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# taz.de -- Diskriminierung im Handwerk: Lieber Wimmermann als Zimmermann
> Der Fachkräftemangel hat viele Gründe, im Handwerk sind es auch
> diskriminierende Strukturen. Ein Zimmerer rät zu mehr Sensibilität.
Bild: Bock auf Bohrmaschine? Im Handwerk gibt es Jobs. Aber auch schlechte Laune
Die ewigen Klagen meines Meisters habe ich noch im Ohr: Wie schwer es
heutzutage sei, einen guten Gesellen zu finden, weil sich keiner mehr die
Hände dreckig machen will.
Ich wollte mir die Hände dreckig machen. Wollte Zimmerei lernen, mit der
Kettensäge umgehen, Statik checken, Fachwerk bauen und Dächer konstruieren.
Und ich hab mich bei allen Betrieben beworben, die in meiner Stadt
ausbilden. Denn einen guten Ausbildungsbetrieb zu finden, das ist auch
nicht leicht. Einen, der Auszubildende mit Respekt behandelt, der auf
Basic-Arbeitsrechte achtet und auch mir etwas zutraut, obwohl ich nicht dem
Idealbild entspreche, das viele Handwerksmeister (sic!) von Azubis haben:
cis-Mann, groß, weiß, able-bodied.
Ich habe berufsbedingt viel Kontakt zu Zimmer*innen, die diesem Idealbild
nicht entsprechen. Und alle, wirklich alle Zimmer*innen, die ich kenne,
haben sich nach der Ausbildung selbstständig gemacht. In den Betrieben, die
sie in ihren Ausbildungen kennengelernt haben, will keine*r von ihnen
arbeiten. Betriebe, wie der, in dem ich gelernt habe, wo der Chef, wenn
morgens jemand Richtung Toilette geht, quer über den Hof schreit:
„Ausgeschissen zur Arbeit kommen!“ und wo, wer sich beschwert, zu hören
bekommt: „Bist du ein Zimmermann oder ein Wimmermann?“
[1][Angesichts des Fachkräftemangels] würde ich ja gern Werbung machen,
aber: Ausbildung im Handwerk ist scheiße. Die Hierarchien sind starr, und
als Auszubildende*r stehst du ganz unten, wirst verarscht, und wer kein
weißer cis-Mann ist, auch diskriminiert.
## Hierarchie macht den Job nicht attraktiv
Ob das nun der Grund für den „eklatanten Bewerbermangel“ ist, den der
Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) in einer aktuellen Umfrage zur
Ausbildungssituation beklagt? Sicherlich nicht der einzige, aber man könnte
schon erwarten, dass sich Ausbildungsbetriebe ein bisschen Mühe geben, für
Interessierte nicht komplett unattraktiv zu sein. Das Kompetenzzentrum für
Fachkräftesicherung (Kofa) macht den Fachkräftemangel zwar insbesondere am
Mangel von Meister*innen und Gesell*innen fest. Doch würden
Auszubildende, die in ihrem Lehrbetrieb gute Erfahrungen gemacht haben,
diesem auch eher erhalten bleiben.
Die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge sei in den vergangenen
10 Jahren laut Kofa nur leicht rückläufig. Im Jahr 2021 standen den 20.000
unbesetzten Ausbildungsplätzen jedoch auch 22.000 Bewerber*innen
gegenüber, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Eine mögliche
Erklärung dafür ist, dass in strukturschwachen Regionen weniger
Ausbildungsplätze vorhanden sind. Diesem Ungleichgewicht [2][will
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil mit einer „Ausbildungsgarantie“]
begegnen.
Mit einem Gesetzentwurf sollen Azubis, die für ihre Ausbildung umziehen,
finanzielle Unterstützung erhalten, indem etwa Unterkunftskosten und
Familienheimfahrten übernommen werden. Diese Maßnahme könnte Azubis
tatsächlich entlasten, denn die Löhne vieler Auszubildender sind gerade in
den ersten beiden Lehrjahren sehr gering.
