Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 53 Jahre Haft trotz Zweifeln: „Der Klaus ist kein Mörder“
> Klaus Bräunig saß wegen zweifachen Mordes jahrzehntelang in Haft. Im
> September wurde er entlassen. Der 79-Jährige kämpft weiter für seinen
> Freispruch.
Bild: Nicht nur hinter den Mauern der JVA Diez sind 53 Jahre eine sehr, sehr la…
Diez und Mainz taz | Sommer 1999, ein Besuch in der
[1][Justizvollzugsanstalt in Diez]. Das Gefängnis ist über hundert Jahre
alt, es ist die größte Langstrafenanstalt in Rheinland-Pfalz. Hier sitzt
seit 27 Jahren Klaus Bräunig. Er wurde wegen zweifachen Mordes zu einer
lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Gerade ist er nicht da. Dieter
Bandell, der Leiter des Gefängnisses, hat ihn nach draußen geschickt, ohne
Überwachung, er soll die Fenster an der Hauptpforte putzen. Über die Frage,
ob man den verurteilten Doppelmörder einfach so rauslassen kann, lacht
Bandell. Eine Stunde später kommt Bräunig zurück. Er strahlt. Die Fenster
sind sauber. Blitzeblank wie lange nicht.
12 Jahre später sitzt Klaus Bräunig noch immer hinter Gittern. „Er ist ein
Mustergefangener“, sagt auch Bandells Nachfolger. Da hat der Klaus, wie ihn
hier alle nennen, schon 39 Jahre Strafhaft auf dem Buckel und an keinem Tag
Ärger gemacht. Er ist einer, der Konflikten aus dem Weg geht. Vermutlich
ist das der Grund, weshalb er überhaupt ins Gefängnis gekommen ist, sagen
Vollzugsbeamte, die ihn lange kennen. Womöglich hat er deshalb Morde
gestanden, die er gar nicht begangen hat. Sie sind überzeugt: „Der Klaus
ist kein Mörder.“ Klaus Bräunig, mittlerweile 79 Jahre alt, beteuert das
nun seit mehr als einem halben Jahrhundert selbst. Und kämpft noch immer
für seinen Freispruch.
Lebenslänglich heißt nicht unbedingt, dass man den Rest seines Lebens
hinter Gittern verbringt. [2][Nach dem Strafgesetzbuch] kann die
lebenslange Freiheitsstrafe nach mindestens fünfzehn Jahren zur Bewährung
ausgesetzt werden. Lebenslängliche sind in Deutschland durchschnittlich
etwa neunzehn Jahre in Haft. Länger eingesperrt werden unter anderem
Straftäter, die ihre Schuld leugnen. Eine Rückfallgefahr ist nicht
auszuschließen – so sehen das Vollzugsgerichte.
So war das auch bei Bräunig: All seine Anträge auf vorzeitige Entlassung
wurden abgelehnt. Schon 2019 wandte sich Bräunigs Rechtsanwältin, die
Münchner Strafverteidigerin Carolin Arnemann, an das
Bundesverfassungsgericht. Das entschied [3][in diesem Jahr]: Für eine
weitere Haftdauer müssen Gründe bestehen. Nachdem ein psychiatrisches
Gutachten feststellte, dass von Bräunig keine Gefahr ausgeht, musste er
entlassen werden. Seit September ist Klaus Bräunig ein freier Mann –
[4][nach 53 Jahren Haft.]
Jetzt lebt Klaus Bräunig in einem Pflegeheim, der Ort ist aus
Sicherheitsgründen geheim. Er ist froh darüber, dass sich seine Hoffnung,
nicht im Knast sterben zu müssen, erfüllt hat. Doch sein letzter Wunsch ist
das nicht. Er will einen Freispruch, will nicht länger als Mörder
betrachtet werden. „Ich will, dass mein Name wieder reingewaschen wird“,
sagt er. Dafür müsste der Prozess gegen ihn noch einmal neu aufgerollt
werden.
