| # taz.de -- Lobbyarbeit für den Fußverkehr: Ein Mann für die Straße | |
| > Roland Stimpel kämpft mit seinem Verein FUSS e. V. für die Rechte von | |
| > Fußgänger*innen. Ein Spaziergang mit Hindernissen in Berlin-Mitte. | |
| Bild: Tritt nicht gerne zur Seite: Roland Stimpel, Vorsitzender von FUSS e.V. i… | |
| Berlin taz | Nein, nein, ein „Wutgänger“ sei er nicht, das ist Roland | |
| Stimpel wichtig. Aber als ein Vater mit Kinderwagen wegen eines quer | |
| parkenden Fahrrads auf die Straße ausweichen muss, bricht es dann doch aus | |
| ihm heraus: „Berlin-Mitte ist ein failed state! Die Behörden haben hier | |
| vollständig kapituliert.“ Fast nirgendwo in Deutschland könne man auf dem | |
| Bürgersteig sicher von A nach B kommen, schimpft Stimpel. Schon gar nicht | |
| in Berlin. | |
| Die harschen Worte kommen von einem Mann, der sich vorgenommen hat, auf | |
| Deutschlands am meisten vernachlässigtes Verkehrsmittel hinzuweisen: das | |
| Zu-Fuß-Gehen. [1][Roland Stimpel, 65 Jahre alt, ist Vorstandsmitglied im | |
| Verein FUSS e. V.] Während die meisten Deutschen den Autoklub ADAC und | |
| viele Großstädter den Fahrradverband ADFC kennen, fristet die offizielle | |
| Fußgängerlobby hierzulande eher ein Schattendasein. | |
| Doch es gibt sie. Stimpel, ein bedachter Mann mit grauem Lockenkopf und | |
| langem Wollmantel, repräsentiert den rund 1.000 Mitglieder starken Verein. | |
| Dessen Ziel ist eine Politik, die nicht bei Schnellradwegen und Busspuren | |
| endet, sondern das alltäglichste aller Verkehrsmittel in den Blick nimmt: | |
| die menschlichen Füße. | |
| „Das Problem fängt direkt vor der Haustür an“, sagt Stimpel, während er … | |
| Planckstraße, eine kurze Parallele zur ungleich bekannteren | |
| Friedrichstraße, in Berlin-Mitte entlangschlendert. Die Luft ist kalt an | |
| diesem Morgen, von der Spree weht eine feuchte Brise herüber. Während eines | |
| kleinen Spaziergangs – etwas mehr als einen Kilometer lang – möchte der | |
| Fußlobbyist demonstrieren, was auf bundesdeutschen Bürgersteigen im Argen | |
| liegt. Aus seiner Sicht, so viel sei schon mal gesagt: fast alles. | |
| Wenige Meter weit erst ist Stimpel gekommen, da wölbt sich auch schon das | |
| Kopfsteinpflaster. Ein Rohr ragt aus dem Boden, daneben ein Wald aus | |
| provisorischen Verkehrsschildern und ein Zebrastreifen, der vor einem | |
| Baucontainer endet. „Die Fahrbahn ist immer heilig“, sagt Stimpel, „aber | |
| der Gehweg verkommt zur Resterampe.“ Er spricht in einem ruhigen Ton, aber | |
| anhand seiner Wortwahl merkt man, wie es in ihm brodelt. Der Zebrastreifen, | |
| der im Nirgendwo endet? „Wenn hier eine alte Person stürzt und sich die | |
| Hüfte bricht, liegt ihre Lebenserwartung bei einem Jahr“, behauptet er. | |
| Dass das mehr markiger Spruch als medizinischer Fakt ist, weiß er | |
| vermutlich, aber es klingt eben gut. | |
| Bevor er in Rente ging, war Stimpel Journalist. Sein Handwerk hat er an der | |
| renommierten Henri-Nannen-Journalistenschule gelernt, für seine Texte bekam | |
| er mehrere Journalistenpreise. Seine Auftraggeber waren die Süddeutsche | |
| Zeitung, Geo, FAZ, Wirtschaftswoche, Stern. Noch heute schreibt er | |
| regelmäßig Gastbeiträge. „Eigentlich bin ich aber im Vollzeitehrenamt“, | |
| sagt Stimpel und meint sein Engagement für FUSS e. V. – eine frühe | |
| Verrentung machte es möglich. | |
| Die nächste Kreuzung auf dem kleinen Spaziergang naht: Friedrichstraße Ecke | |