## Fachkräftemangel ausgerechnet dort, wo gut bezahlt wird
Nach der Ausbildung gibt es je nach Gewerk enorme Unterschiede auf dem
Lohnzettel: So verdienen Friseur*innen in einem Vollzeitjob nur 1.708
Euro brutto, Elektromaschinenbauer*innen haben mit 3.776 Euro mehr
als doppelt so viel. [3][Bäcker*innen] (2.423 Euro) und
Bautischler*innen (2.828 Euro) bewegen sich im Mittelfeld der
Lohnskala.
Die Lohnunterschiede sind so groß, dass sich pauschal wenig dazu sagen
lässt, wie die Einkommenserwartung zur Motivation beiträgt, einen
Handwerksberuf zu erlernen. Allerdings ist die Fachkräftelücke laut Kofa in
der Bauelektrik und der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik am größten.
Das sind ausgerechnet zwei sehr gut bezahlte Berufe, die zudem zu den
beliebtesten Gewerken bei männlichen Ausbildungswilligen zählen.
In vielen Handwerksberufen sind auch weniger die Löhne problematisch,
sondern vielmehr die Arbeitsbedingungen für Gesell*innen und
Auszubildende: starre Hierarchien, wenig Bewusstsein für Arbeitssicherheit
und diskriminierende Strukturen. Die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten,
gibt es so gut wie nie.
## Wenig Aussicht auf Verbesserung des Betriebsklimas
Trotzdem verändert sich seit Jahrzehnten nichts. Die Betriebe sind so
klein, dass es in den meisten keinen Betriebsrat oder eine
Auszubildendenvertretung gibt. Daher sind im Handwerk viel weniger
Arbeitnehmer*innen gewerkschaftlich organisiert als in der Industrie.
In den familienbetriebsähnlichen Strukturen vieler Handwerksbetriebe
ist gewerkschaftliche Organisierung verpönt, da man damit „dem Chef in den
Rücken fallen“ würde. Es gibt also wenig Aussicht auf Verbesserung des
Betriebsklimas.
Auch ich wollte nach meiner Ausbildung auf keinen Fall in meinem
Lehrbetrieb bleiben. Jetzt arbeite ich als Selbstständiger unter anderem im
Handwerkerinnenhaus Köln mit Mädchen, die sich für eine Ausbildung im
Handwerk interessieren. Für sie ist es trotz des Mangels an Auszubildenden
genauso schwer wie für mich damals, einen Lehrbetrieb zu finden. Haben sie
es geschafft, sind sie [4][mit Sexismus konfrontiert] und oft „die Einzige“
auf der Schule oder Baustelle.
Meine Kollegin, die Sozialpädagogin Hanna Kunas, berät
ausbildungsinteressierte Jugendliche. Sie kennt die Schwierigkeiten, mit
denen die Mädchen in ihrer Ausbildung konfrontiert sind. Damit sich daran
etwas ändert, will das Handwerkerinnenhaus für die
geschlechtsspezifische Diskriminierung sensibilisieren. Aus den
Beratungsgesprächen weiß Hanna Kunas, dass Handwerksberufe unter vielen
Mädchen nur mit geringem Prestige verbunden sind und sie sich deshalb eher
Richtung Studium orientieren wollen.
Diesem schlechten Image will der Präsident des Zentralverbands des
Deutschen Handwerks, Jörg Dittrich, entgegenwirken. Er wirbt mit einer
Imagekampagne an Kitas und Schulen und betont in einem Gastbeitrag für das
Karrieremagazin She Works die Wichtigkeit einer „Berufsorientierung frei
von Stereotypen“ und sieht beim Thema Frauen in Handwerksberufen „noch
deutlich Luft nach oben“. In seinem Betrieb bilde er gerade „zwei mutige,
kluge Frauen aus, die ihre handwerkliche Begabung zur Berufung machen“. Ich
wünsche den beiden Dachdeckerinnen, dass ihnen ihr Handwerk genauso viel
Spaß macht wie mir. Und dass sie ihre Ausbildung möglichst schnell rum
kriegen.
22 Jan 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Bo Wehrheim
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