Das ist schwierig. Denn eine Wiederaufnahme ist nur zulässig, wenn neue
Tatsachen oder Beweismittel vorliegen, die geeignet sind, einen Freispruch
zu begründen. So steht es in der Strafprozessordnung. Anders als bei einer
Berufung im Zivilprozess geht es bei der Wiederaufnahme nicht darum, dass
eine zweite Instanz das Urteil des Erstgerichts überprüft. Für eine
Wiederaufnahme müssen Strafverteidiger*innen Tatsachen vorlegen, die
im ersten Verfahren noch nicht bekannt waren, sie müssen neue Zeug*innen
präsentieren, neue Sachbeweise.
Um solche Beweise bemühten sich Rechtsanwält*innen im Fall Bräunig
jahrzehntelang. Das war eine Herausforderung. Denn Spurenakten sind nicht
mehr vorhanden, Beweismittel verschwunden. Vermutlich vernichtet, hieß es
bei der Staatsanwaltschaft in Mainz. Vor drei Jahren tauchte dann ein
Karton mit alten Asservaten im Keller des Landeskriminalamtes auf. Darin
befanden sich Haare der Opfer und Fingernägel. [5][Carolin Arnemann]
hoffte, Bräunig damit entlasten zu können, gab DNA-Untersuchungen in
Auftrag. Doch nach einem halben Jahrhundert ließen sich keine DNA-Spuren
mehr feststellen. Die Chancen für eine Wiederaufnahme schienen
aussichtslos.
Das änderte sich im vergangenen November. Die ARD griff den Fall auf, in
einer vierteiligen Dokumentation ging sie der Frage nach, ob hier ein
Justizirrtum vorliegen könnte. Nach der Ausstrahlung meldete sich ein Mann
mit konkreten Hinweisen auf einen anderen, möglichen Täter. Der könnte zwei
weitere Morde auf dem Gewissen haben. „Die Informationen, die dieser Zeuge
gibt, sind belastbar“, sagt Carolin Arnemann, sein Verdacht nicht von der
Hand zu weisen. Sie hat im April beantragt, das Verfahren gegen Bräunig
wiederaufzunehmen.
Der Antrag liegt nun beim Landgericht in Bad Kreuznach. Noch sei nichts
entschieden, heißt es auf Anfrage, und wann die Entscheidung fallen werde,
ist nicht abzusehen. Sollte es tatsächlich zu einer Wiederaufnahme und
womöglich zu einem Freispruch von Bräunig kommen, wäre das laut
Rechtsanwältin Arnemann einer der größten Justizskandale Deutschlands: „Mir
ist kein Fall in Deutschland bekannt, wo ein Mensch 53 Jahre unschuldig im
Gefängnis verbracht hat.“
Der Doppelmord, für den Klaus Bräunig verurteilt wurde, liegt lange zurück:
Es ist der 13. April 1970, ein Montag, als in Mainz die Kinderärztin Margot
Geimer und ihre 17-jährige Tochter Dorothee in ihren Schlafzimmern tot
aufgefunden werden. Brutal ermordet. Der Fall wühlt nicht nur das
beschauliche Mainz auf, er erregt bundesweit Aufsehen. Es ist eine
mysteriöse Geschichte: Die Polizei findet keine Spuren am Tatort, keine
Fingerabdrücke, nichts. Türklinken sind offensichtlich abgewischt worden.
Ein Sexualdelikt wird ausgeschlossen, auch ein Einbruch. Kein Fenster ist
eingeschlagen, keine Tür aufgebrochen. Schmuck und Bargeld sind unberührt,
nur ein Revolver wurde gestohlen. Die Frage, wie der Mörder ins Haus
gekommen ist, lässt sich nicht beantworten. Die Mordwaffe wird nicht
gefunden. Es könnte ein Säbel sein, vermutet die Polizei, vielleicht auch
ein Schwert oder ein Metzgermesser. Im Polizeibericht wird festgestellt:
„Lediglich ist zu erkennen, dass es dem Täter aufs Töten angekommen sein
dürfte.“
Die Ermittler kommen nicht weiter. Sie können kein Motiv erkennen. Nach
sieben Wochen hat der Chef der Mainzer Mordkommission eine für diese Zeit
noch ungewöhnliche Idee: Er will ein Täterprofil erstellen. [6][Profiler]
gibt es in den siebziger Jahren noch nicht, also erhält ein junger Beamter
der Mordkommission die Aufgabe, eine Fallanalyse auszuarbeiten. Sorgfältig
listet er ungeklärte Fälle auf: Den Mord an den beiden Frauen, zwei
Mordanschläge auf eine Studentin im Sommer davor, auch sie wurde in ihrem
Schlafzimmer überfallen.
