum damals alles irgendwie | |
schiefgelaufen ist“. Manches sei schon sehr einseitig zu Genditzkis Lasten | |
„verarbeitet“ worden. | |
Ehrl spricht von einer „Kumulation von Fehlleistungen“. Als Ergebnis des | |
Wiederaufnahmeverfahrens stehe für das Gericht fest: „Es gibt keinen | |
tatsächlichen Anhaltspunkt, dass Frau K. Opfer eines Tötungsdeliktes | |
geworden ist.“ Der Angeklagte sei „aus tatsächlichen Gründen wegen | |
erwiesener Unschuld freizusprechen“. | |
Am Ende wendet sich die Richterin noch einmal direkt an Genditzki, der das | |
Verfahren mit „bewundernswerter Geduld“ verfolgt habe: „Es tut uns wirkli… | |
aufrichtig leid.“ Und plötzlich wird auch die Stimme der sonst eher | |
forschen Richterin etwas brüchig. Für sehr viele Jahre, sagt sie, sei | |
Genditzki in Justizvollzugsanstalten inhaftiert gewesen. Es sei ihm nicht | |
vergönnt gewesen, seine Kinder aufwachsen zu sehen, zur Beerdigung seiner | |
Mutter zu gehen, alles das mit der Familie zu unternehmen, was Freude | |
macht. „Wir wünschen Ihnen, dass Sie jetzt endlich wieder zur Ruhe kommen.“ | |
Die Besuchertribüne ist während der Urteilsverkündung nahezu voll besetzt. | |
Als Genditzki aus dem Gerichtssaal tritt, brandet Applaus auf, auch später | |
noch mal, nachdem er vor den Kameras Auskunft darüber gegeben hat, wie es | |
ihm jetzt geht. „Erleichtert“, sagt er, aber: „Grund zu Jubeln habe ich | |
nicht. Die 13 Jahre sind weg.“ Er wisse, dass er heute Nacht wieder | |
schlecht schlafen werde. Der eigentliche Verarbeitungsprozess beginne erst | |
jetzt. | |
7 Jul 2023 | |
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## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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