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# taz.de -- Unschuldig im Gefängnis?: Im Zweifel „lebenslänglich“
> 2008 soll Manfred Genditzki eine Rentnerin in ihrer Badewanne ertränkt
> haben. Ein Gericht verurteilte ihn wegen Mordes. Zu Unrecht?
Bild: Justizvollzugsanstalt Landsberg am Lech: In diesem Gefängnis sitzt Manfr…
In Sichtweite der JVA Landsberg am Lech erheben sich die Alpen. Vor der
Gefängnismauer stehen Spielgeräte, Farbe blättert von einer Schaukel.
Hinter dem Stacheldraht zeigt eine Turmuhr Viertel vor vier, immer, auch an
diesem Vormittag im Juli 2020. In der JVA Landsberg am Lech ist die Zeit
stehen geblieben.
Im Leben von Manfred Genditzki spielt die Zeit eine besondere Rolle. An
einem Nachmittag vor zwölf Jahren ging es um jede Minute. Heute sagt
Genditzki: „Auf ein paar Monate kommt es nun auch nicht mehr an.“ Seine
Stimme klingt dumpf durch die Trennscheibe. Wer Genditzki besuchen will,
muss sein Gewicht dreimal gegen schwere Türen stemmen.
In blauer Hose und faltenfreiem Hemd sitzt Genditzki im Besucherraum. Das
Gegenlicht lässt ihn blass aussehen. Normalerweise wäre Genditzki jetzt in
der Wäscherei. Von sechs bis drei hat er Schicht, danach eine Stunde
Hofgang, dann ein bisschen Schach. Genditzki ist wegen Mordes zu
lebenslanger Haft verurteilt. Am 28. Oktober 2008 soll er die Rentnerin
Lieselotte Kortüm in ihrer Badewanne ertränkt haben.
Schon zweimal hat ihn ein Münchner Gericht schuldig gesprochen. Doch bis
heute gibt es Zweifel. Glaubt man dem Urteil, ist Lieselotte Kortüm das
Opfer eines Mörders. Glaubt man den Unterstützern Genditzkis, ist er das
Opfer – eines Justizirrtums.
Manfred Genditzki hat die Tat immer bestritten. Vier neue Gutachten und
eine ungehörte Zeugin sollen jetzt beweisen, dass der Tod Kortüms ein
Unfall war. Im Juni 2019 hat Genditzkis Anwältin die Wiederaufnahme des
Verfahrens beantragt. Über 1.000 Menschen unterstützten das in einer
Petition. Doch bislang hat das zuständige Gericht nicht entschieden.
Am 28. Oktober 2008 kümmert sich Manfred Genditzki schon seit 13 Jahren um
Lieselotte Kortüm. Er ist Hausmeister in der Wohnanlage, in der die
Rentnerin lebt. Und er ist die „Hauptbezugsperson von Frau Kortüm“, wie es
später im Urteil heißt. An jenem Oktobertag holt Genditzki sie aus dem
Krankenhaus ab, wo die 87-Jährige wegen Magen-Darm-Beschwerden behandelt
wurde. In ihrer Wohnung in Rottach-Egern am Tegernsee trinken die beiden
gemeinsam Kaffee. Von da an unterscheiden sich die Erzählungen.
Gegen 15 Uhr muss es zum Streit gekommen sein, urteilen die Richter.
Genditzki habe die alte Dame zweimal „mit großer Wucht“ auf den Hinterkopf
geschlagen oder sie geschubst. Sogleich habe er seine Tat bereut: Um 14:57
Uhr ruft er Kortüms Hausarzt an. Zweimal hintereinander lässt er es kurz
läuten. Dann habe er es sich anders überlegt. Um 15:09 Uhr gibt er dem
Pflegedienst Bescheid, dass die Rentnerin nun zu Hause sei.
In den elf Minuten dazwischen, so das Urteil, soll Manfred Genditzki
Lieselotte Kortüm in ihrer Badewanne ertränkt haben, um seine Gewalttat zu
vertuschen.
Genditzki sagt, er habe mit seinen Anrufen einfach den Arzt und den
Pflegedienst informieren wollen, dass Kortüm wieder zu Hause sei. Hinter
der Trennscheibe spricht er nur in knappen Sätzen über diesen Tag. Zu viel
reden, das hat ihn überhaupt erst ins Gefängnis gebracht, glauben manche.
