| # taz.de -- Lange Wege zur Geburt: Hinterm Heuwagen | |
| > Viele Kliniken in Niedersachen und Schleswig-Holstein haben in den | |
| > vergangenen Jahren die Geburtshilfe abgeschafft: zu unrentabel, zu wenig | |
| > Ärzte und zu wenig Kinder. | |
| Bild: Tür zu: Mit der Geburtshilfe-Station in Bassum schloss 2011d ie letzte i… | |
| BREMEN/HAMBURG taz | In Groß Hutbergen hängt das Auto von Lena und | |
| Christoph Rahlfs hinter einem Heutransporter fest. „Erinnere mich daran, | |
| dass wir niemals ein Kind zur Heuzeit bekommen“, sagt Lena Rahlfs zu ihrem | |
| Mann. Noch lachen sie darüber, denn heute fahren sie die rund 30 Kilometer | |
| von ihrem Haus bei Bruchhausen-Vilsen bis zur Klinik in Verden nur zur | |
| Probe. Sie wollen wissen, wie lang die Fahrt dauert und sich den Kreißsaal | |
| anschauen. Lena Rahlfs ist im neunten Monat schwanger. | |
| 35 Minuten Autofahrt können sich lang anfühlen, wenn Wehenschmerzen und die | |
| Angst mitfahren, der Kopf könne heraus kommen, bevor der Heuwagen überholt | |
| ist. So ähnlich ging es Lena Rahlfs bei ihrem ersten Kind. Sie fuhr in die | |
| Klinik, weil sie nicht wusste, ob die Fruchtblase geplatzt war. Zwei Wochen | |
| vor dem errechneten Geburtstermin. „Kommen Sie ruhig her, wir gucken mal, | |
| sonst fahren Sie wieder zurück“, hatte ihr die Hebamme am Telefon gesagt. | |
| Das war damals kein Problem, denn im Februar 2011 gab es in der Klinik im | |
| benachbarten Bassum noch einen Kreißsaal. Nur halb so weit entfernt wie die | |
| Klinik in Verden. Auf der kurzen Fahrt setzten plötzlich die Wehen ein, | |
| kamen jede Minute. Len Elias hatte es eilig und zwei Stunden, nachdem Lena | |
| Rahlfs die Klinik betreten hatte, war ihr Sohn da. | |
| ## 2011 schloss der letzte Kreißsaal im Landkreis | |
| Als die 29-jährige Förderschullehrerin erneut schwanger wurde, suchte sie | |
| wieder ein möglichst nahe gelegenes Krankenhaus mit einer | |
| Geburtshilfeabteilung. Doch davon gibt es in ihrer Region nicht mehr viele. | |
| Im niedersächsischen Landkreis Diepholz schloss im Dezember 2011 in der | |
| Klinik Bassum der letzte Kreißsaal. Egal, in welche Himmelsrichtung Lena | |
| Rahlfs nun fährt – unter 30 Kilometern ist nichts zu machen. | |
| In Niedersachsen wurden in den vergangenen zehn Jahren knapp 30 Prozent | |
| aller Geburtshilfestationen geschlossen. „Dahinter steckt in erster Linie | |
| das massive Absinken der Geburtenzahlen“, sagt Gisbert Voigt, Vizepräsident | |
| der niedersächsischen Ärztekammer. | |
| 2011 kamen in Niedersachsen so wenig Kinder auf die Welt wie seit Ende des | |
| Zweiten Weltkrieges nicht mehr. Wurden 1946 noch 103.916 Babys registriert, | |
| waren es 2011 noch 61.280. „Um eine Geburtshilfeabteilung | |
| betriebswirtschaftlich sinnvoll zu betreiben, brauchen Sie aber mindestens | |
| 500 Geburten im Jahr“, sagt Voigt. Vernünftiger seien 800. Da könne man | |
| sich ausrechnen, wie viele Abteilungen überleben könnten. | |
| ## Die Frauen von den Inseln versprachen, mehr Kinder zu bekommen | |
| Ein Beispiel: Vor zehn Jahren sollte die Geburtshilfe in der Klinik auf | |
| Norderney schließen, sie rechnete sich nicht. Aber es gab Proteste. Es gebe | |
| sehr wohl großen Bedarf, hieß es damals und „die Frauen aus Norderney und | |
| den benachbarten Inseln Juist und Baltrum versprachen, mehr Kinder zu | |
| bekommen“, sagt Helmut Fricke von der Niedersächsischen | |
| Krankenhausgesellschaft, unter deren Dach sich alle rund 200 Krankenhäuser | |
