# taz.de -- Angststörung nach der Geburt: „Ich kann nicht ins Kinderzimmer“ | |
> Anhaltende Ängste nach der Geburt betreffen fast ein Fünftel der Mütter | |
> und ein Zehntel der Väter. Die Forschung entdeckt das Thema erst jetzt. | |
Bild: Die Nähe des zerbrechlichen Kindes ertragen | |
Jetzt nicht hyperventilieren“, sagt der Arzt noch zu Ines, bevor der | |
Notkaiserschnitt beginnt. „Ihr Kind hat jetzt schon zu wenig Sauerstoff.“ | |
Als die Narkose einsetzt, ist ihr letzter Gedanke, dass sie das hier nicht | |
gesund überstehen wird. Danach ist die Erleichterung groß, auch wenn sie | |
lange keinen Schlaf findet. | |
Die erste Zeit mit ihrem Sohn ist für die Doktorandin zwar aufwühlend, aber | |
auch sehr schön. Ines liebt es, ihm zuzuschauen und würde am liebsten jede | |
kleine Geste festhalten. Gleichzeitig ist da seine nervenaufreibende | |
Weigerung, auf dem Rücken zu schlafen. | |
Sobald Ines ihr Kind in Bauchlage legt, überschlagen sich ihr schlechtes | |
Gewissen und ihre Sorgen um den plötzlichen Kindstod. Sie kauft ihm eine | |
Schlafmatte mit Warnmelder, zweimal geht der falsche Alarm los. | |
Der Kipppunkt kommt in der sechsten Woche, kurz nachdem ihr Partner auf die | |
Arbeit zurückkehrt. Am ersten Wochenende kann sie keine Nacht schlafen. Am | |
Montag ruft sie ihn aufgelöst an: „Ich kann nicht ins Kinderzimmer. Ich hab | |
Angst, dass ich unserem Sohn etwas antue.“ Ines Eltern kommen vorbei, um | |
sie und ihr Kind ins Auto zu laden. Gemeinsam durchstehen sie, was Ines | |
heute eine „sehr, sehr dunkle Zeit“ nennt. | |
## Niemand hilft | |
Zehn Tage lang schläft sie nicht mehr als drei Stunden. Ihr Körper fühlt | |
sich an, als würde er abwechselnd brennen und unter Strom stehen. Mit den | |
Panikattacken muss sie sich immer wieder übergeben, kann kaum Nahrung bei | |
sich behalten. Trotzdem stillt sie weiter – auch weil sie gehört hat, dass | |
die hormonelle Umstellung beim Abstillen ein eigenes Stimmungstief mit sich | |
bringt. In zwei Wochen verliert die ohnehin dünne Frau zehn Kilo ihres | |
Gewichts. Ängste sind in dieser Zeit immer mit dabei: Das Kind beim Stillen | |
aus Versehen zu ersticken oder noch schlimmer, dass das Leben auf ewig so | |
weitergeht. | |
Für fast alle Eltern ist es erst einmal beängstigend, für ein kleines Leben | |
verantwortlich zu sein. Bei den meisten legen sich diese Ängste mit der | |
Zeit. Postpartale Angststörungen, also anhaltende, starke Angstzustände | |
nach der Geburt eines Kindes, [1][betreffen jedoch etwa 15 bis 20 Prozent | |
der Mütter und 10 Prozent der Väter]. Allein auf die Mütter bezogen, wären | |
das bundesweit um die 100.000 Familien pro Jahr. Aber Betroffene fühlen | |
sich mit ihren Erfahrungen oft allein gelassen. Das liegt auch daran, dass | |
Forschung und Medizin das Thema gerade erst für sich entdecken. | |
Auch Ines, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, findet | |
lange niemanden, der sich mit ihren Problemen auskennt. Dabei telefoniert | |
sie regelmäßig mit ihrer Gynäkologin und einmal auch mit dem hausärztlichen | |
Notdienst. Alle Therapieangebote, die sie findet, liegen Monate weit weg – | |
in ihrem Zustand unerträglich. Alternativ kommt für sie nur die Einweisung | |
in eine psychiatrische Klinik infrage. Das hieße aber eine lange Trennung | |
von Mann und Kind. | |
Die Forschung unterscheidet zwischen postpartalen Angstzuständen, | |
postpartalen Depressionen und der seltener auftretenden Psychose. | |
Postpartale Ängste äußern sich etwa in extremer Sorge, Reizbarkeit, | |