Auch hier liegt kein Sexualdelikt vor, auch hier ist unklar, wie der Täter
ins Haus kam. Dazu kommen zehn Vorfälle in der Mainzer Oberstadt. Seit vier
Monaten treibt sich dort nachts ein Mann vor den Schlafzimmerfenstern
junger Frauen herum. Ein Spanner. Die 19-seitige Analyse kommt zu dem
Schluss, dass es sich bei diesem Spanner um den Mörder handeln könnte. Die
Polizei schickt nachts Zivilstreifen los. Nach drei Wochen nehmen sie Klaus
Bräunig fest. Er steht vor einem Fenster und beobachtet zwei junge Frauen.
## Tagelange Verhöre ohne Anwalt
Bräunig ist da 27 Jahre alt, ein Hilfsarbeiter, der in Mainz bei seiner
Mutter lebt. Mit der Polizei hatte er noch nichts zu tun. Klaus Bräunig
gesteht sofort, ein Spanner zu sein. „Ich hab nur gelubbert“, sagt er. Mit
den Morden an Margot und Dorothee Geimer will er nichts zu tun haben. Auch
die zwei Mordversuche an der Studentin im Jahr zuvor bestreitet er. Doch
Bräunig wird weiter verhört, jeden Tag, fast pausenlos. Am fünften Tag nach
seiner Festnahme gesteht er alles. Ruhig und beherrscht, heißt es in einem
Aktenvermerk der Polizei. Erst als ihm die Polizisten seine Aussagen
vorlesen, bricht er in Tränen aus. Einen Anwalt hat Bräunig nicht. „Ich
hatte kein Geld. Und ich dachte, ich muss den bezahlen.“
Die Polizei braucht aber Sachbeweise wie zum Beispiel die Tatwaffe, die
Verhöre gehen weiter. Es war ein Messer der Marke Puma, erzählt Bräunig und
beschreibt das Messer, er nennt auch den Ort, wo er es nach dem Mord
weggeworfen haben will. Doch die Polizei findet da nichts, ein Messer, wie
er es beschreibt, gibt es nicht einmal im Handel. Er will es im Bad der
Mordopfer gereinigt haben. Die Polizei bringt ihn dorthin, er soll ihnen
das vorführen. Das kann er nicht: Er steht vor dem Waschbecken und weiß
nicht, wie er die moderne Mischbatterie betätigen muss. Auch wie er ins
Haus gekommen ist, kann er nicht erklären, da wo er hineingeklettert sein
will, kommt er nicht hoch.
Zwei Polizisten der Mordkommission sind skeptisch, ob sie den Richtigen
haben. Vier Tage nach seinem Geständnis suchen sie ihn im Gefängnis auf und
fragen ihn, ob er bei seinen Aussagen bleiben will. Daraufhin widerruft er
sein Mordgeständnis, er bleibt dabei, ein Spanner zu sein. Nur aus diesem
Grund habe er überhaupt gestanden, sagt er den Polizisten. „Ich hatte
gehofft, einen Arzt zu bekommen“, erklärt er das. „Ich wollte davon geheilt
werden.“
Wenige Stunden, nachdem er sein Geständnis widerrufen hat, holen ihn die
Polizisten, bei denen er gestanden hat, wieder zum Verhör. Er gesteht den
Doppelmord zum zweiten Mal und erzählt immer neue Geschichten. Einmal sagt
er, er habe zuerst die Tochter getötet, dann sagt er, zuerst die Mutter.
Ein andermal sagt er aus, er habe den gestohlenen Revolver in einer Bar
verkauft. Dann gesteht er, die Waffe im Wald vergraben zu haben. Die
Polizei stellt alles auf den Kopf. Ohne Ergebnis. Überall in der Stadt
werden Flugblätter mit Bräunigs Foto verteilt, vierstellige Belohnungen
werden ausgesetzt. Wer hat ihn in der Nähe des Tatortes gesehen? Niemand
meldet sich. Einen Anwalt hat Klaus Bräunig immer noch nicht. Erst der
Mainzer Gefängnispfarrer sorgt dafür, dass Bräunig einen Pflichtverteidiger
bekommt. Da ist Bräunig sieben Wochen in Haft und hat schon drei
Geständnisse abgeliefert. Er hat sie alle widerrufen.