Denn anfangs gibt es gar keinen Tatverdacht. Der Rechtsmediziner geht von
einem Unfall aus. Doch Manfred Genditzki bringt noch am Todestag Schmuck
zur Polizei, den die Rentnerin seiner Frau geschenkt hat – um nicht als
Erbschleicher dazustehen, wie er sagt. Er zeigt den Beamten einen
Kassenbon, der auf 15:30 Uhr datiert ist. Bei einer zweiten Vernehmung soll
er mindestens eine halbe Stunde lang ohne Pause geredet haben. Die Beamten
finden das verdächtig.
Genditzki denkt sich nichts dabei. „Ich habe immer an das Gute geglaubt.“
Manches, was er sagt, würde draußen abgedroschen klingen, hinter den
Gefängnismauern tut es das nicht. Noch bei seiner Verhaftung habe Genditzki
gedacht, die Sache kläre sich schnell. In den Vernehmungen, aber es sei
zugegangen wie auf einem Flohmarkt. Beamte hätten ihn gedrängt, etwas
zuzugeben, um ein geringere Strafe zu erhalten: „ ‚Sagen Sie doch, dass Sie
etwas damit zu tun haben. Vielleicht haben Sie die Dame ja auch nur
geschubst?‘ Solche Sprüche kamen da“, sagt Genditzki.
Wochen nach dem Tod von Kortüm ändert der Rechtsmediziner sein Gutachten.
Nach einem Besuch in ihrem Bad schreibt er, ein Sturz in die Wanne könne
nicht die zwei Hämatome am Hinterkopf der Toten erklären. Ein Unfall sei
somit ausgeschlossen. Seinen Befund demonstriert er im Gerichtssaal an
einem selbst gebastelten Badewannenmodell.
Der Rechtsmediziner kann den Todeszeitpunkt nicht exakt bestimmen. Auch
findet sich keine DNA von Genditzki an der Toten. Und Zeugen berichten,
dass Kortüm immer wieder unter Schwindelattacken gelitten habe und gestürzt
sei. Dennoch schließt das Urteil einen Unfall aus. In den Monaten vor ihrem
Tod seien schließlich keine Stürze mehr in der Krankenakte der 87-Jährigen
dokumentiert.
Auch die Frage, ob Kortüm ihre Badewanne überhaupt benutzt habe, wird vor
Gericht tagelang diskutiert. Hat sie ihre Füße darin gewaschen? Oder
schmutzige Kleidung eingeweicht? Ihre Wäsche war wegen der
Magen-Darm-Beschwerden verkotet. Zeugen beschreiben sie als jemanden, dem
Hygiene wichtig war. An der Badewanne findet sich ihre DNA. Trotzdem
schließt das Gericht aus, dass die ältere Dame ihre Wanne benutzte. Sie
habe doch zu viel Angst vor Stürzen gehabt.
Staatsanwalt Florian Gliwitzky sieht auch ein triftiges Motiv: Im Oktober
2008 hat Manfred Genditzki über 120.000 Euro Schulden. Tage vor dem Tod von
Kortüm zahlt er 8.000 Euro zurück. Der Hausmeister habe offenbar Geld
entwendet, und Kortüm sei ihm auf die Schliche gekommen. Dann habe er
zugeschlagen. Doch Manfred Genditzki kann vor Gericht belegen, dass er
nichts gestohlen hat.
Bis heute geht es immer wieder ums Geld. Auch andere Inhaftierte glaubten
an seine Unschuld, erzählt Genditzki. „Die sagen: ‚Wenn du mal rauskannst,
bekommst du richtig Geld.‘ “ Genditzki redet jetzt schneller und lauter. Er
sagt, eine Haftentschädigung sei ihm doch egal – er wolle seine Familie
sehen.
Manfred Genditzki hat drei Kinder, sie sind 33, 14 und 11 Jahre alt. Als
seine jüngste Tochter zur Welt kam, saß er schon in Haft. Vor einigen
Wochen wurde seine zweite Enkelin geboren und Genditzki war immer noch im
Gefängnis. Auch seinen 60. Geburtstag im Mai hat er dort verbracht.