| Am Weidendamm. Hier hat man einen tollen Blick am Spreeufer entlang in | |
| Richtung Regierungsviertel. In der Ferne saust eine S-Bahn über die Spree, | |
| die Morgensonne taucht die Uferpromenade in ein orangefarbenes Licht. Nur: | |
| Wie überquert man diese viel befahrenen Straßen denn jetzt? Eine | |
| Fußgängerampel gibt es erst einige Meter weiter: Wer am Ufer auf dem | |
| Spazierweg weiterwill, muss also einen ordentlichen Umweg laufen. | |
| „Und da liegt auch schon der erste E-Scooter im Weg“, bemerkt Stimpel, nun | |
| ganz in seinem Element. Durchschnittlich alle 77 Meter taucht ein solches | |
| Hindernis auf einem Bürgersteig auf, wie sein Verband im Rahmen einer | |
| Studie in drei Stadtteilen nachgewiesen hat. | |
| Berlin-Mitte, ein failed state? Diesen Ausdruck hört Almut Neumann, die | |
| zuständige Bezirksstadträtin in Mitte, nicht gerne. Aber sie räumt ein: „An | |
| vielen Stellen ist die Situation nicht so, wie man sie sich wünschen | |
| würde.“ Die Grünen-Politikerin kennt Roland Stimpel, hat schon mehrfach die | |
| Situation der Fußwege mit ihm diskutiert – ein konstruktiver Austausch, wie | |
| sie betont. Schließlich sagt sie: „Wir haben ein Riesenproblem.“ | |
| Sicherere Fußwege, weniger Falschparker, bessere Regelungen für E-Scooter – | |
| all das hat sie sich nach eigenen Angaben vorgenommen. „Ich wünschte, wir | |
| wären in der Vergangenheit schneller gewesen“, sagt Neumann, „aber wir | |
| arbeiten mit Hochdruck daran.“ | |
| Wir gehen weiter, die Spree entlang gen Pergamonmuseum, zunächst ohne | |
| weitere Vorkommnisse. Doch dann ist plötzlich Schluss: Das Geländer einer | |
| Brücke ragt komplett in den Bürgersteig hinein. Um geradeaus | |
| weiterzukommen, muss man entweder übers Geländer klettern oder auf die | |
| Fahrbahn treten – keine gute Idee angesichts der Tatsache, dass hier gerne | |
| Lastwagen und Blaulichtfahrzeuge vorbeibrettern. | |
| Die Analyse des Fußwegexperten: „Das ist eine der verrücktesten Stellen der | |
| Stadt.“ Stimpel fasst sich ein Herz und das Geländerrohr, um das glitschige | |
| Hindernis zu überklettern. Wenigstens haben seine Schuhe genügend Profil. | |
| „Für uns ist das nur ärgerlich“, sagt Stimpel, „aber stellen Sie sich m… | |
| vor, Sie haben eine Behinderung. Barrierefreiheit? Davon kannste hier | |
| träumen.“ | |
| Wie eine fußgängerfreundliche Straße auszusehen hat, hat FUSS e. V. genau | |
| definiert: Der Gehweg soll mindestens 2,50 Meter breit sein und möglichst | |
| nur von „Menschen auf zwei Beinen“ genutzt werden – eine Formulierung, die | |
| sich vor allem gegen Radlerinnen und E-Scooter-Fahrer richtet. So steht es | |
| im Forderungskatalog des Fachverbands. Eine weitere Idee: Wer andere | |
| behindert oder gefährdet, soll 60 Euro Bußgeld bezahlen, genau wie beim | |
| Schwarzfahren. | |
| Dringen die Aktivistinnen und Aktivisten mit solchen Forderungen durch? | |
| „Nun“, sagt Stimpel, „immerhin kommt das Wort Fußverkehr im | |
| Koalitionsvertrag zum ersten Mal vor.“ Auf Seite 53, im Kapitel | |
| „Radverkehr“, steht der ersehnte Satz: „Den Fußverkehr werden wir | |
| strukturell unterstützen und mit einer nationalen Strategie unterlegen.“ | |
| Was das nun genau bedeutet – zumal ja nun auch bald eine neue Regierung am | |
| Ruder sein wird, der die Grünen nicht mehr angehören werden?Unklar. Doch | |
