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# taz.de -- Widerstand gegen Krankenhausreform: Verteilungskampf bei Geburtshil…
> Ein Chefarzt in Niedersachsen wehrt sich gegen die geplante
> Krankenhausreform. Er fürchtet, dass dann noch weniger Menschen Geburten
> begleiten wollen.
Bild: Auch mit der geplanten Reform dürfte sich die Geburtshilfe in Deutschlan…
Varel taz | Immer wieder fällt der Begriff „24/7“ im Telefonat mit
Christoph Reiche, Chefarzt der Frauenklinik in Varel, einem 24.000-
Einwohner:innen-Ort, 70 Kilometer nordwestlich von Bremen gelegen. „Wer ist
denn noch bereit, 24/7 Geburtshilfe zu betreiben?“, fragt er. Also tags,
nachts, das ganze Jahr. Nicht mehr viele, das ist bekannt. [1][Im ganzen
Land suchen Kliniken händeringend Hebammen] und ärztliche
Geburtshelfer:innen. In der Geburtshilfe pressiert der Fachkräftemangel
besonders, weil eine Geburt nicht planbar ist, sich nicht wie eine
Operation verschieben lässt.
Deshalb können Personalengpässe gesundheitsgefährdend sein. [2][Etwa weil
ein Kaiserschnitt gemacht wird], weil niemand da ist, der eine
kompliziertere vaginale Geburt begleiten kann. Oder weil sich die Gebärende
in der Hektik nicht mehr als selbstbestimmt und Eingriffe als gewalttätig
erlebt, was zu psychischen Belastungsstörungen führen kann.
Im schlimmsten Fall sterben Kinder oder Mütter, weil eine Notsituation
nicht rechtzeitig erkannt wurde, oder sie überleben die Geburt knapp,
leiden aber lebenslang an Behinderungen.
Lösen soll das Problem jetzt die Krankenhausreform, über deren Umsetzung
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach am Donnerstag erneut in einer
Bund-Länder-Arbeitsgruppe berät. Diese hat unter anderem das Ziel,
Ressourcen und Fachkräfte besser zu verteilen, eine Überversorgung
abzubauen. Und dies systematisch, was für die Geburtshilfe etwas Neues
wäre.
Denn diese gehört neben den Pädiatrien zu den Abteilungen, die Kliniken in
den vergangenen Jahren reihenweise abgestoßen haben. Weil man erst ab etwa
1.000 Geburten damit Geld verdienen kann oder weil Personal fehlte – oder
beides. Denn wer will schon auf einer aus Kostengründen dauerhaft
unterbesetzten Station arbeiten. So gab es laut Statistischem Bundesamt
1991 noch 1.186 Kliniken mit Geburtshilfe, im Jahr 2021 waren es 611 – die
Geburtenzahlen sind bis dahin gestiegen.
## Keine Rücksicht aufs Personal
Diese Schließungen geschahen in der Vergangenheit [3][oft von einem Tag auf
den nächsten]. Die Schwangeren mussten sich andere Kliniken suchen,
meistens weiter von ihrem Wohnort entfernt, die Kliniken mehr Gebärende
betreuen – ohne mehr Personal zu haben, weil das nicht einfach den
Schwangeren hinterherläuft, wie der Deutsche Hebammenverband [4][in einer
Stellungnahme zur Reform] schreibt. Und: „Die ohnehin bestehende
Überlastung führt zu einem schlechten Betreuungsschlüssel und dies zu einer
hohen Abwanderung der Hebammen aus dem Beruf.“
Genau das, befürchtet der Vareler Chefarzt Christoph Reiche, werde jetzt
wieder geschehen, wenn die Pläne der Regierungskommission, die derzeit
Vorschläge zur Krankenhausreform erarbeitet, umgesetzt würden. Denn danach
dürften nur noch Krankenhäuser eine Geburtshilfe anbieten, die im neuen
dreistufigen System mindestens der Stufe 2 zugeordnet würden. Diese
beinhaltet unter anderem, dass Notfall- und OP-Teams im Haus sind.
227 Geburtskliniken würden dann noch übrig bleiben, hat ein Gutachten im
Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft ergeben. Das Personal wird
dabei gedacht, als ließe es sich wie Krankenhausbetten verschieben.
## Ende der kleinen Geburtskliniken
Das bedeutet auch: Es würde in Zukunft nur noch große und sehr große
Geburtskliniken geben. Die durchschnittliche Geburtenzahl hätte nach dieser
Rechnung im Jahr 2021 bei 3.500 pro Krankenhaus gelegen. Nach einem
[5][Gutachten im Auftrag des Gesundheitsministeriums] gab es 2018 nur 40
Kliniken mit mehr als 2.500 Geburten. Den größten Anteil hatten Kliniken
mit 500 bis 1.000 Geburten.
In Varel waren es im vergangenen Jahr 809. „Ich würde nicht an ein größeres
Haus wechseln“, sagt Chefarzt Reiche, seine Hebammen und Ärzt:innen
mehrheitlich auch nicht. Sie arbeiteten gerne in einem überschaubaren Team,
seine Abteilung hat einen guten Ruf unter Eltern und Geburtshelfer:innen.
Probleme, Personal zu finden, habe er nicht, sagt Reiche.
Er ist nicht der Einzige, der Alarm schlägt angesichts der Pläne und ihrer
Konsequenzen für die geburtshilfliche Versorgung. Landauf, landab warnen
Kommunalpolitiker:innen und Krankenhausbetreiber vor
unterversorgten Landstrichen. Dies hat auch die Kommission vernommen.
