| # taz.de -- 53 Jahre Haft trotz Zweifeln: „Der Klaus ist kein Mörder“ | |
| > Klaus Bräunig saß wegen zweifachen Mordes jahrzehntelang in Haft. Im | |
| > September wurde er entlassen. Der 79-Jährige kämpft weiter für seinen | |
| > Freispruch. | |
| Bild: Nicht nur hinter den Mauern der JVA Diez sind 53 Jahre eine sehr, sehr la… | |
| Diez und Mainz taz | Sommer 1999, ein Besuch in der | |
| [1][Justizvollzugsanstalt in Diez]. Das Gefängnis ist über hundert Jahre | |
| alt, es ist die größte Langstrafenanstalt in Rheinland-Pfalz. Hier sitzt | |
| seit 27 Jahren Klaus Bräunig. Er wurde wegen zweifachen Mordes zu einer | |
| lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Gerade ist er nicht da. Dieter | |
| Bandell, der Leiter des Gefängnisses, hat ihn nach draußen geschickt, ohne | |
| Überwachung, er soll die Fenster an der Hauptpforte putzen. Über die Frage, | |
| ob man den verurteilten Doppelmörder einfach so rauslassen kann, lacht | |
| Bandell. Eine Stunde später kommt Bräunig zurück. Er strahlt. Die Fenster | |
| sind sauber. Blitzeblank wie lange nicht. | |
| 12 Jahre später sitzt Klaus Bräunig noch immer hinter Gittern. „Er ist ein | |
| Mustergefangener“, sagt auch Bandells Nachfolger. Da hat der Klaus, wie ihn | |
| hier alle nennen, schon 39 Jahre Strafhaft auf dem Buckel und an keinem Tag | |
| Ärger gemacht. Er ist einer, der Konflikten aus dem Weg geht. Vermutlich | |
| ist das der Grund, weshalb er überhaupt ins Gefängnis gekommen ist, sagen | |
| Vollzugsbeamte, die ihn lange kennen. Womöglich hat er deshalb Morde | |
| gestanden, die er gar nicht begangen hat. Sie sind überzeugt: „Der Klaus | |
| ist kein Mörder.“ Klaus Bräunig, mittlerweile 79 Jahre alt, beteuert das | |
| nun seit mehr als einem halben Jahrhundert selbst. Und kämpft noch immer | |
| für seinen Freispruch. | |
| Lebenslänglich heißt nicht unbedingt, dass man den Rest seines Lebens | |
| hinter Gittern verbringt. [2][Nach dem Strafgesetzbuch] kann die | |
| lebenslange Freiheitsstrafe nach mindestens fünfzehn Jahren zur Bewährung | |
| ausgesetzt werden. Lebenslängliche sind in Deutschland durchschnittlich | |
| etwa neunzehn Jahre in Haft. Länger eingesperrt werden unter anderem | |
| Straftäter, die ihre Schuld leugnen. Eine Rückfallgefahr ist nicht | |
| auszuschließen – so sehen das Vollzugsgerichte. | |
| So war das auch bei Bräunig: All seine Anträge auf vorzeitige Entlassung | |
| wurden abgelehnt. Schon 2019 wandte sich Bräunigs Rechtsanwältin, die | |
| Münchner Strafverteidigerin Carolin Arnemann, an das | |
| Bundesverfassungsgericht. Das entschied [3][in diesem Jahr]: Für eine | |
| weitere Haftdauer müssen Gründe bestehen. Nachdem ein psychiatrisches | |
| Gutachten feststellte, dass von Bräunig keine Gefahr ausgeht, musste er | |
| entlassen werden. Seit September ist Klaus Bräunig ein freier Mann – | |
| [4][nach 53 Jahren Haft.] | |
| Jetzt lebt Klaus Bräunig in einem Pflegeheim, der Ort ist aus | |
| Sicherheitsgründen geheim. Er ist froh darüber, dass sich seine Hoffnung, | |
| nicht im Knast sterben zu müssen, erfüllt hat. Doch sein letzter Wunsch ist | |
| das nicht. Er will einen Freispruch, will nicht länger als Mörder | |
| betrachtet werden. „Ich will, dass mein Name wieder reingewaschen wird“, | |
| sagt er. Dafür müsste der Prozess gegen ihn noch einmal neu aufgerollt | |
| werden. | |
| Das ist schwierig. Denn eine Wiederaufnahme ist nur zulässig, wenn neue | |
