# taz.de -- Bedrohte Verkehrswende in Berlin: Besorgtes Abwarten | |
> Viele Bezirke treiben die Mobilitätswende voran. Mit einem schwarz-roten | |
> Senat dürfte aber einiges schwieriger werden. | |
Bild: Berlins Radinfrastruktur – schützend oder bald wieder schutzbedürftig? | |
BERLIN taz | In den nächsten Wochen und Monaten werden [1][ein paar | |
rot-weiße Stangen] den Alltag von rund 20.000 NeuköllnerInnen verändern. | |
Aufgestellt werden sie an drei oder vier Stellen rund um den Richardplatz | |
im alten Rixdorfer Ortskern. Dort werden sie, wenn alles nach Plan läuft, | |
den motorisierten Durchgangsverkehr stark einschränken. Der erste | |
Neuköllner Kiezblock – einer der ersten in Berlin überhaupt – soll | |
AutofahrerInnen die beliebten Schleichwege zwischen den Hauptverkehrsadern | |
Sonnenallee und Karl-Marx-Straße versperren. Beschlossen hat das schon 2021 | |
die Bezirksverordnetenversammlung. Das Thema aufs Tapet gebracht hatte eine | |
[2][Initiative, die seit Jahren für Verkehrsberuhigung trommelt]. | |
Umgesetzt wird die Maßnahme nun durch das Bezirksamt, personifiziert durch | |
Verkehrsstadtrat Jochen Biedermann. Der Grüne ist seit Ende 2021 für die | |
Mobilitätswende im Bezirk zuständig, daran wird sich auch im Nachgang der | |
Wiederholungswahl vom 12. Februar nichts ändern. Allerdings wird es für ihn | |
und die anderen sechs grünen VerkehrsstadträtInnen in Berlins Bezirken bald | |
ungemütlicher: Offenbar wird die CDU-Frau Manja Schreiner das Amt der | |
Mobilitätssenatorin übernehmen. Und im Koalitionsvertrag hat Schwarz-Rot | |
schon angekündigt, das Mobilitätsgesetz und den Berliner Radverkehrsplan | |
wieder aufzuschnüren: [3][Die Rede ist von einem neuen „Miteinander“], das | |
sich wohl als „Wieder mehr Auto wagen“ übersetzen lässt. | |
Biedermann will sich davon erst einmal nicht beirren lassen: „Mal sehen, | |
was das für Auswirkungen hat“, sagt er, „das Mobilitätsgesetz wird ja nic… | |
über Nacht geändert.“ Viele Projekte lägen ohnehin in der Verantwortung der | |
Bezirksebene, aber auch solche, die vom Senat ausgingen, seien bereits | |
angeordnet oder zumindest angeschoben worden. „Dass jetzt wieder | |
zurückgedreht wird, was schon weit gediehen ist, glaube ich nicht.“ | |
Andererseits lässt es den Stadtrat nicht kalt, dass von der Landesebene | |
künftig weniger Unterstützung kommen dürfte: „Grundsätzlich sehe ich das | |
mit großer Sorge.“ Insbesondere bei der Finanzierung von Maßnahmen könne es | |
schwieriger werden. Nicht unbedingt bei der Anschaffung und dem Einbau von | |
Pollern als „Modalfilter“ gegen Pkw: Dafür sind im Fall des Rixdorfer | |
Kiezblocks gerade mal 32.000 Euro vorgesehen. | |
Deutlich teurer kann es dagegen werden, wenn es um die Entwicklung von | |
Verkehrskonzepten und die Beteiligung der betroffenen AnwohnerInnen geht. | |
Im Reuterkiez und rund um die Schillerpromenade wollen Biedermann und seine | |
MitarbeiterInnen die nächsten Kiezblocks umsetzen, dazu müssen | |
Planungsbüros angeheuert und KommunikationsexpertInnen mit Befragungen | |
sowie der Organisation von Veranstaltungen und Workshops beauftragt werden. | |
„Das können wir in der Tat nicht selbst stemmen, dafür haben die Bezirke | |
nicht ausreichend Mittel“, so Biedermann. Aber sein Credo dieser Tage | |
heißt: „Abwarten.“ | |
Abwarten will auch seine Amtskollegin und Parteifreundin Almut Neumann im | |
Bezirk Mitte: Dass der neue Senat „von der Zivilgesellschaft und der | |
Politik hart erarbeitete und zukunftsweisende Regelwerke tatsächlich | |
zurückdrehen wird“, mag sie nicht glauben. „Das wäre ein Schritt in die | |
absolut falsche Richtung, es würde den Schutz von schwächeren | |
Verkehrsteilnehmenden infrage stellen.“ | |
Auch Neumann verweist auf die vielen Projekte, die von den Bezirksämtern | |
eigenständig umgesetzt werden können – etwa die Sicherung von Kreuzungen. | |
50 Knotenpunkte habe ihr Straßen- und Grünflächenamt im vergangenen Jahr | |
sicherer gemacht, im laufenden sollen es 100 sein, diesmal mit einem | |
besonderem Fokus auf die Schulwegsicherheit. „Das ist etwas, wo das Land | |
gar nicht eingebunden ist“, sagt die Stadträtin, die vor 2021 als | |
Verwaltungsrichterin tätig war und sich privat beim Verein Changing Cities | |
für die Verkehrswende engagierte. | |
Dann aber gebe es Dinge, bei denen es ohne die Senatsverwaltung nicht | |
vorangeht: „Im Kampf gegen das E-Scooter-Chaos ist die Koordinierung und | |
auch Finanzierung durch das Land unerlässlich“, sagt Neumann. Der Bezirk | |
