# taz.de -- Volksentscheide über Radverkehr: Kostengespenst im Rathaus | |
> Göttingens OB behauptet, zwei Bürgerentscheide über den Radverkehr würden | |
> die Stadt 100 Millionen Euro kosten. Die Initiative spricht von „Fake | |
> News“. | |
Bild: Freie Fahrt für den Bürgerentscheid: In Göttingen herrscht Streit übe… | |
Hamburg taz | Wer abstimmen darf, sollte auch ein paar neutrale | |
Informationen über die Folgen der anstehenden Entscheidung erhalten. Diesem | |
Gedanken folgte Göttingens Oberbürgermeisterin Petra Broistedt (SPD) und | |
präsentierte vergangene Woche die finanziell desaströsen Konsequenzen, | |
sollte [1][der anstehende, von einer Bürgerinitiative angestoßene | |
Radentscheid von der Mehrheit der Göttinger:innen angenommen werden.] | |
Dafür erntet sie nun massiv Kritik wegen der von ihr kolportierten 100 | |
Millionen Euro, die dem städtischen Haushalt dann leider fehlen würden – | |
etwa bei der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum, bei der Sanierung von | |
Schulgebäuden oder bei Pflegeangeboten. | |
Nicht nur die Initiative Göttingen Zero tobt über das „Spiel mit falschen | |
Zahlen“, mit dem die sozialdemokratische Oberbürgermeisterin als in diesem | |
Fall zur Neutralität verpflichtete Verwaltungschefin versuche, „den | |
Radentscheid scheitern zu lassen“. | |
Genau genommen sind es zwei Entscheide, über die die Göttinger:innen am | |
9. Juni parallel zur Europawahl abstimmen sollen – beide hatte die | |
Initiative durch das Sammeln von rund 8.500 Unterschriften vorangetrieben. | |
Sie zielen darauf ab, den Radverkehr in der Uni-Stadt bis 2030 deutlich zu | |
verbessern – [2][auch um die Stadt klimaneutral zu machen.] Dazu brauche es | |
„mehr sichere und ausreichend breite Radwege, auf denen Kinder und ältere | |
Menschen sicher und selbstständig durch die Stadt fahren können“, sagt | |
Martin Hulpke-Wette von der Initiative. | |
Während der erste Entscheid allgemeine Ziele benennt, konkretisiert der | |
zweite Entscheid die Ziele und benennt etwa Straßen, an denen Protected | |
Bike Lanes von den Autospuren abgegrenzt werden sollen. Die | |
Aktivist:innen legen auch eine Liste von Straßen vor, die zu | |
Fahrradstraßen umgewandelt werden sollen. Unterstützt wird die Initiative | |
unter anderem von der Gewerkschaft Ver.di, dem Asta der Uni und dem | |
Umweltverband BUND. | |
## Einsparungen an anderer Stelle | |
Den Berechnungen der Verwaltung zufolge würde die Annahme des ersten | |
Entscheids die Stadt knapp 40 Millionen Euro kosten, die Umsetzung des | |
zweiten etwa 56 Millionen. Um die Entscheide umzusetzen, müsse die Stadt 20 | |
Stellen schaffen und diese in Zeiten des Fachkräftemangels auch noch | |
besetzt bekommen. | |
Wer beiden Radentscheiden zustimme, müsse sich bewusst sein, dass für | |
deren Umsetzung finanzielle Mittel an anderer Stelle eingespart werden | |
müssten, sagte Broistedt der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) | |
zufolge vergangene Woche bei einer Informationsveranstaltung. | |
Seither lässt die Kritik an Broistedts Darstellung nicht nach. Die Zahlen | |
seien in vielfacher Hinsicht völlig unseriös, kritisiert Göttingen Zero. | |
„Die Stadt ignoriert, dass die beiden Radentscheide sich inhaltlich zu | |
einem Drittel überschneiden“, sagt Hulpke-Wette hinsichtlich der Forderung | |