| Tatsachen oder Beweismittel vorliegen, die geeignet sind, einen Freispruch | |
| zu begründen. So steht es in der Strafprozessordnung. Anders als bei einer | |
| Berufung im Zivilprozess geht es bei der Wiederaufnahme nicht darum, dass | |
| eine zweite Instanz das Urteil des Erstgerichts überprüft. Für eine | |
| Wiederaufnahme müssen Strafverteidiger*innen Tatsachen vorlegen, die | |
| im ersten Verfahren noch nicht bekannt waren, sie müssen neue Zeug*innen | |
| präsentieren, neue Sachbeweise. | |
| Um solche Beweise bemühten sich Rechtsanwält*innen im Fall Bräunig | |
| jahrzehntelang. Das war eine Herausforderung. Denn Spurenakten sind nicht | |
| mehr vorhanden, Beweismittel verschwunden. Vermutlich vernichtet, hieß es | |
| bei der Staatsanwaltschaft in Mainz. Vor drei Jahren tauchte dann ein | |
| Karton mit alten Asservaten im Keller des Landeskriminalamtes auf. Darin | |
| befanden sich Haare der Opfer und Fingernägel. [5][Carolin Arnemann] | |
| hoffte, Bräunig damit entlasten zu können, gab DNA-Untersuchungen in | |
| Auftrag. Doch nach einem halben Jahrhundert ließen sich keine DNA-Spuren | |
| mehr feststellen. Die Chancen für eine Wiederaufnahme schienen | |
| aussichtslos. | |
| Das änderte sich im vergangenen November. Die ARD griff den Fall auf, in | |
| einer vierteiligen Dokumentation ging sie der Frage nach, ob hier ein | |
| Justizirrtum vorliegen könnte. Nach der Ausstrahlung meldete sich ein Mann | |
| mit konkreten Hinweisen auf einen anderen, möglichen Täter. Der könnte zwei | |
| weitere Morde auf dem Gewissen haben. „Die Informationen, die dieser Zeuge | |
| gibt, sind belastbar“, sagt Carolin Arnemann, sein Verdacht nicht von der | |
| Hand zu weisen. Sie hat im April beantragt, das Verfahren gegen Bräunig | |
| wiederaufzunehmen. | |
| Der Antrag liegt nun beim Landgericht in Bad Kreuznach. Noch sei nichts | |
| entschieden, heißt es auf Anfrage, und wann die Entscheidung fallen werde, | |
| ist nicht abzusehen. Sollte es tatsächlich zu einer Wiederaufnahme und | |
| womöglich zu einem Freispruch von Bräunig kommen, wäre das laut | |
| Rechtsanwältin Arnemann einer der größten Justizskandale Deutschlands: „Mir | |
| ist kein Fall in Deutschland bekannt, wo ein Mensch 53 Jahre unschuldig im | |
| Gefängnis verbracht hat.“ | |
| Der Doppelmord, für den Klaus Bräunig verurteilt wurde, liegt lange zurück: | |
| Es ist der 13. April 1970, ein Montag, als in Mainz die Kinderärztin Margot | |
| Geimer und ihre 17-jährige Tochter Dorothee in ihren Schlafzimmern tot | |
| aufgefunden werden. Brutal ermordet. Der Fall wühlt nicht nur das | |
| beschauliche Mainz auf, er erregt bundesweit Aufsehen. Es ist eine | |
| mysteriöse Geschichte: Die Polizei findet keine Spuren am Tatort, keine | |
| Fingerabdrücke, nichts. Türklinken sind offensichtlich abgewischt worden. | |
| Ein Sexualdelikt wird ausgeschlossen, auch ein Einbruch. Kein Fenster ist | |
| eingeschlagen, keine Tür aufgebrochen. Schmuck und Bargeld sind unberührt, | |
| nur ein Revolver wurde gestohlen. Die Frage, wie der Mörder ins Haus | |
| gekommen ist, lässt sich nicht beantworten. Die Mordwaffe wird nicht | |
| gefunden. Es könnte ein Säbel sein, vermutet die Polizei, vielleicht auch | |
| ein Schwert oder ein Metzgermesser. Im Polizeibericht wird festgestellt: | |
| „Lediglich ist zu erkennen, dass es dem Täter aufs Töten angekommen sein | |
| dürfte.“ | |