Den letzten Familienbesuch bekam er im Februar. Wegen der Coronapandemie
sind Treffen momentan nur hinter Trennscheibe möglich. Ohne Umarmung lohne
sich die stundenlange Fahrt für die Familie nicht, sagt Genditzki. Mit
seinen jüngeren Kindern telefoniert er seitdem zweimal im Monat. Sie
sprechen dann über Fußball, Turnen oder Taekwondo. „Wenn sie kommen, sind
sie wieder ein Stück größer. Und nichts davon erlebe ich.“
Vor der Haft wollte Genditzki sein Haus abbezahlen, mal in den Urlaub
fahren. Jetzt will er die Wiederaufnahme seines Verfahrens schaffen. Wenn
er entlassen werde, müsse er seine Frau eigentlich ein zweites Mal
heiraten, scherzt er, als Dank für ihre Loyalität. Echte Pläne für ein
Danach macht er nicht. „Kann sein, ich komm raus, und sie sagt: ‚Ich brauch
den Deppen nicht mehr.‘ “
Als sich im ersten Prozess herausstellt, dass der Hausmeister nichts
gestohlen hat, präsentiert Staatswanwalt Gliwitzky ein neues Motiv: Stress.
Am Tag bevor die Richter ihr Urteil sprechen, erklärt der Staatsanwalt:
Kortüm habe es geärgert, dass Genditzki an jenem Oktobertag schon gehen und
seine Mutter im Krankenhaus besuchen wollte. Genditzki habe sich bedrängt
gefühlt und die Kontrolle verloren, also zugeschlagen.
Das Gericht folgt der Argumentation. Am 12. Mai 2010 spricht ihn die Erste
Strafkammer des Landgerichts München II schuldig. Wegen Mordes verurteilt
sie ihn zu lebenslanger Haft. Zeugen eines Streits zwischen Genditzki und
Kortüm gibt es nicht.
Nach dem ersten Prozess bekommt Genditzki einen neuen Anwalt, einen
Experten für Revisionen – sein Antrag hat Erfolg. Der Bundesgerichtshof
hebt das Urteil auf und rügt das Verfahren – gegen die geänderten Vorwürfe
habe sich Genditzki nicht ausreichend verteidigen können.
Im November 2011 beginnt eine neue Verhandlung, dieses Mal vor der Vierten
Strafkammer, aber wieder am Landgericht München II. Im Spiegel schreibt
eine Reporterin, im Fall Genditzki sei es durch den ersten Prozess „fast
zum GAU gekommen.“ Nun erhalte Genditzki eine zweite Chance.
Doch am 17. Januar 2012 spricht das Gericht Genditzki erneut schuldig.
Manche Passagen aus dem ersten Urteil übernimmt es Wort für Wort. Auch den
Streit, für den es keine Zeugen gibt. Frau Kortüm habe darauf bestanden,
dass Genditzki später mit seiner Familie zum Kaffeetrinken komme. Im Urteil
heißt es, er sei entgegen seiner „meist gezeigten Langmut derart in Rage“
geraten, „dass er sich zu einer Tätlichkeit gegenüber Frau (geschwärzt)
hinreißen ließ“.
„Ich dachte, die wollen mich verarschen“, sagt Genditzki. „Streit um eine
Tasse Kaffee. Da hätte ich doch einfach gehen können.“
Dass Manfred Genditzki jemals die Nerven verlor, ist nicht belegt. Er ist
jemand, der gerne gebraucht wird. Auch im Gefängnis will er sich
einbringen. Wegen des Coronavirus gelten zusätzliche Schutzmaßnahmen.
Genditzki fürchtet, nach einem notwendigen Arztbesuch in Quarantäne zu
müssen. Dann könnte er nicht mehr arbeiten, wäre zwei Wochen lang ohne
Aufgabe. „Und das wäre die Hölle“, sagt er.
Für Lieselotte Kortüm machte Genditzki täglich Frühstück, erledigte ihre
Einkäufe. Auch anderen Bewohnern der Wohnanlage half er. An seine
Schwiegermutter in der Ukraine überwies Genditzki jeden Monat 200 bis 300
Euro. Nachbarn und Bekannte beschrieben ihn im Prozess als sympathischen
Zeitgenossen. Er habe engagiert gearbeitet, sei „sehr hilfsbereit“ gewesen.