Panikattacken verbunden mit Atemnot und Herzrasen oder zwanghaften | |
Gedanken – nicht selten in Bezug darauf, dem Baby zu schaden. Gerade | |
Letzteres ist bei dieser Diagnose aber äußerst unwahrscheinlich. Zu den | |
Risikofaktoren gehören etwa: Kontrollverlust während der Geburt, fehlende | |
Unterstützung danach, Beziehungsprobleme oder einen junge Mutter zu sein. | |
Auch wenn postpartale Depressionen und Angststörungen häufig gemeinsam | |
auftreten, müssen Ängste als eigenes Krankheitsbild behandelt werden, denn | |
sie [2][beeinflussen Strategien, Suizidrisiko und Langzeitprognosen]. | |
Dennoch geraten sie in [3][Prävention und Diagnostik in den Hintergrund] – | |
und parallel auftretende Krisen werden dadurch unterschätzt. Ines bemerkt: | |
„Auf alles wird man als Schwangere getestet“, aber niemand fragte nach | |
Ängsten in ihrer Vergangenheit. | |
## Ist das Hormonchaos schuld? | |
Auf biologischer Ebene sucht man die Ursache gern im Hormonchaos um die | |
Geburt. Für die Betroffenen ist diese allgemeine Erklärung wenig hilfreich. | |
Immerhin machen diese Umstellung fast alle Gebärenden durch. | |
Allgemein gilt: Die Sexualhormone Östrogen und Progesteron steigen während | |
der Schwangerschaft zunächst stark an und fallen dann schnell wieder ab. | |
Diese Veränderung kann, muss aber nicht zu Ängsten führen. Hinzu kommt, | |
dass Stillen und Elternschaft Angstzustände lindern können. Trotz des | |
Widerspruchs ist die Zeit nach der Geburt erwiesenermaßen eine der | |
risikoreichsten für die Entwicklung von Angststörungen. Wie passt das | |
zusammen? | |
Eine Erklärung ist, dass ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung auf die | |
hormonelle Umstellung negativ reagiert. Ähnliches geschieht beim | |
Monatszyklus, bei dem die abfallenden Sexualhormone vor der Regelblutung | |
zwar kein grundsätzliches Stimmungstief auslösen, aber bei bis zu einem | |
Drittel der Betroffenen das Prämenstruelle Syndrom (PMS). | |
Der Mechanismus dahinter könnte in den komplexen Dominoketten stecken, über | |
die Hormone wirken. Ein winziger Unterschied in den Nervenzellen kann dafür | |
sorgen, dass ein Botenstoff, der mehrheitlich angstlösend und beruhigend | |
wirkt, plötzlich aufreibt. So gibt Progesteron häufig den Anstoß für | |
Beruhigung. Dafür muss es aber erst in eine alternative Form umgewandelt | |
werden und dann mit diversen Akteuren zusammenarbeiten, die die | |
Sensibilität der Nervenzellen über ihre elektrische Ladung abschwächen – | |
wie der Botenstoff Gaba (Gamma-Aminobuttersäure) und der Zelltransporter | |
KCC2 (Kalium-Chlorid-Cotransporter 2). [4][Tatsächlich steht diese | |
Wirkkette schon länger unter Verdacht, wenn es um PMS geht], und in der | |
Schwangerschaft scheint sie sich ebenfalls umzustellen. | |
Eine andere Erklärung sind hormonelle Wechselwirkungen. Östrogen zum | |
Beispiel interagiert bei seiner Umstellung stark mit anderen Hormonen wie | |
Oxytocin und Cortisol – und auch diese [5][wirken je nach Genen und | |
Erfahrung sehr unterschiedlich]. So gelten individuelle Unterschiede im | |
Oxytocinsystem zum Beispiel als Mitgrund dafür, dass sich Stillen für | |
manche Eltern angenehm beruhigend anfühlt, für andere aber aggressiv bis | |
ängstlich. | |
Andere Studien betrachten die Geburt neuer Zellen. Diese sogenannte | |
Neurogenese geht üblicherweise mit besserer Stressregulierung einher – | |
und wird von einigen Antidepressiva gefördert. Angesichts der massiven | |
Umstrukturierung im elterlichen Gehirn scheint sie auch hier ein | |
vielversprechender Angriffspunkt. Die wenigen Tierstudien dazu zeigen | |