| Die Ermittler kommen nicht weiter. Sie können kein Motiv erkennen. Nach | |
| sieben Wochen hat der Chef der Mainzer Mordkommission eine für diese Zeit | |
| noch ungewöhnliche Idee: Er will ein Täterprofil erstellen. [6][Profiler] | |
| gibt es in den siebziger Jahren noch nicht, also erhält ein junger Beamter | |
| der Mordkommission die Aufgabe, eine Fallanalyse auszuarbeiten. Sorgfältig | |
| listet er ungeklärte Fälle auf: Den Mord an den beiden Frauen, zwei | |
| Mordanschläge auf eine Studentin im Sommer davor, auch sie wurde in ihrem | |
| Schlafzimmer überfallen. | |
| Auch hier liegt kein Sexualdelikt vor, auch hier ist unklar, wie der Täter | |
| ins Haus kam. Dazu kommen zehn Vorfälle in der Mainzer Oberstadt. Seit vier | |
| Monaten treibt sich dort nachts ein Mann vor den Schlafzimmerfenstern | |
| junger Frauen herum. Ein Spanner. Die 19-seitige Analyse kommt zu dem | |
| Schluss, dass es sich bei diesem Spanner um den Mörder handeln könnte. Die | |
| Polizei schickt nachts Zivilstreifen los. Nach drei Wochen nehmen sie Klaus | |
| Bräunig fest. Er steht vor einem Fenster und beobachtet zwei junge Frauen. | |
| ## Tagelange Verhöre ohne Anwalt | |
| Bräunig ist da 27 Jahre alt, ein Hilfsarbeiter, der in Mainz bei seiner | |
| Mutter lebt. Mit der Polizei hatte er noch nichts zu tun. Klaus Bräunig | |
| gesteht sofort, ein Spanner zu sein. „Ich hab nur gelubbert“, sagt er. Mit | |
| den Morden an Margot und Dorothee Geimer will er nichts zu tun haben. Auch | |
| die zwei Mordversuche an der Studentin im Jahr zuvor bestreitet er. Doch | |
| Bräunig wird weiter verhört, jeden Tag, fast pausenlos. Am fünften Tag nach | |
| seiner Festnahme gesteht er alles. Ruhig und beherrscht, heißt es in einem | |
| Aktenvermerk der Polizei. Erst als ihm die Polizisten seine Aussagen | |
| vorlesen, bricht er in Tränen aus. Einen Anwalt hat Bräunig nicht. „Ich | |
| hatte kein Geld. Und ich dachte, ich muss den bezahlen.“ | |
| Die Polizei braucht aber Sachbeweise wie zum Beispiel die Tatwaffe, die | |
| Verhöre gehen weiter. Es war ein Messer der Marke Puma, erzählt Bräunig und | |
| beschreibt das Messer, er nennt auch den Ort, wo er es nach dem Mord | |
| weggeworfen haben will. Doch die Polizei findet da nichts, ein Messer, wie | |
| er es beschreibt, gibt es nicht einmal im Handel. Er will es im Bad der | |
| Mordopfer gereinigt haben. Die Polizei bringt ihn dorthin, er soll ihnen | |
| das vorführen. Das kann er nicht: Er steht vor dem Waschbecken und weiß | |
| nicht, wie er die moderne Mischbatterie betätigen muss. Auch wie er ins | |
| Haus gekommen ist, kann er nicht erklären, da wo er hineingeklettert sein | |
| will, kommt er nicht hoch. | |
| Zwei Polizisten der Mordkommission sind skeptisch, ob sie den Richtigen | |
| haben. Vier Tage nach seinem Geständnis suchen sie ihn im Gefängnis auf und | |
| fragen ihn, ob er bei seinen Aussagen bleiben will. Daraufhin widerruft er | |
| sein Mordgeständnis, er bleibt dabei, ein Spanner zu sein. Nur aus diesem | |
| Grund habe er überhaupt gestanden, sagt er den Polizisten. „Ich hatte | |
| gehofft, einen Arzt zu bekommen“, erklärt er das. „Ich wollte davon geheilt | |
| werden.“ | |
| Wenige Stunden, nachdem er sein Geständnis widerrufen hat, holen ihn die | |
| Polizisten, bei denen er gestanden hat, wieder zum Verhör. Er gesteht den | |
| Doppelmord zum zweiten Mal und erzählt immer neue Geschichten. Einmal sagt | |
| er, er habe zuerst die Tochter getötet, dann sagt er, zuerst die Mutter. | |