Das Gericht in München erkennt das an. Doch es hält Genditzki auch für
einen, dem die eigene Gutmütigkeit zu viel wurde. 300 Anrufe von Lieselotte
Kortüm hat sein Handy in vier Monaten gespeichert. Wohlwollende Aussagen
beschreiben Kortüm als resolut, andere als bestimmend und eifersüchtig.
Genditzki sagt über Kortüm: „Sie hat niemanden mehr gehabt, sie hat sich
natürlich ein bisschen an uns geklammert. Aber sie war eine absolut nette
Person. Ostpreußin, alte Schule. Geradeheraus. Sie hat gesagt, was sie
denkt. Und das hat mir gefallen.“
Das Gericht sieht das anders. Kortüms Forderungen müssten Genditzki so
unter Druck gesetzt haben, dass er am Ende zuschlug – oder schubste, denn
die genaue Herkunft der Hämatome bleibt auch im zweiten Prozess unklar.
Regina Rick nennt diesen Streit „eine Erfindung der Justiz“. Rick ist
Manfred Genditzkis dritte Anwältin. 2012 hat sie den Fall übernommen,
nachdem der zweite Anwalt bei einem Unfall gestorben war. Ihr Mandant sei
frustrationstolerant, sagt Rick, auch ein Gutachten belege das. Doch selbst
das habe das Gericht zu Gemditzkis Nachteil interpretiert: „Als müsse auch
einem friedfertigen Menschen irgendwann das Fass überlaufen.“
Rick empfängt in ihrer Kanzlei im Zentrum Münchens. Große Räume, hohe
Fenster, Parkett: Möglich machen das Einnahmen aus dem Wirtschaftsrecht. Am
Fall Genditzki arbeitet Rick meist pro bono. Sie ist überzeugt davon, dass
Manfred Genditzki unschuldig ist.
Sieben Jahre lang hat Rick Belege für Genditzkis Unschuld gesammelt.
Mehrere zehntausend Euro hat die Erstellung von Gutachten gekostet, Rick
und die Unterstützer Genditzkis haben sie über Spenden finanziert.
Die Anwältin klappt ihren Laptop auf und öffnet eine Computersimulation.
Sie zeigt eine animierte Person vor einer Badewanne. In Zeitlupe fällt ihr
Körper vornüber hinein, zweimal schlägt der Kopf dabei an die Wanne.
Schließlich bleibt der Körper in der Position liegen, in der auch
Lieselotte Kortüm gefunden wurde. Die Simulation und die Gutachten legen
nahe, dass die Tote sich ihre Hämatome sehr wohl bei einem Sturz habe
zuziehen können.
Über ein weiteres Gutachten hat Rick den Todeszeitpunkt eingrenzen lassen.
Mit verschiedenen Methoden haben mehrere Wissenschaftler berechnet, dass
der Tod vermutlich nach 15:30 Uhr, wahrscheinlich aber noch später eintrat.
Alle Gutachter verweisen auch auf Unsicherheiten in der Berechnung. „Aber
selbst wenn wir für Herrn Genditzki die ungünstigsten Bedingungen annehmen,
ist die Dame aller Wahrscheinlichkeit erst dann gestorben, als Herr
Genditzki längst ein Alibi hatte“, sagt Rick.
Der Wert von Gutachten ist in der Justiz umstritten – auch der des ersten
Gutachtens, das zu Genditzkis Verurteilung führte. Regina Rick hat jedoch
auch eine neue Zeugin.
2019 meldet sich eine frühere Freundin von Kortüm bei der Anwältin. Zwanzig
Jahre lang standen Christiane Eyssele und Lieselotte Kortüm in engem
Kontakt, bis sie sich aus den Augen verloren. Erst Jahre nach Kortüms Tod
liest Eyssele durch Zufall etwas über den Mordprozess. Zwei Dinge, die sie
berichtet: Kortüm sei schon früher immer wieder umgekippt „wie ein Brett“.