| Stimpel ist zuversichtlich: „So fing es mit dem Radverkehr schließlich auch | |
| an.“ Aus einem Satz im Koalitionsvertrag würde ein Kapitel, vielleicht | |
| Realpolitik. | |
| Überhaupt, die Radler. Zu ihnen hat Stimpel eine geteilte Meinung. Klar | |
| seien Zweiräder umweltfreundlicher als Autos. „Aber ich erlebe sie oft als | |
| aggressive, verdrängende Verkehrsteilnehmer“, sagt Stimpel. Im VCD, dem | |
| ökologisch orientierten Verkehrsklub, ist er ebenfalls Mitglied, wenngleich | |
| dieser für seinen Geschmack zu wenig an Menschen auf zwei Beinen denkt. Er | |
| seufzt. „Das Fahrrad und ich, das ist wie eine enttäuschte Liebe.“ | |
| Der VCD selbst gibt sich milder: Auf Nachfrage erklärt eine Sprecherin, | |
| dass man gut mit FUSS e. V. zusammenarbeite. Das Anliegen des | |
| Fußgängervereins stelle „einen sehr wichtigen Aspekt für die Verkehrswende | |
| dar“. Zudem gebe es viele Menschen, die in beiden Vereinen Mitglied seien. | |
| Auf der anderen Seite der Spree verengt sich der Bürgersteig erneut. Links | |
| ein Stromkasten, rechts ein Restaurant, das draußen Tische und Stühle | |
| aufgestellt hat. „Wenn jetzt noch ein Lieferwagen auf dem Gehweg parkt, ist | |
| alles verstopft“, schimpft Stimpel, der nicht nur asphalterprobte Füße, | |
| sondern offenbar auch hellseherische Fähigkeiten besitzt: Einige Meter | |
| weiter, auf der Tucholskystraße, steht tatsächlich ein Kastenwagen vor | |
| einer Hauseinfahrt. Jetzt platzt Stimpel der Kragen: „Hier kommt niemand | |
| mehr durch“, herrscht er den Fahrer an. „Fahren Sie mal einen Meter | |
| zurück!“ Der verdutzte Fahrer tut, wie ihm geheißen, Punktsieg für den | |
| Fußverkehr. | |
| Bezirksstadträtin Neumann kann den Frust nachvollziehen. Sie klingt sogar | |
| selbst ein wenig frustriert, wenngleich deutlich dosierter als Stimpel: | |
| „Viele Auto-, aber auch Radfahrer nehmen die Straßenverkehrsordnung nur als | |
| Empfehlung wahr“, glaubt sie. „Wenn man eine Person, die im Rollstuhl | |
| sitzt, zwingt, auf die Fahrbahn auszuweichen, ist das nicht nur ärgerlich, | |
| sondern eine Gefahr.“ | |
| Umso wichtiger ist ihr die Botschaft, dass etwas dagegen getan wird. „Die | |
| Bußgelder sind oft zu niedrig, um abzuschrecken. Deshalb setzen wir in | |
| Berlin-Mitte verstärkt aufs Abschleppen.“ Und tatsächlich: Laut amtlicher | |
| Statistik wurden 2021 rund 4.000 Autos abgeschleppt. Ein Jahr später kam | |
| der Bezirk bereits auf knapp 6.000 „Umsetzungen“, wie das Abschleppen im | |
| Amtsdeutsch heißt. | |
| Doch wieso sind solche Maßnahmen überhaupt nötig? Woher kommt es, das | |
| Rowdytum im Straßenverkehr? So ganz scheint sich die Bezirksstadträtin da | |
| auch nicht sicher zu sein. „Ich nehme wahr, dass das Verkehrsverhalten | |
| vieler leider von Rücksichtslosigkeit gegenüber den schwächeren | |
| Verkehrsteilnehmenden geprägt ist“, sagt sie. „Wir brauchen hier einen | |
| Mentalitätswechsel: weg vom Recht des Stärkeren hin zu gegenseitigem | |
| Verständnis und Rücksichtnahme.“ | |
| Auch Roland Stimpel hat kein Problem damit, auf Konfrontationskurs zu | |
| gehen. Wenn im Bundestag eine Anhörung zum Straßenverkehrsgesetz ansteht, | |
| trägt er sachlich seine Argumente vor. Viele Statistiken hat er im Kopf, | |
| von den jährlich getöteten Fußgängern im Bundesgebiet (es sind über 400) | |
| bis hin zum Anteil der Senioren daran (etwa die Hälfte). Aber er ist auch | |
| ein Mann der Straße. Ob Mahnwachen für getötete Fußgänger, Demonstrationen | |