habe hier zusammen mit der Senatsverwaltung für Mobilität und der | |
BVG-Tochter Jelbi ein Rollerparkplatz-Konzept entwickelt, verbunden mit | |
großräumigen Abstellverbotszonen in deren Umfeld. Ein Konzept, das ihrer | |
Ansicht nach auch in den anderen Bezirken ausgerollt werden sollte. „Ich | |
hoffe sehr, dass das auch der zukünftigen Regierung ein Anliegen sein | |
wird.“ | |
## Tempo 30 braucht den Senat | |
Gar keine Handhabe hat Berlins zweite Verwaltungsebene bei den | |
Hauptverkehrsstraßen. Ohne die Senatsverkehrsverwaltung werden hier keine | |
Maßnahmen wie etwa geschützte Radspuren angeordnet. Mobilitätsgesetz und | |
Radverkehrsplan geben zwar vieles vor, aber auch wenn diese Regelwerke | |
nicht gleich geschleift werden, bedarf es oft des guten Willens der | |
Landesebene – etwa um im Einzelfall mehr als nur die Mindeststandards | |
umzusetzen. | |
Auch die Anordnung von Tempo 30 auf Hauptverkehrsachsen kann nur vom Senat | |
ausgehen. Die möglichen Begründungen dafür sind gemäß der | |
Straßenverkehrsordnung ohnehin beschränkt. Luftreinhaltung und | |
Lärmreduzierung gehören dazu, wenn entsprechende Bedingungen vorliegen. Im | |
ersteren Fall hat Schwarz-Rot auch schon im Koalitionsvertrag klargestellt, | |
dass hier in einigen Straßen bald wieder schneller gefahren werden könnte: | |
Man werde bestehende Anordnungen überprüfen, heißt es da. Das betrifft dann | |
voraussichtlich die Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Achse Leipziger | |
Straße / Potsdamer Straße / Hauptstraße, die noch unter Jaraschs | |
Vorgängerin Regine Günther zur Verringerung der Stickoxid-Level verhängt | |
wurde. Die Luft ist mittlerweile nachweislich besser geworden – Straße frei | |
also für die künftige CDU-Senatorin. | |
Ein Bezirk sticht in diesem Szenario heraus: In Reinickendorf, wo die CDU | |
mit 40,5 Prozent bei den BVV-Wahlen berlinweit am besten abschnitt, | |
verliert die einzige grüne Stadträtin Korinna Stephan wohl die | |
Zuständigkeit für den Verkehr an die ChristdemokratInnen. Weil diese nach | |
anderthalb Jahren das BürgermeisterInnenamt wieder besetzen dürfen – | |
gerechnet wird damit, dass Emine Demirbüken ins Rathaus am Eichborndamm | |
einzieht –, können sie auch die Ressortzuschnitte verändern. | |
Auch in Reinickendorf kämen viele Radinfrastruktur-Projekte noch auf die | |
Straße, weil die Planungen schon fertig seien, sagt Stephan. „Die lassen | |
sich gar nicht mehr stoppen, ohne finanzielle Risiken einzugehen. Es gibt | |
gültige Finanzierungszusagen der Senatsverwaltung oder Verträge mit | |
Baufirmen.“ Allerdings erwartet auch sie „dramatisch verschlechterte | |
Rahmenbedingungen“ für die Bezirke, wenn Schwarz-Rot die Mobilitätswende | |
auf den Prüfstand stellt. Nicht nur wegen der finanziellen Abhängigkeit: | |
„Keine Verwaltung wird planen, solange Unsicherheit besteht, ob oder wie | |
sich gesetzliche Rahmenbedingungen ändern. Das bedeutet Stillstand und | |
Investitionsstau.“ | |
In ihrem Bezirk schwant Stephan für die nahe Zukunft nichts Gutes: „Die CDU | |
hatte vor meiner Amtszeit 26 Jahre Zeit, Ideen zu entwickeln und | |
umzusetzen, aber in den 5 Jahren davor wurden insgesamt 2 Kilometer | |
Radinfrastruktur geschafft.“ Dagegen stünden im laufenden Jahr 12 Kilometer | |
auf der Umsetzungsliste – „sofern nichts davon gestoppt wird“. In diesem | |
Sommer sollen beispielsweise Radspuren auf 3,5 Kilometern Länge der | |
Heiligenseestraße durch den Tegeler Forst angelegt werden. Ein Projekt, das | |
die bezirkliche CDU immer zu verhindern gewusst hatte, auf einer eigentlich | |
idyllischen Straße, wo seit eh und je gerne gerast wird. | |
Trotzdem sagt Stephan, müsse man die Tatsache anerkennen, dass beim Thema | |
Verkehrswende „ein tiefer Riss durch die Bevölkerung“ gehe. „Die | |
menschengerechte Stadt grüner Lesart hat derzeit keine Mehrheit, und wir | |
müssen uns diese Mehrheit erarbeiten, wenn die Mobilitätswende Erfolg haben | |
soll.“ Wenn Schwarz-Rot tatsächlich wie angekündigt den Kampf gegen den | |
Klimawandel angehe, könne dies „auch eine Chance“ sein, Gräben zu | |
schließen, glaubt die Politikerin. Sie stehe in ihrem Bezirk der CDU, die | |
bislang nicht mit Plänen oder auch nur Ideen für neue Verkehrskonzepte | |
aufgefallen sei, „gern beratend zur Seite“. | |
16 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Geplanter-Kiezblock-in-Neukoelln/!5887219 | |
[2] https://kiezblock-rixdorf.de/ | |
[3] /Schwarz-Rot-und-das-Auto/!5925723 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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