# taz.de -- Medizinische Leitlinie für Geburt: Weniger Stress im Kreißsaal | |
> Erstmals liegt eine medizinische Leitlinie für Spontangeburten vor. Unter | |
> anderem sollen Gebärende mehr Zeit bekommen. | |
Bild: Tür zum Kreißsaal in einem Krankenhaus in Eberswalde | |
BREMEN taz | Frauen sollen unter der Geburt „mit Wertschätzung und Achtung | |
behandelt werden“ und unmittelbar vor der Austrittsphase [1][„nicht vom | |
geburtshilflichen Personal allein gelassen werden“]. Vaginale | |
Untersuchungen sollen nur gemacht werden, wenn sicher ist, dass diese | |
„hilfreiche Informationen für den weiteren Ablauf“ liefern. So steht es in | |
einer im Januar veröffentlichten medizinischen S3-Leitlinie. Erstmals gibt | |
es damit evidenzbasierte Vorgaben nach höchstem wissenschaftlichen Standard | |
für das Handeln von Ärzt*innen und Hebammen bei Spontangeburten zwischen | |
der 37. und 42. Schwangerschaftswoche. | |
Bisher, [2][so heißt es in der Einleitung], seien „mitunter tradierte | |
Maßnahmen unreflektiert und unter Verzicht einer wissenschaftlichen | |
Grundlage über Generationen weitergegeben“ worden. Das soll sich nun | |
ändern. Fünf Jahre werteten Vertreter*innen der beteiligten | |
Organisationen unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für | |
Hebammenwissenschaft und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und | |
Geburtshilfe die Literatur aus, die sich mit allen Fragen rund um die | |
Spontangeburt beschäftigen. Das beginnt bei der Beratung über den | |
Geburtsort und endet bei der Versorgung des Neugeborenen beim Verdacht auf | |
Sepsis oder Infektion. | |
Aber neben detaillierten Verfahrensbeschreibungen etwa dazu, wann es | |
indiziert ist, die Blutwerte des Fötus zu überprüfen oder unter welchen | |
Umständen welcher Dammschnitt angezeigt ist, finden sich Sätze wie die | |
eingangs zitierten. Diese zielen auf die Grundsätze des geburtshilflichen | |
Handelns, das in Zukunft „frauzentriert“ sein und eine „selbstbestimmte | |
Geburt“ fördern soll. | |
„Das klingt selbstverständlich, ja“, sagt dazu Rainhild Schäfers, | |
Leitlinienkoordinatorin der Gesellschaft für Hebammenwissenschaft, | |
[3][„aber in der Praxis ist es das nicht immer“]. Umgesetzt werden muss die | |
Leitlinie nicht – sie ist rechtlich nicht bindend, – aber, sagt Schäfers, | |
sie könne Diskussionen befördern und als Orientierungshilfe dienen. | |
Einerseits für Eltern, die eine für Laien verständliche Übersetzung | |
bekommen sollen, andererseits für Hebammen und Ärzt*innen – aber auch für | |
Gesundheitspolitiker*innen. Denn die Leitlinie formuliert teils hohe | |
Ansprüche, die [4][angesichts der Personalnot in den Kliniken oft nicht | |
umgesetzt] werden können – wie die 1:1-Betreuung durch eine Hebamme. | |
## Leitlinie nicht verpflchtend | |
„Mit der Leitlinie haben Kliniken jetzt etwas in der Hand, um Forderungen | |
an die Politik zu stellen“, sagt Schäfers, Professorin für | |
Hebammenwissenschaft an der Hochschule für Gesundheit Bochum. „Die können | |
jetzt sagen, dass sie mit ihrem Personal nicht evidenzbasiert arbeiten | |
können.“ Evidenzbasiert heißt in diesem Fall, dass nicht nur der aktuelle | |
Forschungsstand abgebildet wird, sondern auch die Expertise | |
geburtshilflicher Fachpersonen und Wünsche und Präferenzen der | |
Patient*innen mit einbezogen werden. | |
Eine Besonderheit dieser Leitlinie ist, dass neben mehreren ärztlichen | |
Fach- und Berufsverbänden mit der [5][Elterninitiative Motherhood e. V.] | |
eine Laienorganisation beteiligt war, die nicht dem Selbsthilfespektrum wie | |
etwa ein Frühgeborenen-Verband zuzurechnen ist, sondern die Interessen von | |
„Normal-Gebärenden“ vertritt. | |
Motherhood feierte die Leitlinie zu Recht als „bahnbrechend“ ab und freute | |
sich insbesondere darüber, dass die „heilige Kuh der technischen | |
Überwachung geschlachtet“ wurde, wie es in einer Pressemitteilung hieß. | |
Gemeint ist damit, dass die Leitlinie davon abrät, routinemäßig bei der | |
Aufnahme in der Klinik und während der Geburt die Mutter an den | |
[6][Herzton-Wehenschreiber anzuschließen, bekannt als CTG]. | |
Es sei nicht nachweisbar, dass das CTG – das die Gebärende für eine halbe | |
Stunde immobilisiert – Vorteile gegenüber dem systematischen Abhören | |
mittels Hörrohr oder Dopton biete, heißt es in der Leitlinie. Zudem können | |