| oder Diskussionen mit Verkehrssündern – alles schon gehabt. Ein Auto | |
| besitzt er nicht, dafür zwei Fahrräder. Auf seinem Handy hat er drei | |
| Carsharing-Apps installiert. | |
| Geboren wurde Stimpel in Göttingen, fürs Studium der Stadtplanung kam er | |
| nach Berlin. Seine „Karriere“ als Aktivist begann, als er sich in den | |
| 1980er Jahren gegen die geplante Westtangente engagierte. „Wenn wir keinen | |
| Erfolg gehabt hätten, gäbe es heute eine sechsspurige Autobahn am | |
| Reichstag“, sagt Stimpel. „Wir warten heute noch auf das Dankesschreiben, | |
| weil wir das tolle Bauland freigehalten haben.“ Es ist einer der wenigen | |
| Augenblicke, in denen er nicht komplett ernst schaut. | |
| Hat sich die Lage der Fußgängerinnen und Fußgänger verbessert, seit die | |
| Grünen in der Regierung sind? Oder setzt FDP-Verkehrsminister Volker | |
| Wissing immer noch hauptsächlich aufs Auto? Noch sei das schwer zu sagen, | |
| meint Stimpel. Die positivsten Entwicklungen spüre man vor allem auf | |
| lokaler Ebene. Zum Beispiel in Leipzig. „Dort gibt es mit Friedemann Goerl | |
| einen Fußverkehrsbeauftragten, der zufällig auch Mitglied bei uns ist.“ | |
| Wieder dieses verschmitzte Lachen. Natürlich hat ihn Stimpel auch schon | |
| interviewt; das Gespräch kann man [2][auf der Vereinswebsite nachlesen]. | |
| Bedauerlich findet Stimpel es trotzdem, dass er überhaupt laut werden muss. | |
| Mehr Zebrastreifen, sichere Übergänge, konsequentere Sanktionen für | |
| Falschparker – selbst solche Basics sind im Autoland Deutschland vielerorts | |
| nicht zu machen. Wieder kommt er auf Leipzig als Vorbild zu sprechen: „Der | |
| dortige Oberbürgermeister ist der einzige in Deutschland, der jedes Jahr | |
| eine Begehung durch die Stadt mitmacht.“ Laut FUSS e. V. ist die Lage im | |
| europäischen Ausland oft deutlich besser, vor allem in Paris. Das sei die | |
| „Hauptstadt des Gehens“, schwärmt Stimpel. „Alles ist sehr kleinteilig u… | |
| nah beieinander, die Ampelphasen sind kurz, und man kommt zu Fuß gut | |
| zurecht.“ | |
| Auf unserem Spaziergang durch Berlin hingegen endet die Freude am | |
| Zu-Fuß-Gehen an der nächsten Straßenecke; ein Falschparker steht mitten im | |
| Weg. Stimpel ärgert sich, dass er seine Aufkleber mit dem Slogan „Scheiße | |
| geparkt“ nicht dabeihat. „Wir kleben uns nicht auf der Straße fest“, sagt | |
| er, „aber wir kleben unsere Botschaften.“ Ist das nicht illegal? | |
| „Sachbeschädigung liegt nur dann vor, wenn sich der Kleber nicht ablösen | |
| lässt“, erklärt Stimpel. Der Bürgeraktivist klingt nun wie ein Beamter. | |
| Doch er will nicht alles schlechtreden. Zwischen all den E-Scootern, | |
| Mamataxis und quer stehenden Verkehrszeichen identifiziert der | |
| Oberfußgänger durchaus Fortschritte: An der Ecke | |
| Tucholskystraße/Auguststraße wurden Autoparkplätze zu Fahrradstellflächen | |
| umgewandelt. Dahinter hat ein Restaurant seine Außengastronomie vom Gehweg | |
| auf die Fahrbahn verlagert. „Kleine ermutigende Anfänge“, nennt es Stimpel | |
| gnädig. | |
| Nach den ermutigenden Anfängen gefragt, verweist Bezirksstadträtin Neumann | |
| auf die Fortschritte, die ihre Behörde bereits habe erzielen können: | |
| regelmäßige Patrouillen des Ordnungsamts, Verbotszonen sowie klar geregelte | |
| Abstellflächen für E-Scooter. 2022 wurden an 50 Kreuzungen Parkplätze | |
