# taz.de -- Wohnen ohne Parkplätze in Berlin: Nur ein kleines bisschen beruhigt | |
> Das Experiment, den Kreuzberger Graefekiez parkplatzfrei zu machen, ist | |
> beim Zusammenstoß mit der rechtlichen Realität massiv geschrumpft. | |
Bild: Sollten eigentlich alle weg: Parkplätze im Kreuzberger Graefekiez | |
BERLIN taz | Es sollte ein ganz großer Wurf werden: Im Rahmen eines | |
Verkehrsversuchs mit Begleitung des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) | |
wollte das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg alle Parkplätze im | |
Kreuzberger Graefekiez für bis zu 12 Monate abschaffen. Getestet werden | |
sollte, wie die frei werdenden Flächen gerechter und kreativ genutzt werden | |
könnten. Bei der Vorstellung der überarbeiteten Planung stellte sich am | |
Dienstag heraus: [1][Das Projekt ist massiv zusammengeschrumpft.] Grund | |
sind rechtliche Bedenken. | |
Wie Verkehrsstadträtin Annika Gerold (Grüne) und der Mobilitätsforscher | |
Andreas Knie vom WZB erläuterten, sollen ab Ende April und über den Verlauf | |
eines Jahres hinweg maximal 400 der rund 2.000 Parkplätze im Kiez wegfallen | |
– bis zu 80 davon in einem sogenannten Kernbereich aus zwei winkelförmig | |
aneinander grenzenden Abschnitten der Böckh- und Graefestraße. Hier sollen | |
ab dem Sommer bisherige Stellplätze umgenutzt und zum Teil entsiegelt | |
werden; man erhofft sich die rege Beteiligung der Anwohnenden, etwa im | |
Rahmen von Workshops. | |
Die restlichen Stellplätze fallen über den gesamten Kiez verteilt punktuell | |
zugunsten von Lade- und Lieferzonen sowie einem Dutzend „Jelbi“-Stationen | |
weg. An Letzteren stehen Sharingfahrzeuge zur Ausleihe bereit. Wie schnell | |
diese Maßnahmen umgesetzt werden, steht noch nicht fest. Es kommt dabei | |
auch auf die Bedürfnisse der Gewerbetreibenden im Kiez an, mit denen das | |
Bezirksamt Gespräche führen wird. | |
In einem zweiten Schritt will das WZB-Team um Andreas Knie die Erfahrungen | |
im „Kernbereich“ auswerten und auf dieser Basis ein „Freiraumkonzept“ f… | |
den gesamten Kiez entwickeln. Über dieses wiederum soll die | |
Bezirksverordnetenversammlung (BVV) im Frühjahr 2024 beraten und abstimmen. | |
Es war auch ein Beschluss der grün-roten BVV-Mehrheit im Juni 2022 gewesen, | |
der das Projekt angestoßen hatte – [2][und für reichlich Gegenwind sorgte]: | |
Im vergangenen November triumphierte die im Bezirk als Splitterpartei | |
agierende CDU mit der [3][Einreichung von 1.600 Unterschriften] für einen | |
EinwohnerInnenantrag, der den Verkehrsversuch ablehnte. | |
## „Die StVO ist eine Realität“ | |
Dieser Gegenwind und drohende Klagen haben das Bezirksamt nun dazu bewegt, | |
das ganze Projekt erst einmal mehrere Nummern kleiner anzulegen. Man habe | |
sich „sehr gründlich“ beraten, sagte Annika Gerold am Dienstag, und sei zu | |
dem Schluss gekommen, dass im bestehenden rechtlichen Kontext ein | |
schrittweises Vorgehen sinnvoller sei: „Die StVO ist eine Realität, mit der | |
wir umgehen müssen.“ | |
Tatsächlich setzt die Straßenverkehrsordnung in ihrer aktuellen Form der | |
Anordnung verkehrlicher Maßnahmen viel strengere Grenzen, als viele Fans | |
der Mobilitätswende vermuten: Normalerweise müssen Eingriffe in den | |
fließenden und ruhenden Verkehr mit der Abwehr konkreter Gefahren begründet | |
werden. Im Graefekiez sei die Gefahrenlage allerdings „nur“ | |
durchschnittlich, so die Stadträtin. Das sei wohlgemerkt nicht ihre | |
politische Meinung, sondern eine rechtliche Einschätzung. | |
Die StVO sei nicht mehr zeitgemäß, sagte auch Andreas Knie: „Sie verlangt | |
einen Blutzoll.“ Damit meint er, dass sich erst Unfälle ereignen müssen, | |
bevor verkehrsberuhigende Maßnahmen umgesetzt werden können. Deshalb | |
argumentiert das Bezirksamt laut Felix Weisbrich, dem Leiter des Straßen- | |
und Grünflächenamtes, bei der Umgestaltung des Kernbereichs mit einer | |
überdurchschnittlichen – im juristischen Jargon: „qualifizierten“ – | |
Gefahrenlage, die sich aus den dortigen Schulstandorten ergebe. | |
Mittelfristig soll die Entwicklung des „Freiraumkonzepts“ für den gesamten | |
Graefekiez dann von einem Passus der StVO gestützt werden, der die | |
„geordnete städtebauliche Entwicklung“ zu einer möglichen Voraussetzung f… | |
verkehrliche Eingriffe macht. Hier gelte es auch, ein „bauliches | |
Missverständnis“ aus den 80er Jahren zu beheben, so Weisbrich: Dass es sich | |
beim Greafekiez um eine sogenannte verkehrsberuhigte Zone handelt, ist zwar | |
an der Beschilderung, nicht aber an der konventionellen Gestaltung der | |
Straßen zu erkennen. Entsprechend hält sich niemand an Vorgaben wie das | |
Fahren mit Schrittgeschwindigkeit. | |
Dass auch die abgespeckte Version des Versuchs aussagekräftige Resultate | |
hervorbringen wird, davon gab sich WZB-Forscher Knie am Dienstag überzeugt: | |
Auch die jetzt angestrebten Zahlen böten „genügend Irritationsmaterial“, | |
das Projekt habe ausreichend Modellcharakter auch über Berlin hinaus. „Der | |
Kiez hat die Chance, seine eigene Geschichte zu schreiben.“ | |
14 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://projekt-graefekiez.de/ | |
[2] /Parkplatzfreier-Kiez-in-Berlin-geplant/!5851517 | |
[3] /Gegen-Verkehrsversuch-im-Graefekiez/!5895353 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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