nach Protected Bike Lanes. Demnach könnten die Kosten für beide Begehren | |
nicht einfach addiert werden. | |
Auch beinhalte die Kostenschätzung eine jährliche Inflation von 15 Prozent. | |
Eine solche Preissteigerung habe es im Baugewerbe zwar zwischenzeitlich im | |
Kontext des Ukrainekrieges kurz gegeben. Sie liege jedoch längst wieder bei | |
den üblichen fünf Prozent. Außerdem habe die Oberbürgermeisterin auch | |
verschwiegen, dass solche Bauvorhaben in der Regel zu mindestens 50 Prozent | |
von Land und Bund gefördert werden. | |
## Grüne sprechen von „Kostengespenst“ | |
Die Göttinger Grünen haben sich der Kritik angeschlossen und halten | |
Broistedts Kostenschätzung für „unlauter“. Angesichts der verschwiegenen | |
Förderungen „schrumpft das Kostengespenst schnell auf ein Viertel“, sagt | |
Susanne Stobbe, Fraktionsvorsitzende im Stadtrat. „Wenn notwendige | |
Maßnahmen von einer breiten Masse Göttinger*innen gewollt und getragen | |
werden, dann sollten wir uns als Politik, Verwaltung und Verwaltungsspitze | |
unbedingt darüber freuen, anstatt sie im Vorfeld schon auf diese Weise zu | |
demontieren.“ | |
Am Montag dann reagierte Broistedt [3][mit einer „Gegendarstellung“ auf die | |
Kritik]. „Die Ermittlung zu den Kosten der beiden Bürgerentscheide erfolgte | |
2023 auf der Grundlage einer seriösen und realistischen Kostenschätzung, | |
die die Kosten transparent darlegt.“ So müssten die Kostenschätzungen | |
unabhängig voneinander berechnet werden, da beide Entscheide unabhängig | |
voneinander zur Wahl stünden. | |
Auch die 15-prozentige Inflation sei korrekt kalkuliert. „Fakt ist, dass | |
die Baupreise durch den Ukrainekrieg, Lieferengpässe und den | |
Fachkräftemangel in den letzten zwei Jahren überproportional – und auch | |
über die Verbraucherpreissteigerung hinaus – gestiegen sind und auch weiter | |
steigen werden.“ | |
Demgegenüber ließen sich Fördermittel nicht im Voraus kalkulieren: | |
„Angesichts der Haushaltslage der Bundesregierung ist es unsicher, auf | |
üppige Fördermittel zu setzen.“ Im Übrigen nehme die Stadt schon jetzt die | |
Verkehrswende ernst und betreibe eine entsprechende Verkehrspolitik. | |
## Initiative spricht von „Fake News“ | |
Die Positionen der Oberbürgermeisterin bezeichnet Martin Hulpke-Wette | |
mittlerweile als „Fake News“. Die Initiative hatte die städtische | |
Kostenschätzung überprüft und war auf grobe Rechenfehler gestoßen, die aber | |
bislang nicht korrigiert worden seien. | |
In einem Fall gehe es um ein Radverkehrsvorhaben, bei dem die Stadt die | |
Inflation doppelt berechnet habe und damit um mehrere Millionen Euro zu | |
viel kalkuliert habe. „Wir hingegen haben das solide durchgerechnet: Es | |
geht bei Weitem nicht um 100 Millionen Euro, sondern um etwa 25 Millionen | |
Euro – und das verteilt auf sechs Jahre“, sagt Hulpke-Wette. | |
Damit sie die Stadt zur Umsetzung verpflichten, müssen die Mehrheit und | |
mindestens 20 Prozent der wahlberechtigten Göttinger:innen am 9. Juni | |
für die beiden Entscheide stimmen. | |
23 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Buergerbegehren-In-Goettingen/!5987335 | |
[2] /Umsetzung-des-Radentscheids/!5898937 | |
[3] https://www.goettingen.de/portal/meldungen/gegendarstellung-zur-presseinfor… | |
## AUTOREN | |
André Zuschlag | |
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