| gestrichen und in Fahrradstellplätze umgewandelt; dieses Jahr sollen 100 | |
| weitere folgen. Im Dezember 2022 überreichte ihr Roland Stimpel, verkleidet | |
| als Weihnachtsmann, ein Dankeschön für das Kreuzungsprojekt. Almut Neumann | |
| hat die Szene bei Instagram hochgeladen; Stimpel trägt ein Gedicht vor: | |
| „Für deine schicken Fahrradbügel / Gibt’s das Gegenteil von Prügel / Alle | |
| Kinder haben’s gern / Wenn Zweiräder vom Gehweg fern“. | |
| Aber nun, nur hundert Meter weiter, entdeckt der Aktivist erneut etwas an | |
| diesem Morgen, das sein Blut in Wallung versetzt: ein Werbeschild, | |
| platziert mitten auf dem Gehweg. Stimpel fackelt nicht lange und stellt das | |
| Schild vor den Eingang des dazugehörigen Geschäfts. Als ein verwunderter | |
| Mitarbeiter hervoreilt, herrscht Stimpel ihn an: „Haben Sie eine | |
| Sondernutzungsgenehmigung? Wenn nicht, haben Sie gleich ’ne Anzeige am | |
| Hals!“ | |
| Der belesene Fußgängeraktivist wirkt nun seltsam verbissen, wie eine | |
| Ein-Mann-Armee, bewaffnet mit Gesetzestexten und bösen Sprüchen. Auch die | |
| Website des Vereins hat diesen Duktus inne. Da ist vom Wert des Flanierens | |
| die Rede, vom Gehen als Selbstzweck, von Entschleunigung und Gesundheit. | |
| Aber wehe, wenn ein Flaneur diesem Ideal nicht entspricht. „Fußgänger mit | |
| Smartphone sind oft lächerlich, manchmal lästig, aber auf dem Gehweg kaum | |
| je gefährlich“, heißt es in einem Kapitel. Dem Satz folgt die Forderung, | |
| dass solche Delikte nur bei Fahrern verfolgt werden sollten – ein | |
| nachvollziehbarer Gedanke, aber warum muss er so selbstgefällig und | |
| durchaus beleidigend daherkommen? | |
| Die Frage, ob es sich bei Stimpels Verein vielleicht doch um eine Truppe | |
| von Wutgängern handelt, verneint er, nun wieder ganz ruhig. Man dürfe nicht | |
| nur das Negative sehen. „Sonst hat man keine Freude mehr am | |
| Spazierengehen.“ Er erzählt von Hardcoreaktivisten, die sich bei FUSS e. V. | |
| einbringen wollten. „Die waren ganz schnell wieder weg, weil wir ihnen | |
| nicht radikal genug sind. Die hätten am liebsten eine Sitzblockade auf dem | |
| Radweg veranstaltet. | |
| Solche Extreme sind nichts für ihn. Er diskutiert, er demonstriert, aber er | |
| weiß auch, wann Schluss ist. Lieber schreibt er etwaigen Frust nieder. In | |
| seinem 2021 erschienenen Buch „Wer langsam macht, kommt eher an“ teilt er | |
| mehrfach gegen seine enttäuschte Liebe, das Fahrrad, aus. „Die | |
| Heilserwartung, die selbst ernannte Avantgardisten vor Jahrzehnten mit dem | |
| Auto verbanden, ist inzwischen aufs Fahrrad übergegangen“, schreibt er da. | |
| Doch auch in vermeintlichen Radlerparadiesen sei nicht alles perfekt. | |
| „Amsterdam wie Kopenhagen sind kleiner und kompakter als Berlin, also | |
| eigentlich gehfreundlicher“, heißt es in dem Buch. Aber in beiden Städten | |
| werde weniger gelaufen. „Und das, obwohl Berlin seine Bürgersteige seit | |
| Jahrzehnten verschlampen lässt, während Amsterdam und Kopenhagen den | |
| Radverkehr päppeln.“ | |
| Nur das Auto bekommt noch mehr sein Fett weg. Wobei Stimpel nicht bloß | |
| herumpöbelt, sondern genau analysiert, immer untermauert von Zahlen und | |
| Fakten, da ist er Journalist geblieben. Besonders spannend liest sich das | |
| Kapitel über das, was er den „deutschen Tempo-Kult“ nennt. Liegt es nur an | |
| der starken Autoindustrie, oder geht das rastlose Rasen bereits auf das | |
