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# taz.de -- Wahlen in Berlin: Der linke Lack ist ab
> Die CDU sammelt Stimmen von Wähler:innen, die frustriert sind von
> Pleiten, Pannen und grüner Politik – vor allem jenseits der Innenstadt.
Bild: Baum vs. Auto: Das Thema Verkehr hat eine hoch symbolische Bedeutung in B…
Berlin taz | Es ist noch keine eineinhalb Jahre her, dass in Berlin bei
einem Volksentscheid fast 60 Prozent für die Enteignung großer
Wohnungsunternehmen stimmten. Das einstige Tabuthema wurde damit eine
realistische politische Option; der Jubel bei den Mietaktivist*innen, die
die Politik vor sich her getrieben haben, war unfassbar groß. An diesem
Sonntag nun gelingt der CDU – der Lieblingspartei der Baulobby und
erklärter Gegner jeglicher Umverteilung – ein Erdrutschsieg in der
Hauptstadt. Sie distanziert SPD, Grüne und Linke und reklamiert den
Regierungsauftrag für sich. Ist das noch die gleiche Stadt?
Natürlich ist das progressive Berlin nicht verschwunden, immerhin haben
[1][SPD, Grüne und Linke] im Abgeordnetenhaus weiterhin genug Stimmen, um
eine gemeinsame Regierung gegen den großen Wahlsieger CDU zu bilden. Und
nun, da die SPD hauchdünn mit gerade mal 105 Stimmen vor den Grünen liegt,
ist das auch weiterhin eine wahrscheinliche Option.
Doch der linke Lack ist ab. Die Selbstverständlichkeit, dass in
Deutschlands größter Stadt gesellschaftlicher Wandel zuerst passiert, dass
hier die politischen und kulturellen Debatten geführt werden, die später
das ganze Land bewegen, sie ist in Frage gestellt. Tickt Berlin etwa gar
nicht so fortschrittlich wie lange gedacht?
Tatsächlich zeigt ein Blick auf die politische Landkarte einen Rückfall um
fast 15 Jahre in eine Zeit, als das hippe, linke, schräge Berlin ziemlich
genau am S-Bahn-Ring rund um die Innenstadt endete. Alles was jenseits von
(Szene-)Vierteln wie Friedrichshain, Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Mitte
lag, war jwd – „janz weit draußen“, piefig, plattenbauig, mitunter dörf…
und keinesfalls ein Ort für die neue Wohnung.
Die neue Verteilung der 78 Direktmandate für das Abgeordnetenhaus zeichnet
ein ähnliches Bild: In einem dicken schwarzen Kreis finden sich die –
wenigen – Wahlkreise mit erfolgreichen Sozialdemokrat*innen, Linken und
Grünen in der Mitte. Und auf kommunaler Ebene ist die CDU am Sonntag in
neun von zwölf Bezirken stärkste Partei geworden. Zuvor hatte sie dort
keinen einzigen Bürgermeister gestellt.
Was ist schief gelaufen?
Manche reden angesichts der Wahlergebnisse schon von einer Spaltung der
Stadtgesellschaft. Das ist natürlich zu drastisch formuliert, aber die
Frage ist berechtigt, was schief gelaufen ist in den letzten Monaten,
vielleicht auch Jahren, in denen SPD, Grüne und Linke in allen Umfragen
eine stabile Mehrheit hatten. Fühlen sich Menschen in den Außenbezirken zu
wenig berücksichtigt? Stimmt der Vorwurf, den die SPD den Grünen
mantramäßig macht, sie bediene nur ihre innerstädtische Klientel?
In diesem Kontext wird oft auf die Politik der beiden grünen
Verkehrssenatorinnnen seit 2016 verwiesen. Die Verkehrswende, die jene
ausgerufen hatten und die mehr Platz und Sicherheit für Radfahrer*innen,
Fußgänger*innen und den ÖPNV schaffen soll, ignoriere die Bedürfnisse
all jener, die mangels Anbindung allein auf Busse oder eben ihr Auto
angewiesen sind, so der Vorwurf – sprich jene, die weiter weg vom Zentrum
wohnen. Das stimmt, der Ausbau des ÖPNV geht langsam voran, zugleich hat
das Thema Verkehr eine große Präsenz und eine hoch symbolische Bedeutung.
