# taz.de -- Die StVO torpediert die Verkehrswende: Der Granit muss weg | |
> Die Straßenverkehrsordnung ist ein Problem: Sie lässt viele Maßnahmen zur | |
> Verkehrsberuhigung nur zu, wenn es schon gehäufte Unfallzahlen gibt. | |
Bild: So schön ist es auf der Bergmannstraße – aber darum geht es gemäß S… | |
Manche Projekte starten als High-Tech-Cargobike und kommen als Dreirad an. | |
Die Enttäuschung war Annika Gerold und Andreas Knie ins Gesicht | |
geschrieben, als sie am vergangenen Dienstag den [1][jüngsten Stand in | |
Sachen „parkplatzfreier Graefekiez“] verkündeten. Eigentlich wollten die | |
grüne Verkehrsstadträtin von Friedrichshain-Kreuzberg und der | |
Mobilitätsforscher vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) einen | |
Verkehrsversuch in dem beliebten Gründerzeitkiez starten, bei dem die | |
meisten der rund 2.000 Straßenparkplätze für bis zu einem Jahr weggefallen | |
wären. | |
Jetzt ist nicht mehr allzu viel davon übrig geblieben: Maximal 400 | |
Parkplätze werden es sein, und nur auf rund 80 davon wird es tatsächlich | |
unkonventionelle Nutzungen wie Sitz- und Spielfächen oder Urban Gardening | |
geben, die restlichen werden in Ladezonen und Stellplätze für Car- oder | |
Bikesharing umgewandelt. Das große Experiment, ob es sich nicht besser lebt | |
in einem Viertel, das keine Dauerabstellanlage mehr für Pkws ist – es wird | |
nicht stattfinden, und schuld daran ist nicht die SPD, sondern die | |
Straßenverkehrsordnung. | |
Die StVO, die praktisch alles regelt, was auf deutschen Straßen passiert, | |
steckt immer noch tief in der Vergangenheit – sie ist „Granit“, wie Andre… | |
Knie gegenüber der taz beklagt. Zwar erlaubt die Verordnung im Zuge | |
sogenannter Verkehrsversuche auch ungewöhnliche Eingriffe in den Verkehr, | |
wie es im Graefekiez vorgesehen war. Auch in diesem Fall aber gilt das | |
Dogma: Es muss eine überdurchschnittliche Gefahrenlage geben, die damit | |
verringert werden soll. Dasselbe gilt für fast alle Verkehrsanordnungen, | |
mit wenigen Ausnahmen wie etwa Fahrradstraßen oder Tempo-30-Zonen. | |
Nur in einem „Kernbereich“ des Graefekiezes wird nun noch wirklich | |
experimentiert: Es handelt sich um zwei von vier Seiten eines Häuserblocks, | |
und sie passen nur deshalb zur StVO-Denke, weil sich hier mehrere Schulen | |
befinden. Dass das gesamte Viertel schon seit den 80er Jahren offiziell | |
eine verkehrsberuhigte Zone ist, und dass sich exakt niemand an die | |
entsprechenden Regeln wie das Fahren mit Schrittgeschwindigkeit hält, steht | |
noch mal auf einem anderen Blatt – hier verspricht das Bezirksamt nun | |
nachzubessern. | |
Der Fall zeigt auf, wie fragil die Mobilitätswende immer noch ist, weil sie | |
von veralteten rechtlichen Normen anhängt, die auf Landesebene nicht | |
geändert werden können. Und dass die Öffentlichkeit sich darüber oft im | |
Unklaren befindet, wie – ebenfalls am Dienstag – eine Verwaltungsrichterin | |
in der Verhandlung zu [2][einem nicht unähnlichen Fall im Nachbarkiez] | |
sagte: Man höre immer nur von innovativen stadtplanerischen Ideen, wenn es | |
um Verkehrsberuhigung gehe, und übersehe dabei, dass alle Anordnungen immer | |
