# taz.de -- Reichsbürger in Deutschland: Bewaffnet und unberechenbar | |
> Die Schüsse eines Reichsbürgers zeigen: Die Szene besitzt Waffen – obwohl | |
> es längst anders sein sollte. Ein Verfassungsschützer sieht Probleme. | |
Bild: Fordert eine Verschärfung des Waffenrechts: Baden-Würtembergs Innenmini… | |
BERLIN taz | Im Schützenverein von Markus L. gibt man sich zugeknöpft. „Wir | |
möchten dazu momentan gar nichts sagen“, erklärt die Vorständin am Telefon | |
und verabschiedet sich höflich. Das langjährige Vereinsmitglied steht | |
gerade bundesweit im Fokus – seit es am Mittwoch während einer Razzia gegen | |
Reichsbürger:innen [1][in Reutlingen auf SEK-Kräfte schoss] und einen | |
Beamten am Arm traf. | |
Im Schützenverein wurde der frühere EDV-Verkäufer als „Oberschießleiter | |
Pistole“ oder Sieger im „Jägerschießen“ geführt. Äußern aber will si… | |
niemand. Und auch von der Stadt Reutlingen und ihrer Waffenbehörde erfährt | |
man nur, dass der 46-Jährige nicht als Reichsbürger bekannt gewesen sei. | |
Alles Weitere müsse die Bundesanwaltschaft mitteilen. | |
Die Razzia am Mittwoch hatte die Bundesanwaltschaft veranlasst, im Zuge | |
einer zweiten Durchsuchungswelle nach den großen Razzien [2][gegen | |
terrorverdächtige Reichsbürger] im Dezember. Markus L. war dabei gar kein | |
Beschuldigter, sondern nur Zeuge. Klar war aber: Er besaß als Sportschütze | |
legal etliche Schusswaffen – 22 Stück. Deshalb rückte auch das SEK mit an. | |
Nach dem Schusswechsel im Wohnzimmer lautet der Vorwurf versuchter Mord, | |
Markus L. sitzt in Haft. Wie kann es sein, dass ein Reichsbürger aus dem | |
Umfeld einer mutmaßlichen Terrorzelle [3][weiter derart bewaffnet ist]? | |
Die Sicherheitsbehörden hatten Markus L. lange nicht auf dem Schirm. Erst | |
nachdem sie im Dezember 25 Reichsbürger:innen unter Terrorverdacht | |
festnahmen, stießen sie auf den Reutlinger. L. war in einschlägigen | |
Chatgruppen aktiv, auch am Coronaprotest soll er sich beteiligt haben. 2017 | |
spendete er 10 Euro an die AfD, wie die Partei bestätigt. Später soll er | |
Kontakt zu der terrorverdächtigen Verschwörergruppe gehabt haben. Von der | |
Durchsuchung, die am Freitag andauerte, erhoffen sich die | |
Ermittler:innen darüber weitere Erkenntnisse. | |
## Auch ein aktiver Soldat unter den Durchsuchten | |
Die Schüsse von Reutlingen widerlegen diejenigen, [4][welche die | |
terrorverdächtigen Reichsbürger:innen] als verspinnerte „Rentnerkombo“ | |
abtaten. Sie wecken Erinnerungen an Georgensmünd, wo [5][2016 ein | |
Reichsbürger einen Polizisten erschoss,] als die Beamten seine Waffen | |
einziehen wollten. Auch im vergangenen Jahr feuerte ein Reichsbürger in | |
Boxberg in Baden-Württemberg auf Beamte, als diese ihn kontrollieren | |
wollten, und verletzte zwei. Erst an diesem Freitag wurde ein Reichsbürger | |
wegen versuchten Mordes vom Oberlandesgericht Stuttgart zu zehn Jahren Haft | |
verurteilt. Der 62-Jährigen hatte vor gut einem Jahr im Kreis Lörrach einen | |
Polizisten bei einer Kontrolle mit seinem Auto angefahren und schwer | |
verletzt. | |
Schon im Dezember waren unter den Durchsuchten sechs aktive oder frühere | |
Polizist:innen und ein aktueller Soldat sowie mehrere frühere | |
Bundeswehrangehörige. Auch unter den nun Durchsuchten sind nach | |
taz-Informationen mindestens ein aktiver Soldat, ein Polizist und ein | |
pensionierter Polizeibeamter. Auch Markus L. soll zumindest für seinen | |
Grundwehrdienst bei der Bundeswehr gewesen sein. Was eine zweite Frage | |
aufwirft: Wie groß ist das Reichsbürgerproblem in den Sicherheitsbehörden? | |
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) warnte nach Reutlingen, wie | |
„brandgefährlich“ die Reichsbürger:innen seien. 23.000 Personen rechnet | |
der Verfassungsschutz der Szene bundesweit zu – zuletzt mit einem Anstieg | |
um 2.000 Personen, auch weil die Coronaproteste ihr Auftrieb gab. 2.300 von | |
ihnen gelten als gewaltorientiert. | |