Zwei Jahre später, im Juni 1972, wird Klaus Bräunig vor dem Landgericht in
Mainz wegen Doppelmordes angeklagt. Dem Gericht liegen keine Beweise vor.
Die Suche nach Zeugen blieb fruchtlos, die Tatwaffe verschwunden.
Blutspuren an Bräunigs Kleidung ließen sich nicht feststellen. Es liegen
nur widerrufene Geständnisse vor und die Fallanalyse der Polizei, nach der
es sich bei dem Täter „um eine abartige, sexuell gestörte oder verklemmte
Persönlichkeit handelt“. Ein Spanner hat sich zum Gewaltverbrecher
entwickelt, glaubt auch das Gericht und verurteilt Bräunig.
Ein Urteil, das schon damals umstritten ist. „Ich halte ihn nicht für
fähig, einen solchen Mord zu begehen, ohne dass Beweismaterial
sichergestellt ist“, wird eine Prozessbeobachterin in der örtlichen Presse
zitiert. Auch der Arbeitgeber von Bräunig kann sich das nicht vorstellen:
„Niemand in unserem Betrieb würde ihn einer solchen Tat für fähig ansehen�…
schreibt er in einem Brief ans Gericht. Denn Bräunig sei zwar fleißig, aber
geistig minderbemittelt.
Es kommt vor, dass Menschen Verbrechen gestehen, die sie nicht begangen
haben. „Falsche Geständnisse entstehen nicht selten durch falsche
Vernehmungsmethoden, durch eine zu frühzeitige Annahme der Täterschaft und
durch Unterlassen der Verfolgung anderer Spuren“, schreibt dazu der
Münsteraner Rechtswissenschaftler Karl Peters. Er hat in Deutschland die
erste Untersuchung zu Ursachen von Fehlurteilen durchgeführt und sich mit
dem Phänomen des Falschgeständnisses befasst. Auch den Prozess gegen
Bräunig hat Peters untersucht, bis zu seinem Tod im Jahr 1998 hat er sich
um eine Wiederaufnahme des Falles bemüht. Er war überzeugt davon, dass hier
ein Justizirrtum vorliegen muss.
Die [7][Rechtspsychologin Renate Volbert] von der Psychologischen
Hochschule Berlin forscht zu dem Aussageverhalten von Beschuldigten. Sie
sagt, gerade Menschen mit minderer Intelligenz seien gefährdet, Verbrechen
zu gestehen, die sie nicht begangen haben. Klaus Bräunig wurde von den
Gerichtsgutachtern ein Intelligenzquotient von 73 attestiert. Es fällt ihm
schwer, längere Texte zu erfassen. Die von ihm unterschriebenen
Geständnisse sind seitenlang, eng getippt, abgefasst im Beamtendeutsch der
Polizisten, die sie aufgeschrieben haben. „Es kann keinem Zweifel
unterliegen, dass so, wie niedergeschrieben, kein einfacher, zudem nahezu
schwachsinniger Mensch spricht“, schreibt Peters in seinem Gutachten zum
Prozess gegen Bräunig.
Doch es lässt sich nicht nachweisen, dass ihm die Geständnisse in den Mund
gelegt worden sind. Tonaufnahmen der Verhöre gibt es nicht, auch keine
Protokolle, die Fragen und Antworten im Wortlaut wiedergeben. Was Klaus
Bräunig tatsächlich gesagt habe, sagt Arnemann, darüber lasse sich
spekulieren. Erahnen lässt sich, mit welchen Methoden er verhört wurde. Es
wurde auf den Tisch gehauen, gepoltert und herumgeschrien. So erzählt das
der damalige Chef der Mordkommission freimütig beim Prozess vor dem Mainzer
Landgericht. Selbst für ihn war das anstrengend: „Ich war nach der
Vernehmung so fertig, dass ich Formulierungsfehler machte“, erklärt er die
Widersprüchlichkeiten in Bräunigs Geständnissen.