der Gefahrenabwehr dienen müssen. Also auch Zweirichtungsfahrradstreifen, | |
10-km/h-Tempolimit und Einbahnstraßenregelungen, wie sie [3][vor zwei | |
Jahren auf der Bergmannstraße eingeführt] wurden. | |
## Alles StVO-konform oder was? | |
Dagegen hatte ein Anwohner geklagt, der glaubt, dass die gewünschte | |
Verkehrsberuhigung in der Nebenstraße, wo er lebt, exakt das Gegenteil zur | |
Folge hat – weil dort jetzt viele Lastwagen und Pkw einen Ausweg aus dem | |
Kiez suchen. Glück für die Verwaltung: Im Fall der Bergmannstraße kann sie | |
nachweisen, dass es auf der belebten Flaniermeile tatsächlich eine | |
Unfallhäufung gab. Alles StVO-konform, folgerte deshalb auch das Gericht, | |
das gar nicht anders kann, als sich an diese Vorgaben zu halten. | |
Ein weiteres Beispiel für die rückwärtsgewandte Wirkung der StVO ist die | |
Busspur auf der Zehlendorfer Clayallee. Hier mussten aufgrund einer | |
Entscheidung des Verwaltungsgerichts die Markierungen im letzten Herbst von | |
der Straße gekratzt werden. Begründung: Es gibt keine besondere | |
Gefahrenlage, und sowieso fahren dort zu wenige Busse, um per Sonderspur | |
mehr Flüssigkeit im Verkehr herzustellen, was offenbar noch als | |
Hilfsargument durchgehen würde. (Mittlerweile hat sich freilich | |
herausgestellt, dass die Entscheidung wohl auf falschen Zahlen bei der | |
Busfrequenz beruhte.) | |
Etwas dramatisch formuliert hat die Verkehrswende also nur dann eine | |
Zukunft, wenn endlich die bundesweiten Rechtsgrundlagen aufgemischt werden. | |
Von der regierenden Ampelkoalition zu erwarten ist das leider nicht. | |
18 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Wohnen-ohne-Parkplaetze-in-Berlin/!5922274 | |
[2] /Gericht-entscheidet-ueber-Bergmannstrasse/!5922310 | |
[3] /Verkehrsberuhigung-der-Bergmannstrasse/!5762811 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
## TAGS | |
Wochenkommentar | |
Friedrichshain-Kreuzberg | |
Straßenverkehrsordnung | |
Wochenkommentar | |
Mobilitätswende | |
Verkehrswende | |
Berlin-Kreuzberg | |
Friedrichshain-Kreuzberg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Verkehrsberuhigung in Berliner Kiezen: Klimaresiliente Sitzmöglichkeiten | |
In den kommenden sechs Monaten wird es drei „Sommerstraßen“ in Berlin | |
geben. Sie sollen die Hitze erträglicher machen. Ob das gelingt? | |
Bedrohte Verkehrswende in Berlin: Besorgtes Abwarten | |
Viele Bezirke treiben die Mobilitätswende voran. Mit einem schwarz-roten | |
Senat dürfte aber einiges schwieriger werden. | |
Bremer Klimaschutzprogramm: Verhakt im Verkehr | |
Als besonders ambitioniert gilt Bremens Klimaschutzziel. Dafür braucht es | |
eine Verkehrswende. Doch was ist auf Bremens Straßen bislang passiert? | |
Gericht entscheidet über Bergmannstraße: Lärmende Ruhe | |
Das Berliner Verwaltungsgericht befindet die Verkehrsberuhigung im | |
Bergmannkiez für rechtens. Geklagt hatte ein Anwohner einer Nebenstraße. | |
Wohnen ohne Parkplätze in Berlin: Nur ein kleines bisschen beruhigt | |
Das Experiment, den Kreuzberger Graefekiez parkplatzfrei zu machen, ist | |
beim Zusammenstoß mit der rechtlichen Realität massiv geschrumpft. |