| in Niedersachsen mit etwa 43.000 Betten zusammengeschlossen haben. | |
| Also wurde die Geburtshilfe nicht geschlossen und die Klinik kalkulierte | |
| mit 100 Geburten pro Jahr. „Tatsächlich kamen hier dann nur 30 Kinder im | |
| Jahr auf die Welt und im vergangenen Jahr war dann endgültig Schluss“, sagt | |
| Fricke. Nun müssen die Frauen in die nächste Klinik aufs Festland fahren. | |
| „Keine Frau sagt, ich kriege jetzt kein Kind, weil ich dafür zu weit fahren | |
| müsste“, sagt Lena Rahlfs. Dass sie sich für den Kreißsaal engagierte, in | |
| dem sie ihr erstes Kind geboren hatte, lag an etwas anderem: Sie ahnte, | |
| dass mit dem Kreißsaal auch die freiberuflichen Hebammen verschwinden | |
| würden. | |
| „Ohne die Hebammen wäre ich aufgeschmissen gewesen“, sagt Lena Rahlfs. Als | |
| Erstgebärende sei sie verunsichert gewesen wie die meisten. „Da denkt man | |
| doch immer, es liegt an mir, wenn etwas nicht klappt, ich kriege es nicht | |
| hin.“ Die Versuche, ihren Sohn zu stillen, hätte sie alleine aufgegeben, da | |
| ist sie sicher. Und „wenn mir jemand gesagt hätte, wir machen einfach mal | |
| einen Kaiserschnitt, hätte ich nichts gesagt“. | |
| Also begann sie, sich für den Erhalt des Kreißsaales in Bassum einzusetzen, | |
| hielt Mahnwachen ab, sprach mit Politikern, sammelte Unterschriften. Ohne | |
| Erfolg – der Kreißsaal schloss. Geburten gab es mit rund 600 im Jahr zwar | |
| genug, aber laut Klinik fanden sich nicht genug Fachärzte. Es kam, wie | |
| Rahlfs befürchtet hatte: Acht Hebammen gaben in Bassum ihren Beruf auf, | |
| zwei betreuen jetzt im Nebenjob Mütter und ihre Babys. | |
| Wenn Lena Rahlfs heute mit anderen Schwangeren aus ihrem Landkreis spricht, | |
| muss sie ihnen viel Glück bei der Suche nach einer Hebamme wünschen. Ein | |
| paar Telefonnummern kursieren, es gibt einen Flyer und die Hoffnung, dass | |
| die geplanten Familienzentren in Sulingen und Bassum genug Hebammen | |
| beschäftigen werden. | |
| ## Kassen raten, "unrentable" Abteilungen zu schließen | |
| „Wir hören von Seiten der Kostenträger, also von den Kassen, immer wieder, | |
| dass unrentable Abteilungen vermieden werden sollen“, sagt Voigt von der | |
| niedersächsischen Ärztekammer. Er verstehe, dass das den Frauen in Kreisen | |
| wie Diepholz schwer zu vermitteln sei. „Doch wenn Sie eine gute Versorgung | |
| wollen, brauchen Sie eine gute Ausstattung und der Preis dafür ist, dass | |
| kleine Abteilungen schließen damit die großen überleben können“, sagt | |
| Voigt. | |
| Sogenannte Belegabteilungen, in denen niedergelassene Gynäkologen neben | |
| ihrer Praxis noch Kinder zur Welt bringen, hält Voigt nur in Einzelfällen | |
| für eine gute Lösung. „Die Haftpflichtprämien für die Belegärzte gehen in | |
| die Zehntausende Euro und das führt dazu, dass ein Arzt 200 Kinder auf die | |
| Welt bringen muss, nur um die Prämie zu zahlen“, sagt Voigt. Die | |
| Landesärztekammern seien im Gespräch mit den Versicherern, ob man diese | |
| Prämien anders gestalten könne, aber da sei noch keine Einigung in Sicht. | |
| In Schleswig-Holstein sieht es ganz ähnlich aus. Seit 2000 wurden die | |
| geburtshilflichen Abteilungen in den Kliniken Wedel, Elmshorn, | |
| Kaltenkirchen, Brunsbüttel, Bad Oldesloe und der Förde Klinik in Flensburg | |
| geschlossen. Für die Hebammen vor Ort breche damit ein ganzer | |
| Arbeitsbereich weg, sagt Margret Salzmann vom Hebammenverband | |
| Schleswig-Holstein. | |
| „Die Hebammen konnten in den Kliniken ihre Geburten betreuen, sich | |