## Vom Spanner zum Mörder
Zur Frage, ob Bräunigs Geständnisse falsch sein könnten, hat Carolin
Arnemann im Zuge des Wiederaufnahmeantrags ein aussagepsychologisches
Gutachten vorgelegt. Doch die Chancen, damit eine Wiederaufnahme zu
erzwingen, sind nicht hoch, denn die Frage ist nicht neu. Mit ihr hat sich
schon das Gericht 1972 befasst. Daran erinnert sich Wolfgang Braunbeck gut.
Immer wieder habe Bräunig dem Gericht beteuert, dass er einfach alles
unterschrieben habe, um seine Ruhe zu haben.
Braunbeck ist einer der zwei Justizbeamten, die Bräunig damals bei Gericht
vorführten. „Wie ein Lämmchen lief er neben uns her, wir brauchten nicht
einmal Handschellen.“ Mit gesenktem Kopf habe Bräunig dann auf der
Anklagebank gesessen. Das weiß auch Heiner Bögler noch gut, einer der
damaligen Geschworenen. Ihm tat der Angeklagte leid. Er habe sich geschämt.
All seine Probleme mit der Sexualität seien vor Gericht ausgebreitet,
Frauen detailliert zu ihren sexuellen Erfahrungen mit Bräunig befragt
worden.
Eine dieser Frauen ist Rita Wagner, sie war im Sommer vor dem Doppelmord
mit Bräunig zusammen. Sie sagt: „Er war schüchtern, aber völlig normal.“
Sie kann sich bis heute nicht vorstellen, dass er zu einer Gewalttat fähig
ist. Das habe sie damals auch dem Richter so gesagt. Im Urteil liest sich
ihre Aussage so: „Die Initiative zu Intimitäten ging nahezu ausschließlich
von der Zeugin aus, die den Angeklagten anleitete.“ Seitenlang geht es
darum, wie „verklemmt“ er ist, um seine „sexuelle Devianz“, die das Ger…
für „die Tat und die Täterpersönlichkeit entscheidend“ hält. Im Alter v…
dreizehn Jahren sei er noch nicht aufgeklärt worden, „mit sechzehn zum
Onanieren gekommen, angeregt durch Lesen und Betrachten von Pornoheftchen“,
irgendwann habe er sich unter dem Bett eines Mädchens versteckt, um ihr
beim Ausziehen zuzuschauen.
Im Alter von 13 Jahren habe er ein Mädchen unsittlich berührt, angeblich
verletzt. Angezeigt wurde dieser Vorfall nie. Seine Bar- und Bordellbesuche
werden diskutiert, haarklein wird jeder einzelne Fall, in dem er als
Spanner aufgetreten ist, abgehandelt. Ein ungeklärter Überfall auf eine
Krankenschwester aus dem Jahr 1966 wird ihm zur Last gelegt, die
Mordversuche auf die Studentin im Sommer 1969 – nichts davon ist bewiesen,
es ist auch nicht Gegenstand der Anklage. Im Urteil aber wird damit belegt:
Bei Klaus Bräunig handelt es sich um einen Mann, dessen Triebhaftigkeit
zwangsläufig zum Morden führen musste.
Seit den siebziger Jahren hat sich der Blick auf Sexualität gewandelt.
[8][Voyeurismus] gilt als eine Störung der sexuellen Präferenz, die in der
Regel ungefährlich ist. „Der Voyeur sucht keinen sexuellen Kontakt mit den
von ihm beobachteten Personen“, heißt es in medizinischen Fachkreisen. Die
Lust bestehe in der heimlichen Beobachtung. Bräunigs Gutachter*innen, die
Prognosen zu einem Rückfallrisiko geben, sehen in seinen voyeuristischen
Neigungen aber ein Problem: Seine „Angst vor Nähe zu einer Frau stehe in
engem Zusammenhang mit der Perversionsbildung und den Aggressionsdelikten“,
heißt es noch 1996 in einem psychiatrischen Untersuchungsbericht.
Sechs Jahre später führt diese Sichtweise sogar dazu, dass Haftlockerungen
rückgängig gemacht werden. Bräunig ist da 58 Jahre alt, er ist seit sieben
Jahren Freigänger und arbeitet in einem Betrieb außerhalb des Gefängnisses.