| Dritte Reich zurück? „Wie das Waffenbesitzen in den USA hat sich das | |
| Schnellfahren auf der Autobahn längst von seinem historischen Sinn gelöst | |
| und spukt nur noch als diffuser Freiheitsmythos herum“, schreibt Stimpel. | |
| Am Ende des Berliner Spaziergangs setzt er sich auf eine Bank und lässt den | |
| Ausflug Revue passieren. Nur etwas mehr als einen Kilometer sind | |
| zurückgelegt, per pedes, wie sich das für passionierte Flaneure gehört. | |
| Trotz aller Widrigkeiten ist das Ziel unbeschadet erreicht. „Aber wir haben | |
| auch keine Behinderung“, betont Stimpel und zieht einen Vergleich: „Wenn es | |
| auf der Fahrbahn so viele Blockaden gäbe wie auf dem Gehweg, würden sich | |
| die Autofahrer sofort beschweren. Als Fußgänger wurschtelt man sich aber | |
| einfach durch und nimmt die Probleme hin.“ Klar, dass Roland Stimpel, der | |
| Oberfußgänger, da nicht mitgehen kann. | |
| 5 Apr 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Bilanz-nach-1-Jahr-Fussverkehrsgesetz/!5827445 | |
| [2] https://www.fuss-ev.de/buerger-und-staedte/staedte-fuss-beauftragter | |
| ## AUTOREN | |
| Steve Przybilla | |
| ## TAGS | |
| Berlin-Mitte | |
| Verkehrspolitik | |
| GNS | |
| Fußverkehr | |
| Radverkehr | |
| Verkehrsplanung | |
| Göttingen | |
| Fußverkehr | |
| Bürgerbeteiligung | |
| Verkehrswende | |
| E-Scooter | |
| Verkehrswende | |
| Verkehr | |
| Vision Zero | |
| Hamburg | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Volksentscheide über Radverkehr: Kostengespenst im Rathaus | |
| Göttingens OB behauptet, zwei Bürgerentscheide über den Radverkehr würden | |
| die Stadt 100 Millionen Euro kosten. Die Initiative spricht von „Fake | |
| News“. | |
| Auf den Straßen Berlins: Gefahrenzone Autoverkehr | |
| In den ersten Tagen des Jahres sind schon 4 ältere Fußgänger:innen im | |
| Straßenverkehr getötet worden. Der Interessenverband Fuss ist alarmiert. | |
| Bürgerbeteiligung in Berlin: Per Mausklick den Verkehr ändern | |
| Unsere Autorin hat bei der Berliner Senatsverwaltung eine Ampel und einen | |
| Zebrastreifen beantragt. Was folgte, war eine Achterbahnfahrt der Gefühle. | |
| Studie zu Rad-Fußgänger-Unfällen: Gefährliche E-Bikes und Lastenräder | |
| Über 5.600 Menschen wurden 2022 bei Kollisionen zwischen Radlern und | |
| Fußgängern verletzt. Unfallforscher fordern Konsequenzen. | |
| E-Scooter-Plage: Verlässlich im Weg | |
| Seit Einführung neuer Regeln gegen wildgeparkte E-Scooter hat sich kaum | |
| etwas verbessert. Der Fachverband Fußverkehr fordert ein Aus für die | |
| Anbieter. | |
| Neue Ampeln: Countdowns für ein besseres Berlin | |
| Mit Ampeln, die anzeigen, wie viel Zeit bis zur Rotphase bleibt, will der | |
| Senat den Verkehr verbessern. Solches Runterzählen eignet sich auch gut für | |
| andere Politikfelder. | |
| Streit um Gehweg-Parken: StVO gilt künftig auch in Hamburg | |
| Der Bezirk Nord will das verbotene Parken von PKW auf Gehwegen konsequent | |
| verfolgen. Anwohner:innen fürchten um Parkplätze. | |
| Autogerechte Infrastruktur: Verteilungskampf an der Kreuzung | |
| Mit der Rekommunalisierung des Ampelmanagements will der Berliner Senat die | |
| Verkehrswende beschleunigen. Die Zivilgesellschaft ist skeptisch. | |
| Zu Fuß diagonal über die Kreuzung: Ein bisschen Tokio in Hamburg | |
| Die SPD will in Hamburg-Eimsbüttel eine Diagonal-Kreuzung schaffen und | |
| Fußgänger:innen damit das Leben erleichtern. |