| gegenseitig vertreten und dort natürlich auch neue Frauen kennenlernen“, | |
| sagt Salzmann. Dieses Netzwerk fehle ohne Geburtshilfestation. Auch die | |
| Hebammen, die außerklinische Geburten etwa in Geburtshäusern oder | |
| Hausgeburten anbieten, seien von den Schließungen betroffen, denn sie | |
| brauchen die Sicherheit, im Notfall eine Klinik um die Ecke zu wissen. | |
| ## 50 Kilometer bis zur nächsten Geburtsklinik | |
| „30 Kilometer zur nächsten Klinik sind schon zumutbar“, sagt Salzmann. Aber | |
| in Schleswig-Holstein gebe es Orte etwa im südlichen Nordfriesland, dem | |
| südlichen Dithmarschen oder in Ostholstein, in denen die nächste Klinik mit | |
| Geburtshilfe 50 Kilometer entfernt sei. | |
| „In diesem ländlichen Bereich haben wir massive Schwierigkeiten, | |
| ausreichend Hebammen zu finden“, sagt Salzmann. Denn trotz der hohen | |
| Haftpflichtprämie von rund 4.000 Euro im Jahr, die die Hebammen abschließen | |
| müssen, die Geburtshilfe leisten, seien Geburten noch immer ein | |
| lukrativeres Geschäft als Vor- und Nachsorge. „Abgesehen davon ist die | |
| Geburt für viele Kolleginnen ein unverzichtbarer Teil ihres Berufs“, sagt | |
| Salzmann. | |
| In Lena Rahlfs Klinik der Wahl in Verden haben sie sich gegen die | |
| Schließung entschieden und Anfang 2011 aus der Belegabteilung eine | |
| Hauptabteilung gemacht – mit vier Kreißsälen, einem Chefarzt, einer | |
| Oberärztin und zwei Assistenzärzten. Und seitdem steigen hier die | |
| Geburtenzahlen. Waren es 2010 noch rund 300 Geburten im Jahr, waren es 2012 | |
| schon 460 – und für dieses Jahr rechnet Chefarzt Hans-Jürgen Richter mit | |
| mindestens 500 Geburten. | |
| ## Eine Geburtsstation, die wächst | |
| Auf lange Sicht hält er 700 für durchaus machbar. „Die Frauen nehmen unsere | |
| Abteilung sehr gut an“, sagt Richter. Denn jetzt seien rund um die Uhr ein | |
| Arzt und eine Hebamme da und es wechsle nicht mehr laufend das Personal wie | |
| in einer Belegabteilung. „Es schafft doch eher Vertrauen, wenn Sie einen | |
| leitenden Arzt als Ansprechpartner haben“, sagt Richter. | |
| In anderen ländlichen Gebieten Niedersachsens und Schleswig-Holsteins | |
| dagegen müssen sich werdende Eltern an lange Wege gewöhnen. „Im Moment ist | |
| es noch so, dass sie in Niedersachsen binnen 25 bis 30 Kilometern eine | |
| Klinik mit Geburtshilfe finden“, sagt Helmut Fricke von der | |
| Niedersächsischen Krankenhausgesellschaft. Aber kleine Abteilungen mit fünf | |
| Betten und 100 Geburten im Jahr seien einfach nicht zu halten – und davon | |
| gebe es noch einige. | |
| Die Niedersächsische Krankenhausgesellschaft will sich nun an eine | |
| Bestandsaufnahme machen, wie sie sie bereits Mitte der 1990er-Jahre und | |
| 2000 durchgeführt haben. „Wir wollen uns jeden Kreis ansehen und schauen, | |
| wie die Versorgung aussieht und was getan werden muss, um sie | |
| sicherzustellen“, sagt Fricke. Herauskommen wird, da ist er sich sicher, | |
| dass weitere Geburtshilfestationen geschlossen werden müssen. | |
| „Dabei heißt es doch immer, eine Geburt sei auch eine Kopfsache“, sagt Lena | |
| Rahlfs Mann Christoph. „Aber es ist doch ein gigantischer | |
| Entspannungshemmer, wenn man sich schon vorher die ganze Zeit fragt, wo man | |
| hingeht und ob man rechtzeitig ankommt.“ | |
| Mitarbeit: Merle Boppert | |
| 17 Jun 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Eiken Bruhn | |
| Ilka Kreutzträger | |
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