| Ein andermal sagt er aus, er habe den gestohlenen Revolver in einer Bar | |
| verkauft. Dann gesteht er, die Waffe im Wald vergraben zu haben. Die | |
| Polizei stellt alles auf den Kopf. Ohne Ergebnis. Überall in der Stadt | |
| werden Flugblätter mit Bräunigs Foto verteilt, vierstellige Belohnungen | |
| werden ausgesetzt. Wer hat ihn in der Nähe des Tatortes gesehen? Niemand | |
| meldet sich. Einen Anwalt hat Klaus Bräunig immer noch nicht. Erst der | |
| Mainzer Gefängnispfarrer sorgt dafür, dass Bräunig einen Pflichtverteidiger | |
| bekommt. Da ist Bräunig sieben Wochen in Haft und hat schon drei | |
| Geständnisse abgeliefert. Er hat sie alle widerrufen. | |
| Zwei Jahre später, im Juni 1972, wird Klaus Bräunig vor dem Landgericht in | |
| Mainz wegen Doppelmordes angeklagt. Dem Gericht liegen keine Beweise vor. | |
| Die Suche nach Zeugen blieb fruchtlos, die Tatwaffe verschwunden. | |
| Blutspuren an Bräunigs Kleidung ließen sich nicht feststellen. Es liegen | |
| nur widerrufene Geständnisse vor und die Fallanalyse der Polizei, nach der | |
| es sich bei dem Täter „um eine abartige, sexuell gestörte oder verklemmte | |
| Persönlichkeit handelt“. Ein Spanner hat sich zum Gewaltverbrecher | |
| entwickelt, glaubt auch das Gericht und verurteilt Bräunig. | |
| Ein Urteil, das schon damals umstritten ist. „Ich halte ihn nicht für | |
| fähig, einen solchen Mord zu begehen, ohne dass Beweismaterial | |
| sichergestellt ist“, wird eine Prozessbeobachterin in der örtlichen Presse | |
| zitiert. Auch der Arbeitgeber von Bräunig kann sich das nicht vorstellen: | |
| „Niemand in unserem Betrieb würde ihn einer solchen Tat für fähig ansehen�… | |
| schreibt er in einem Brief ans Gericht. Denn Bräunig sei zwar fleißig, aber | |
| geistig minderbemittelt. | |
| Es kommt vor, dass Menschen Verbrechen gestehen, die sie nicht begangen | |
| haben. „Falsche Geständnisse entstehen nicht selten durch falsche | |
| Vernehmungsmethoden, durch eine zu frühzeitige Annahme der Täterschaft und | |
| durch Unterlassen der Verfolgung anderer Spuren“, schreibt dazu der | |
| Münsteraner Rechtswissenschaftler Karl Peters. Er hat in Deutschland die | |
| erste Untersuchung zu Ursachen von Fehlurteilen durchgeführt und sich mit | |
| dem Phänomen des Falschgeständnisses befasst. Auch den Prozess gegen | |
| Bräunig hat Peters untersucht, bis zu seinem Tod im Jahr 1998 hat er sich | |
| um eine Wiederaufnahme des Falles bemüht. Er war überzeugt davon, dass hier | |
| ein Justizirrtum vorliegen muss. | |
| Die [7][Rechtspsychologin Renate Volbert] von der Psychologischen | |
| Hochschule Berlin forscht zu dem Aussageverhalten von Beschuldigten. Sie | |
| sagt, gerade Menschen mit minderer Intelligenz seien gefährdet, Verbrechen | |
| zu gestehen, die sie nicht begangen haben. Klaus Bräunig wurde von den | |
| Gerichtsgutachtern ein Intelligenzquotient von 73 attestiert. Es fällt ihm | |
| schwer, längere Texte zu erfassen. Die von ihm unterschriebenen | |
| Geständnisse sind seitenlang, eng getippt, abgefasst im Beamtendeutsch der | |
| Polizisten, die sie aufgeschrieben haben. „Es kann keinem Zweifel | |
| unterliegen, dass so, wie niedergeschrieben, kein einfacher, zudem nahezu | |
| schwachsinniger Mensch spricht“, schreibt Peters in seinem Gutachten zum | |
| Prozess gegen Bräunig. | |
| Doch es lässt sich nicht nachweisen, dass ihm die Geständnisse in den Mund | |