allerdings, dass in der Elternschaft zwar weniger neue Zellen entstehen, | |
aber dadurch nicht gleich mehr Stress. Möglicherweise lässt deshalb die | |
Wirkung von Antidepressiva in der Umstellung zur Elternschaft nach. | |
## Warnzeichen erkennen | |
Am Ende ist es die Zeit, die Ines Besserung verschafft. Lange fällt es ihr | |
schwer, offen über ihre Erfahrungen zu sprechen. So geht es vielen Müttern, | |
die sich im Verein Schatten und Licht zusammengeschlossen haben. Der Verein | |
stellt Infomaterial, vermittelt an regionale Selbsthilfegruppen und führt | |
Telefonlisten von Betroffenen, die im Notfall erreichbar sind. | |
„Wenn Leute neu in die Selbsthilfegruppe kommen, sind sie furchtbar | |
angespannt“, sagt Tanja Perlejewski, Kinderkrankenschwester und Aktive bei | |
Schatten und Licht, bei der damals Depressionen und Angstzustände | |
zusammenkamen. „Dann heißt es immer: ‚Ihr glaubt gar nicht, was mir | |
manchmal so für Gedanken durch den Kopf gehen!‘ Wenn wir dann sagen: | |
‚Aaach, das kennen wir hier alle!‘ sieht man, wie ein Gewicht von ihnen | |
abfällt.“ | |
In ihre Selbsthilfegruppe kommen neue Mütter, Mütter, die seit Jahren | |
Kontakt halten, oder welche, die sich auf das nächste Kind vorbereiten. Sie | |
alle kennen die Scham und den Druck, sich nichts anmerken lassen zu wollen | |
– die nestelnden Hände ruhig zu halten oder sich vor der Panikattacke noch | |
schnell in eine öffentliche Toilette zu retten. Tanja sagt dann: „Es kann | |
alle treffen.“ Und: „Nichts davon macht euch zu einer schlechten Mutter!“ | |
Auch auf ihrer Arbeit auf der neonatalen Intensivstation sieht sie viele | |
Warnzeichen: Eltern, die an die Wand starren, oder die die Reanimation | |
ihrer Kinder miterleben. Dass sie und eine betroffene Ärztin mit ihrer | |
Erfahrung so offen umgehen, hat das Krankenhaus sensibler gemacht. | |
Mittlerweile gibt es interne Fortbildungen, die Nachfrage von | |
Kolleg*innen ist hoch. | |
Ines erinnert sich noch sehr genau an das Gefühl, die ersten paar Stunden | |
mit dem Kind alleine zu Hause zu sein. Wenn sie heute an ein zweites Kind | |
denkt, dann kann sie sich das nur vorstellen, wenn mindestens drei Monate | |
Elternzeit zu zweit möglich sind. | |
Doch Deutschland sperrt sich – erst bei einer EU-Regelung, Partner*innen | |
zur Geburt mindestens zehn Tage freizustellen, [6][und jetzt bei geteilter | |
Elternzeit von mehr als einem Monat]. Es braucht mehr väterliche | |
Eigenverantwortung und weniger Elternurlaub im Bully, heißt es in der | |
Begründung. Für Ines ist der Urlaubsvergleich blanker Hohn – und ein | |
Zeichen, dass es für ihre Erfahrung nach wie vor kein Bewusstsein gibt. | |
Eltern, die von einer postpartaler Angststörung betroffen sind, können sich | |
unter der Telefonnummer 116117 an den hausärztlichen Notdienst wenden. | |
Dieser hilft bei der Vermittlung von Psychotherapeut*innen. Alternativ | |
ist die 24/7-Hotline Notruf Mirjam unter der 0800 – 60 500 – 40 erreichbar. | |
Die Hotline ist ein Gesprächsangebot für Schwangere und Mütter. | |
22 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33632067/ | |
[2] https://www.cambridge.org/core/journals/the-british-journal-of-psychiatry/a… | |
[3] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/12706515/ | |
[4] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33075397/ | |
[5] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0924977X2030256X | |
[6] /Geplante-Aenderungen-beim-Elterngeld/!5971390 | |
## AUTOREN | |
Franca Parianen | |
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