Denn dass Bettina Jarasch, Spitzenkandidatin der Grünen und seit 2021 eben
auch Verkehrssenatorin, mitten in der heißen Wahlkampfphase zentrale Teile
der Edeleinkaufsmeile Friedrichstraße für Autos erneut sperren ließ, sorgte
regelrecht für Aufruhr in konservativen Kreisen und bei den dortigen
Geschäftsinhabern. Allein aus ideologischen Gründen würde Jarasch handeln,
die Interessen der Anlieger ignorieren.
## Silvester hat der CDU in die Hände gespielt
Die Wut auf Jaraschs Ankündigung hat direkt auf das Konto der CDU
eingezahlt. Den Grünen selbst wiederum hat sie kaum geschadet, wie deren
Ergebnis zeigt, das nahe am Rekord von 2021 liegt. Jarasch und Co müssen
auch eher aufpassen, dass der Stadtumbau von den eigenen radaffinen
Wähler*innen nicht als zu langsam und verzagt kritisiert wird. Hier
zeigt sich eine gesellschaftliche Schere, die offenbar weiter aufgehen
wird.
Ein weiteres Thema, das im Wahlkampf befeuert von der Union lange hohe
Wellen schlug, waren die [2][Silvesterrandale] und deren Täterschaft.
Während die meisten Anhänger*innen der Regierungskoalition die Debatte
spätestens nach zwei Tagen höchstens noch gelangweilt verfolgten, weil sie
eigentlich zu jedem Jahresanfang dazu gehört, konnte die CDU mit dem Themen
Sicherheit und Integration punkten: Mit Silvester begann der Höhenflug der
Partei in Umfragen; zuvor hatte sie seit der Wahl 2021 meist bei 20 Prozent
gelegen und damit gleichauf mit SPD und Grünen.
Doch den Sieg der CDU allein auf einen von ihr pointiert geführten
Wahlkampf zurückzuführen, greift zu kurz. Vielmehr wurde in den vergangenen
sechs Wochen eben auch deutlich, dass sich in der Stadt in den sechs Jahren
unter der Regierung aus SPD, Grünen und Linken zu wenig verändert hat. Die
Koalition hatte schlicht wenig eigene Erfolge vorzuweisen und fand sich oft
argumentativ in der Defensive.
CDU kann auch nicht zaubern
Sicher, Rot-Grün-Rot hat in Sachen Integration der Geflüchteten aus der
Ukraine sehr gute Arbeit geleistet; sie haben in der Energiekrise schnell
und umfassend gehandelt. Und nicht für jeden Mangel ist die Koalition
verantwortlich. Aber bezahlbare Mietwohnungen sind weiterhin genauso so
selten wie Termine auf dem Bürgeramt, es gibt zu wenig Schulplätze, die
Digitalisierung schleicht höchstens voran.
Und inzwischen sind es viele Berliner*innen leid, bundesweit als
Bewohner*innen einer Pannenmetropole verunglimpft zu werden, zuletzt
eben [3][wegen des Wahlchaos], für das der damalige SPD-Innensenator
politisch verantwortlich war, der inzwischen Bausenator ist.
Vor diesem Hintergrund konnte es der CDU mit ihrem relativ unscheinbaren
Spitzenkandidaten gelingen, vor allem mit großen Versprechungen in der
Stadt zu punkten, die sie vor gut 20 Jahren mit ihrer Verantwortung für den
Bankenskandal fast in den Ruin getrieben hatte. Die dringend benötigten
Zehntausende Verwaltungsmitarbeiter*innen, Lehrer*innen und
(Miet-)Wohnungen wird auch sie nicht herbei zaubern können.
Gut möglich, dass die Wähler*innen, die vor allem die SPD an die CDU
verloren hat, wieder zurück kommen. Dafür müssen die Sozialdemokraten aber
den Mut zeigen, linke Politik auch wirklich zu wollen. Zum Beispiel, wenn
es im Sommer zur Frage kommt, ob Berlin den erfolgreichen
[4][Enteignen-Volksentscheid] auch umsetzen will.
13 Feb 2023
## LINKS
[1] /SPD-Ergebnis-bei-der-Berlin-Wahl/!5915003
[2] /Debatte-ueber-Silvester-Gewalt/!5906228
[3] /Pannenfrei-durch-den-Wahltag/!5915063
[4] /Debatte-um-Enteignungen-in-Berlin/!5899360
## AUTOREN
Bert Schulz
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