Eines ihrer Mitglieder, der Lungenfacharzt Christian Karagiannidis, hatte
dem Ärzteblatt vor zwei Wochen gesagt, er könne sich vorstellen, dass die
Geburtshilfe doch auch von Krankenhäusern der Basisversorgung in der
niedrigsten Stufe I angeboten werden darf, wie es der Hebammenverband
fordert.
## Kampf um Ressourcen und Personal
„Das Ziel muss bleiben, das vorhandene Personal auf weniger Standorte zu
verteilen“, bestätigte Karagiannidis jetzt der taz, „aber das darf nicht
dazu führen, dass es in strukturschwachen Regionen gar keine Kreißsäle mehr
gibt.“ Allerdings hat er darüber nicht alleine zu entscheiden, und in der
Kommission sitzt zwar ein Kinderarzt – aber keine Geburtshelferin. „Aus
Sicht der Kinderärzte gehört zur Geburtshilfe eine Kinderklinik.“
Das Sankt Johannis Hospital in Varel hat eine solche nicht – wie fast alle
Kliniken, die nach den derzeitigen Plänen ihre Geburtshilfe schließen
müssten –, auch wenn manche diese trotz mangelnder Wirtschaftlichkeit aus
Imagegründen und im Sinne der Kundenbindung bisher behalten hatten.
Der Chefarzt Reiche hat zudem Sorge, dass seine eigene Fachgesellschaft,
die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, sich im
Verteilungskampf um Ressourcen und Personal für die Pläne einsetzen wird.
Denn deren Vorstandsmitglieder – in der Regel an großen Kliniken angestellt
– haben in der Vergangenheit immer wieder die Qualität kleiner
Geburtshilfestationen infrage gestellt. Ein Schlag ins Gesicht für
engagierte Ärzt:innen wie Reiche.
„Nein“, sagt dazu Markus Schmidt von der Arbeitsgemeinschaft Geburtshilfe
in der Fachgesellschaft, „wir wollen nicht, dass es nur noch
Perinatalzentren der Level I und II gibt.“ Das sind Kliniken, die unter
anderem extreme Frühgeburten betreuen. Daneben gibt es noch das Level III,
die perinatalen Schwerpunkte – mit Kinderärzt:innen, aber ohne
Intensivstation – sowie das Level IV, Kliniken für Geburten ohne vorher
erkennbare Risiken wie in Varel.
## Große Kliniken weisen teils Schwangere ab
Zudem, so Schmidt, ließe sich pauschal nicht sagen, dass kleinere Kliniken
schlechter arbeiteten als große, es könne auch anders herum sein. Die
Zentralisierung hält er aber aufgrund des Personalmangels für richtig –
aber nur, wenn die Regionen selbst planen können. „Wenn hier bei uns im
Ruhrgebiet Kreißsäle schließen, ist das etwas anderes als in sehr
ländlichen Gegenden.“
[6][Maximal 40 Minuten soll die Fahrt zur Geburtsklinik betragen], so sieht
es eine Vereinbarung zwischen der Deutschen Krankenhausgesellschaft und den
Versicherungen vor. Weil sich in Einzelfällen Geburten unvorhersehbar zu
Notfällen entwickeln können, brauche es aber Ärzt:innen im
Bereitschaftsdienst in der Klinik, die innerhalb von 20 Minuten ein Kind
per Kaiserschnitt holen könnten, sagt Schmidt. Und zudem Kooperationen mit
Perinatalzentren, um Neugeborene schnell verlegen zu können.
In diesem Punkt wäre Schmidt sich mit Christoph Reiche aus Varel einig.
Denn auch der will Risiken minimieren und nimmt nur Schwangere an, die nach
den medizinischen Leitlinien in einer Level-IV-Klinik gebären dürfen. Also
ohne Vorerkrankung und erst ab Beginn der 37. Woche.
So verfahren nicht alle Kliniken. Zum einen, weil das zu Konflikten mit
Kommunalpolitiker:innen und Betroffenen führt, wie Reiche es
erlebt. Zum anderen, weil Erlöse wegfallen. Nicht selten hingegen nehmen
kleinere Kliniken aber Risikogeburten an, weil sich die größeren Kliniken
wegen Personalmangel weigern – obwohl sie für diese Fälle den
Versorgungsauftrag haben. Darauf hat auch der Deutsche Hebammenverband in
seiner Stellungnahme hingewiesen.
Auch Reiche und seine Kolleg:innen telefonieren regelmäßig in einem
Umkreis von 100 Kilometern herum, um einen Platz für eine Frau in den Wehen
zu finden oder für ein Kind, das neonatologisch versorgt werden muss.
Manchmal erfolglos. Bis zu einem Netzwerk aller Kliniken, wie es auch
Markus Schmidt von der Fachgesellschaft vorschwebt, ist es noch ein weiter
Weg.
Reiche trifft sich am Donnerstag erst einmal mit Vertreter:innen der
anderen drei im Nordwesten übrig gebliebenen Geburtskliniken ohne
Kinderstation und im April mit allen weiteren aus Niedersachsen. „Es geht
darum, die Menschen mitzunehmen, die Lust auf Geburten haben, und sie nicht
auch noch zu verlieren.“
23 Feb 2023
## LINKS
[1] /Professorin-ueber-Geburtsbegleitung/!5852864
[2] /Aus-eigener-Kraft-gebaeren/!5276734
[3] /Zentralisierung-von-Geburtsstationen/!5831073
[4] https://www.hebammenverband.de/fileadmin/download/PDF/2023_01_19_DHV-Positi…
[5] https://www.iges.com/sites/iges.de/myzms/content/e6/e1621/e10211/e24893/e24…
[6] /Lange-Wege-zur-Geburt/!5065176
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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