Einmal sei sie in Eysseles Gegenwart in die volle Badewanne gefallen. Dort
nämlich habe die alte Dame ständig Wäsche eingeweicht. „Das war offenbar
ein regelrechter Spleen von ihr“, erzählt Regina Rick. Was Eyssele über
Kortüm berichtet, ist mit der Argumentation des Gerichts nicht in Einklang
zu bringen. Überhaupt findet Regina Rick es „eigentlich unglaublich, den
Sturz einer multimorbiden 87-jährigen Dame auszuschließen“.
Im Juni 2019 hat Rick deswegen am Landgericht München I beantragt, das
Verfahren wieder aufzunehmen. Knapp 1.300 Menschen unterstützten ihren
Antrag mittlerweile in einer Petition. Einer der Organisatoren der Petition
ist Stanislaus Benecke. Er hat Manfred Genditzki nie getroffen, wie die
meisten Unterzeichneten. „Ich weiß nicht, was dort vorgefallen ist“, sagt
Benecke.
Aber die Argumentation des Gerichts hält er für „in einer gravierenden
Weise nicht nachvollziehbar“. Er glaubt, so könne jeder zum Opfer der
Justiz werden. Für Unterstützer wie Benecke steht fest: In dubio pro reo,
im Zweifel für den Angeklagten – das galt für Manfred Genditzki nicht.
Die taz hat auch die zuständigen Justizbehörden in München um eine
Stellungnahme gebeten. Schon im Herbst 2019 empfahl die zuständige
Staatsanwaltschaft, Ricks Antrag abzulehnen. Kommentieren dürfe sie das
nicht, da ein laufender Antrag einem laufenden Verfahren gleichkomme.
Die Staatsanwaltschaft verweist deshalb an die Pressestelle des
Oberlandesgerichts. Deren Leiter ist heute ausgerechnet Florian Gliwitzky –
jener Staatsanwalt, der 2010 und 2012 die Anklage gegen Manfred Genditzki
führte. Als ehemaliger Staatsanwalt, so Gliwitzky, könne er sich nicht
öffentlich zu dem Fall äußern.
Stattdessen meldet sich seine Vertreterin: Da der Wiederaufnahmeantrag sehr
umfassend sei, benötige das Gericht Zeit, um alle Punkte gründlich zu
prüfen. Dann kommentiert sie den Streit, der zwischen Kortüm und Genditzki
stattgefunden haben soll: Es gelinge eben nicht immer, das Motiv eines
Täters zweifelsfrei zu klären. Selbst wenn gar kein Motiv gefunden wird,
könne ein Täter verurteilt werden.
Das rechtskräftige Urteil aber beschreibt den Streit zwischen Genditzki und
Kortüm nicht als Eventualität, sondern als Fakt.
Anwältin Rick glaubt, dass es Justizbehörden in Bayern besonders
schwerfällt, Fehler zuzugeben. Nicht nur im Fall Gustl Mollath sei das so
gewesen. Rick hat auch die Familie Rupp verteidigt. 2005 verurteilte ein
Gericht in Ingolstadt mehrere Verwandte für den Mord an Rudi Rupp. Sie
sollen ihn gemeinsam zerstückelt und an Hunde verfüttert haben. Das hatte
die Familie auch gestanden.
Obwohl ihre Schilderungen sich widersprachen, kam ein Teil der Familie in
Haft. 2009 jedoch zogen Taucher Rudi Rupp in seinem Wagen aus der Donau –
tot, aber unverletzt. Offenbar hatte die Polizei die Verurteilten gedrängt,
ein falsches Geständnis abzulegen. Gutachter attestierten den Verurteilten
eine verminderte Intelligenz.
Regina Rick erklärt Justizirrtümer so: „Wenn eine Vorstellung erst mal da
ist, werden alle Informationen ausgefiltert, die ihr widersprechen.“ Auch
Studien belegten einen solchen Bias in der Wahrnehmung. In der Münchner
Justiz sei aber auch der Korpsgeist besonders stark, so Rick: „Wenn jemand
sagt: ‚Das ist ein Täter, den dürfen wir nicht laufen lassen!‘ – dann h…
sich das. Zu oft.“
Sollte ihr Antrag auf Wiederaufnahme scheitern, will Rick mit dem Fall
Genditzki vor das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte ziehen. „Alles würde ich machen, bis zum Schluss. Und
Herr Genditzki auch.“
18 Aug 2020
## AUTOREN
Lina Verschwele
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