Ihm ist erlaubt worden, eine kleine Wohnung zu mieten. Der Betrieb, in dem
er arbeitet, will ihn nach seiner Entlassung fest einstellen, er hat
Freunde unter den Kollegen. Die Chancen auf Entlassung stehen gut. Dann
finden Vollzugsbeamte Pornohefte in seiner Wohnung. Gelbe
Haushaltshandschuhe in der Küche werden sichergestellt, Kabelbinder im
Werkzeugkasten –sie führen dazu, dass er zurück muss in den geschlossenen
Vollzug. „Die dachten, ich wollte Frauen etwas antun“, sagt Bräunig heute
dazu. „Haben die denn keine Handschuhe an beim Putzen?“
Klaus Bräunig ist mittlerweile schwer krank, trotzdem genießt er die
Freiheit. Er trifft sich mit den Vollzugsbeamten, die zu Freunden geworden
sind. Er telefoniert, wann immer er will, mit früheren Arbeitskollegen und
sitzt gerne im Park des Pflegeheims – so nennt er den kleinen Garten. „Ich
bin glücklich“, sagt er. „Ich schaue nach vorn.“ Dreiundfünfzig Jahre, …
Monate und dreißig Tage – so lange hat Klaus Bräunig im Gefängnis gesessen.
Sollte seine Rechtsanwältin nachweisen können, dass er zu Unrecht
verurteilt wurde, könnte das für das Land Rheinland-Pfalz teuer werden.
Klaus Bräunig stünden [9][pro Tag 75 Euro Haftentschädigung] zu, das wären
1.458.675 Euro. Doch ums Geld, sagt er, geht es ihm nicht. „Ich weiß, dass
ich vom Leben nichts mehr erwarten kann, aber ich will Gerechtigkeit.“
Transparenzhinweis: Die Autorin hat gemeinsam mit Björn Platz das Drehbuch
für die vierteilige [10][ARD-Dokumentation „Lebenslänglich“] geschrieben.
Sie recherchierte mehr als 30 Jahre an dem Fall.
23 Nov 2023
## LINKS
[1] /Laengste-Haftstrafe-in-Deutschland-beendet/!5958362
[2] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__57a.html
[3] /Erfolgreiche-Verfassungsbeschwerde/!5925521
[4] /Laengste-Haftstrafe-in-Deutschland-beendet/!5958362
[5] https://www.leokanzlei.de/dr-carolin-arnemann
[6] https://www.kriminalpolizei.de/ausgaben/2009/september/detailansicht-septem…
[7] https://www.psychologische-hochschule.de/forschung-lehre/professuren/prof-d…
[8] https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/voyeurismus/16538#:~:text=Bei%2…
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Haftentsch%C3%A4digung
[10] https://www.ardmediathek.de/video/ard-crime-time/folge-1-52-jahre-unschuld…
## AUTOREN
Marion Mück-Raab
## TAGS
Gefängnis
Rheinland-Pfalz
Justizskandal
GNS
Justiz
Justizskandal
Gefängnis
Sicherungsverwahrung
Gerichtsverfahren
## ARTIKEL ZUM THEMA
Möglicher Justizirrtum: Klaus Bräunig kämpft weiter
Wurde der Hilfsarbeiter 1972 zu Unrecht wegen Mordes verurteilt? Seine
Anwältin gibt trotz gescheiterter Verfahrenswiederaufnahme nicht auf.
Längste Haftstrafe in Deutschland beendet: Nach 53 Jahren aus Haft entlassen
Wegen eines Doppelmords saß Klaus Bräunig über 50 Jahre im Gefängnis. Nun
ist er frei, will den Prozess neu aufrollen und für einen Freispruch
kämpfen.
Sicherungsverwahrung: Drinnen vor der Tür
Menschen in Sicherungsverwahrung kennen sich mit dem Warten aus. Sie haben
ihre Strafe im Gefängnis verbüßt und bleiben doch eingesperrt – unter
Umständen für immer. Ein System mit Widersprüchen.
Unschuldig im Gefängnis?: Im Zweifel „lebenslänglich“
2008 soll Manfred Genditzki eine Rentnerin in ihrer Badewanne ertränkt
haben. Ein Gericht verurteilte ihn wegen Mordes. Zu Unrecht?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.