| gelegt worden sind. Tonaufnahmen der Verhöre gibt es nicht, auch keine | |
| Protokolle, die Fragen und Antworten im Wortlaut wiedergeben. Was Klaus | |
| Bräunig tatsächlich gesagt habe, sagt Arnemann, darüber lasse sich | |
| spekulieren. Erahnen lässt sich, mit welchen Methoden er verhört wurde. Es | |
| wurde auf den Tisch gehauen, gepoltert und herumgeschrien. So erzählt das | |
| der damalige Chef der Mordkommission freimütig beim Prozess vor dem Mainzer | |
| Landgericht. Selbst für ihn war das anstrengend: „Ich war nach der | |
| Vernehmung so fertig, dass ich Formulierungsfehler machte“, erklärt er die | |
| Widersprüchlichkeiten in Bräunigs Geständnissen. | |
| ## Vom Spanner zum Mörder | |
| Zur Frage, ob Bräunigs Geständnisse falsch sein könnten, hat Carolin | |
| Arnemann im Zuge des Wiederaufnahmeantrags ein aussagepsychologisches | |
| Gutachten vorgelegt. Doch die Chancen, damit eine Wiederaufnahme zu | |
| erzwingen, sind nicht hoch, denn die Frage ist nicht neu. Mit ihr hat sich | |
| schon das Gericht 1972 befasst. Daran erinnert sich Wolfgang Braunbeck gut. | |
| Immer wieder habe Bräunig dem Gericht beteuert, dass er einfach alles | |
| unterschrieben habe, um seine Ruhe zu haben. | |
| Braunbeck ist einer der zwei Justizbeamten, die Bräunig damals bei Gericht | |
| vorführten. „Wie ein Lämmchen lief er neben uns her, wir brauchten nicht | |
| einmal Handschellen.“ Mit gesenktem Kopf habe Bräunig dann auf der | |
| Anklagebank gesessen. Das weiß auch Heiner Bögler noch gut, einer der | |
| damaligen Geschworenen. Ihm tat der Angeklagte leid. Er habe sich geschämt. | |
| All seine Probleme mit der Sexualität seien vor Gericht ausgebreitet, | |
| Frauen detailliert zu ihren sexuellen Erfahrungen mit Bräunig befragt | |
| worden. | |
| Eine dieser Frauen ist Rita Wagner, sie war im Sommer vor dem Doppelmord | |
| mit Bräunig zusammen. Sie sagt: „Er war schüchtern, aber völlig normal.“ | |
| Sie kann sich bis heute nicht vorstellen, dass er zu einer Gewalttat fähig | |
| ist. Das habe sie damals auch dem Richter so gesagt. Im Urteil liest sich | |
| ihre Aussage so: „Die Initiative zu Intimitäten ging nahezu ausschließlich | |
| von der Zeugin aus, die den Angeklagten anleitete.“ Seitenlang geht es | |
| darum, wie „verklemmt“ er ist, um seine „sexuelle Devianz“, die das Ger… | |
| für „die Tat und die Täterpersönlichkeit entscheidend“ hält. Im Alter v… | |
| dreizehn Jahren sei er noch nicht aufgeklärt worden, „mit sechzehn zum | |
| Onanieren gekommen, angeregt durch Lesen und Betrachten von Pornoheftchen“, | |
| irgendwann habe er sich unter dem Bett eines Mädchens versteckt, um ihr | |
| beim Ausziehen zuzuschauen. | |
| Im Alter von 13 Jahren habe er ein Mädchen unsittlich berührt, angeblich | |
| verletzt. Angezeigt wurde dieser Vorfall nie. Seine Bar- und Bordellbesuche | |
| werden diskutiert, haarklein wird jeder einzelne Fall, in dem er als | |
| Spanner aufgetreten ist, abgehandelt. Ein ungeklärter Überfall auf eine | |
| Krankenschwester aus dem Jahr 1966 wird ihm zur Last gelegt, die | |
| Mordversuche auf die Studentin im Sommer 1969 – nichts davon ist bewiesen, | |
| es ist auch nicht Gegenstand der Anklage. Im Urteil aber wird damit belegt: | |
| Bei Klaus Bräunig handelt es sich um einen Mann, dessen Triebhaftigkeit | |
| zwangsläufig zum Morden führen musste. | |
| Seit den siebziger Jahren hat sich der Blick auf Sexualität gewandelt. | |