beim Schreiben und Interpretieren des CTG Fehler gemacht werden. Ein als | |
pathologisch bewertetes CTG ist laut dem „[7][Qualitätsbericht | |
Geburtshilfe“ von 2017] der zweithäufigste Grund für einen Kaiserschnitt. | |
Daher heißt es auch folgerichtig in der Leitlinie: „Es sollen keine | |
Entscheidungen während der Geburt allein auf Grundlage des CTGs getroffen | |
werden.“ | |
In einigen Kreißsälen habe dies für Aufregung gesorgt, sagt die | |
Wissenschaftlerin Rainhild Schäfers, die selbst 21 Jahre als Hebamme | |
gearbeitet hat. „Das wurde von vielen so aufgefasst, dass das CTG gar nicht | |
mehr eingesetzt werden soll.“ Tatsächlich steht in der Leitlinie, dass nur | |
unter bestimmten Umständen darauf verzichtet werden kann, wenn etwa die | |
1:1-Betreuung durch eine Hebamme gewährleistet ist. | |
Mehr Zeit für Gebärende | |
Dabei habe es anders als bei anderen Punkten zwischen den | |
Vertreter*innen der Fachgesellschaften über das CTG gar keine große | |
Diskussion gegeben. „Da habe ich mich gefragt, welchen Klischees ich über | |
andere Berufsgruppen anhänge“, sagt Schäfers. „Erwartet hatte ich von den | |
Ärzt*innen heftigen Widerstand, stattdessen hieß es:,Ja Gott, wenn das | |
die Evidenz ist …'“ | |
Die gute Zusammenarbeit innerhalb der Leitlinienkommission sei für sie eine | |
besonders positive Erfahrung gewesen. Zum ersten Mal sei eine | |
geburtshilfliche Leitlinie unter gemeinsamer Federführung von Ärzt*innen | |
und Hebammen entstanden. | |
Eine Abkehr von „Grabenkämpfen“, wie Schäfers es nennt. Ein Beispiel daf�… | |
wäre etwa eine Pressemitteilung vom Berufsverband der Frauenärzt*innen | |
und der Gesellschaft für Geburtshilfe aus dem Jahr 2013. In dieser hieß es: | |
„Die Stunde der Geburt ist die gefährlichste Zeit im Leben jedes Menschen“. | |
Damit sollte begründet werden, warum Geburten ausschließlich im Krankenhaus | |
stattfinden dürfen, wo ärztliche Hilfe schnell erreichbar ist. | |
Die Frage nach dem Geburtsort habe auch während der Erarbeitung der | |
Leitlinie die heftigsten Diskussionen nach sich gezogen, sagt Schäfers. | |
Dabei ließen sich die Daten zur klinischen und außerklinischen Geburtshilfe | |
derzeit gar nicht vergleichen – und daher sei es auch nicht möglich zu | |
sagen, wie sicher die Klinikgeburt im Vergleich zu Geburtshaus oder | |
Hausgeburt sei. „Wir brauchen hier endlich einheitliche Indikatoren.“ | |
Ein weiterer zentraler Punkt der Leitlinie sei für sie, dass die | |
Geburtsphasen erstmals klar definiert worden seien. Umbenannt wurde dabei | |
die letzte Phase: Sie soll nicht mehr „Austreibungsphase“ heißen, weil das | |
negativ konnotiert sei, sondern neutraler „Austrittsphase“. Und während | |
Lehrbücher noch festlegen, dass die Austrittsphase bei Erstgebärenden | |
höchstens eine Stunde und bei Mehrgebärenden eine halbe dauern darf, | |
unterscheidet die Leitlinie zwischen passiver und aktiver Austrittsphase – | |
und lässt Gebärenden damit mehr Zeit. | |
Zu einem großen Teil wurden [8][die Empfehlungen des britischen National | |
Institute for Health and Care Excellence (Nice)] übernommen, die erstmals | |
2007 veröffentlicht wurden. Nice untersteht dem Gesundheitsministerium und | |
wird von diesem finanziert. In Deutschland ist die Arbeit an Leitlinien | |
hingegen überwiegend „Ehrenamt“, sagt Schäfers, was die Bereitschaft zu d… | |
besonders arbeitsaufwendigen S3-Leitlinien negativ beeinflusst. In diesem | |
Fall habe das Bundesministerium für Gesundheit einen Teil der Recherchen | |
finanziert. Parallel hatten teils die gleichen Personen an einer [9][im | |
Sommer veröffentlichten S3-Leitlinie zum Kaiserschnitt] gearbeitet, diese | |
hatte das Gesundheitsministerium mitfinanziert. | |
7 Feb 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Neue-Ausbildung-fuer-Hebammen/!5620790 | |
[2] https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-083.html | |
[3] /Debatte-Geburt-und-Familie/!5312563 | |
[4] /Hebammenkrise-in-Berliner-Kreisssaelen/!5442896 | |
[5] https://www.mother-hood.de/ueber-uns/der-verein.html | |
[6] /Aus-eigener-Kraft-gebaeren/!5276734 | |
[7] https://iqtig.org/downloads/auswertung/2017/16n1gebh/QSKH_16n1-GEBH_2017_BU… | |
[8] https://www.nice.org.uk/guidance/cg190 | |
[9] /Neue-Leitlinie-fuer-Kaiserschnitte/!5692215 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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