Nach Georgensmünd hatte der Verfassungsschutz die Szene erstmals | |
systematisch unter Beobachtung gestellt, Innenminister kündigten an, sie zu | |
entwaffnen. Helfen sollte dabei auch eine Verschärfung des Waffenrechts: | |
Fortan sollten Waffenbehörden Regelabfragen beim Verfassungsschutz machen, | |
um Extremist:innen unter den Waffenbesitzenden aufzuspüren. | |
Seitdem wurden laut dem Bundesinnenministerium bei rund 1.100 | |
Reichsbürger:innen waffenrechtliche Erlaubnisse entzogen. Dennoch sind | |
den Behörden bis heute etwa 400 bekannt, die legal Waffen besitzen. | |
In Baden-Württemberg, das mit 3.800 Reichsbürger:innen zu den | |
Hochburgen zählt und einen strengen Kurs gegen die Szene vorgibt, besaßen | |
zuletzt noch 11 entsprechende Personen Waffenerlaubnisse – 216 wurden in | |
den vergangenen Jahren entzogen. Aber auch bei der Razzia im Dezember | |
fanden die Ermittler 97 Schusswaffen und 25.462 Schuss Munition – auch hier | |
war es bei 9 Beschuldigten legaler Besitz. | |
Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer räumt Probleme ein. „Die | |
Entwaffnung der Reichsbürgerszene ist und bleibt erklärtes Ziel“, sagte er | |
der taz. „Wir unterstützen die Waffenbehörden dafür mit unseren | |
Erkenntnissen, soweit es irgend möglich ist.“ Anders als oft behauptet, | |
gebe es auch keine rechtlichen Hürden beim Austausch zwischen den Behörden. | |
Das Problem sei lange Zeit eher ein technisches gewesen, so Kramer: Dem | |
Bund sei es nicht gelungen, die Daten des Nationalen Waffenregisters mit | |
denen der Verfassungsschutzämter zu verknüpfen. Bis heute würden allerdings | |
auch „viel zu viele“ die Reichsbürger:innen als bloße Spinner:innen | |
abtun, klagt Kramer. Und wo nicht, scheitere man wiederholt vor Gericht, | |
weil verfassungswidrige Aktivitäten laut Gesetz nur „in der Regel“ zu | |
Waffenentzügen führten – nicht automatisch. „Diese rechtlichen Spielräume | |
schaffen uns immer wieder große Probleme“, so Kramer. | |
## Faeser fordert verschärftes Waffenrecht | |
Faeser fordert eine Verschärfung des Waffenrechts, wie schon nach den | |
Razzien im Dezember. Auch Baden-Württembergs CDU-Innenminister Thomas | |
Strobl fordert „schleunigst“ eine Verschärfung und verweist auf einen | |
entsprechenden Beschluss der Innenministerkonferenz. Das Waffenarsenal von | |
Markus L. nennt er „pervers“. Doch die FDP und Justizminister Marco | |
Buschmann (FDP) halten dagegen, sehen nur ein Vollzugsproblem. | |
Der Druck wächst, die Aktivitäten von Sicherheitsbediensteten in der | |
Reichsbürgerszene nochmals auszuleuchten. Die Reichsbürgergruppe hatte | |
eigens einen militärischen Arm gegründet, wollte bundesweit | |
„Heimatschutzkompanien“ aufbauen – maßgeblich organisiert von früheren | |
Bundeswehr- und Polizeiangehörigen. Zuletzt hatte der Verfassungsschutz in | |
einem Lagebild 327 Verfassungsfeinde in den Sicherheitsbehörden | |
festgestellt, 48 von ihnen Reichsbürger:innen. | |
Zu den am Mittwoch Durchsuchten gehört auch Ralph Niemeyer, der frühere | |
Ehemann von Sahra Wagenknecht. Zuletzt kandidierte der Münchner für die | |
Querdenker-Partei „Die Basis“, gab sich als Russlandfreund – und trat als | |
Vertreter einer deutschen „Exilregierung“ auf. Die Bundesanwaltschaft | |
bestätigt, dass er als Zeuge durchsucht wurde. Nach taz-Informationen soll | |
die Reichsbürgertruppe Niemeyer angefragt haben, als Bote nach Russland zu | |
agieren. Der 53-Jährige erklärte auf seinem Telegramkanal, er habe sich | |
„nichts vorzuwerfen“, und sehe die Sache „sehr gelassen“. | |
Reutlingens Oberbürgermeister Thomas Keck, ein SPD-Mann, lobte das Vorgehen | |
der Behörden gegen die Reichsbürgerszene. Das sei „absolut gerechtfertigt�… | |
das Gewaltpotenzial müsse man ernst nehmen. „Wer weiß, was hier noch | |
schlummert.“ | |
24 Mar 2023 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
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