| [8][Voyeurismus] gilt als eine Störung der sexuellen Präferenz, die in der | |
| Regel ungefährlich ist. „Der Voyeur sucht keinen sexuellen Kontakt mit den | |
| von ihm beobachteten Personen“, heißt es in medizinischen Fachkreisen. Die | |
| Lust bestehe in der heimlichen Beobachtung. Bräunigs Gutachter*innen, die | |
| Prognosen zu einem Rückfallrisiko geben, sehen in seinen voyeuristischen | |
| Neigungen aber ein Problem: Seine „Angst vor Nähe zu einer Frau stehe in | |
| engem Zusammenhang mit der Perversionsbildung und den Aggressionsdelikten“, | |
| heißt es noch 1996 in einem psychiatrischen Untersuchungsbericht. | |
| Sechs Jahre später führt diese Sichtweise sogar dazu, dass Haftlockerungen | |
| rückgängig gemacht werden. Bräunig ist da 58 Jahre alt, er ist seit sieben | |
| Jahren Freigänger und arbeitet in einem Betrieb außerhalb des Gefängnisses. | |
| Ihm ist erlaubt worden, eine kleine Wohnung zu mieten. Der Betrieb, in dem | |
| er arbeitet, will ihn nach seiner Entlassung fest einstellen, er hat | |
| Freunde unter den Kollegen. Die Chancen auf Entlassung stehen gut. Dann | |
| finden Vollzugsbeamte Pornohefte in seiner Wohnung. Gelbe | |
| Haushaltshandschuhe in der Küche werden sichergestellt, Kabelbinder im | |
| Werkzeugkasten –sie führen dazu, dass er zurück muss in den geschlossenen | |
| Vollzug. „Die dachten, ich wollte Frauen etwas antun“, sagt Bräunig heute | |
| dazu. „Haben die denn keine Handschuhe an beim Putzen?“ | |
| Klaus Bräunig ist mittlerweile schwer krank, trotzdem genießt er die | |
| Freiheit. Er trifft sich mit den Vollzugsbeamten, die zu Freunden geworden | |
| sind. Er telefoniert, wann immer er will, mit früheren Arbeitskollegen und | |
| sitzt gerne im Park des Pflegeheims – so nennt er den kleinen Garten. „Ich | |
| bin glücklich“, sagt er. „Ich schaue nach vorn.“ Dreiundfünfzig Jahre, … | |
| Monate und dreißig Tage – so lange hat Klaus Bräunig im Gefängnis gesessen. | |
| Sollte seine Rechtsanwältin nachweisen können, dass er zu Unrecht | |
| verurteilt wurde, könnte das für das Land Rheinland-Pfalz teuer werden. | |
| Klaus Bräunig stünden [9][pro Tag 75 Euro Haftentschädigung] zu, das wären | |
| 1.458.675 Euro. Doch ums Geld, sagt er, geht es ihm nicht. „Ich weiß, dass | |
| ich vom Leben nichts mehr erwarten kann, aber ich will Gerechtigkeit.“ | |
| Transparenzhinweis: Die Autorin hat gemeinsam mit Björn Platz das Drehbuch | |
| für die vierteilige [10][ARD-Dokumentation „Lebenslänglich“] geschrieben. | |
| Sie recherchierte mehr als 30 Jahre an dem Fall. | |
| 23 Nov 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Laengste-Haftstrafe-in-Deutschland-beendet/!5958362 | |
| [2] https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__57a.html | |
| [3] /Erfolgreiche-Verfassungsbeschwerde/!5925521 | |
| [4] /Laengste-Haftstrafe-in-Deutschland-beendet/!5958362 | |
| [5] https://www.leokanzlei.de/dr-carolin-arnemann | |
| [6] https://www.kriminalpolizei.de/ausgaben/2009/september/detailansicht-septem… | |
| [7] https://www.psychologische-hochschule.de/forschung-lehre/professuren/prof-d… | |
| [8] https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/voyeurismus/16538#:~:text=Bei%2… | |
| [9] https://de.wikipedia.org/wiki/Haftentsch%C3%A4digung | |
| [10] https://www.ardmediathek.de/video/ard-crime-time/folge-1-52-jahre-unschuld… | |
| ## AUTOREN | |
| Marion Mück-Raab | |
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