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# taz.de -- Wandergesell:innen und Erinnerungsarbeit: Handwerk ist Antifa
> Wandergesell:innen leben zwischen Tradition und Politik, Freiheit
> und Schlichtheit. Rund 30 renovieren gerade eine KZ-Gedenkstätte bei
> Lübeck.
Eher unscheinbar liegt das ehemalige Direktionshaus aus rotem Klinker an
der Bundesstraße 432, die Scharbeutz und Bad Segeberg in Schleswig-Holstein
verbindet. Dabei ist es das einzige noch erhaltene Gebäude eines frühen
Konzentrationslagers in Schleswig-Holstein.
Gleich mehrere Hinweisschilder machen deshalb [1][in Ahrensbök auf die 2001
eröffnete Gedenkstätte] aufmerksam. Eine große Einfahrt führt links neben
dem Haus auf das Gelände. Wo normalerweise Parkplätze für
Besucher:innen sind, stehen derzeit sechs Container. Schlaf- und
Sanitärräume für knapp 30 Wandergesell:innen. Die jungen
Handwerker:innen sanieren hier zwei Wochen lang ehrenamtlich die
Fassade des alten Direktionsgebäudes – als „Soli-Baustelle“.
Im Gebäude bereitet eine Dauerausstellung die verschiedenen Aspekte der
Geschichte des Ortes auf. Graue und weiße Ausstellungstafeln zeigen
Originaldokumente, Fotos und Informationstexte. Verteilt auf die
verschiedenen Räume der ehemaligen Villa legt die Gedenkstätte dabei
Schwerpunkte auf das jüdische Leben, das frühe Konzentrationslager in
diesem Haus und den Todesmarsch 1945.
Baustellengeräusche durchdringen immer wieder die Ruhe der
Ausstellungsräume. Junge Handwerker:innen arbeiten auf einem Gerüst vor
dem Obergeschoss an den Fenstern und der Fassade des Hauses. Fast alle
tragen die traditionelle Kluft der Gesell:innen, und es gibt niemanden, der
einen Arbeitstakt vorgibt.
„Wenn die Arbeitsmotivation nicht aus der Bezahlung kommt, hat man auch den
Vorteil, dass man keine Peitsche im Nacken hat. Dass man sich einfach mal
wieder in seinem Handwerk austoben kann“, sagt ein junger Zimmerer.
Zwischen zwei Holzschuppen hat er gemeinsam mit anderen eine zusätzliche
Überdachung gebaut. Die Windbretter, die die Seiten des Daches verkleiden,
haben sie zu einem Pferde- und einem Elefantenkopf geschnitzt – ein
Giebelschmuck, der so nur noch selten entsteht.
## Eine jahrhundertealte Tradition
Die Fremden, wie die Handwerker:innen sich selbst nennen, sind [2][auf
der Walz]. Eine jahrhundertealte europäische Tradition, bei der
Gesell:innen nach ihrer Lehrzeit für mindestens drei Jahre und einen Tag
auf Wanderschaft gehen. Die genauen Regeln unterscheiden sich zwischen den
Gesell:innenvereinigungen, den sogenannten Schächten. Grundsätzlich müssen
Wandergesell:innen unverheiratet, kinderlos und ohne Schulden sein,
dürfen für Übernachtungen und Transport kein Geld ausgeben, keine
internetfähigen Geräte besitzen und sich ihrem Heimatort für die Zeit der
Wanderschaft nicht nähern.
Auf der Walz reisen die Gesell:innen umher und bieten ihre Arbeit an
verschiedenen Orten für eine begrenzte Zeit an, bevor sie weiterziehen
müssen.
Auch heute ist die Kluft mit schwarzem Hut, Weste, Jackett und Wanderstock
das gängige Outfit der Gesell:innen. Ihre Habseligkeiten transportieren sie
eingewickelt in bedruckten Tüchern, sogenannten Charlottenburgern. Für die
Arbeit haben sie eine ähnliche Kleidung, die bei fast allen hier schon
deutliche Spuren der Arbeit trägt: Sägespäne, Mörtelstaub und Lackreste
bleiben am Stoff haften, die Schlaghosen haben erste Löcher an den Knien.
Steinmetz:innen und Steinbildhauer:innen tragen eine helle Kluft,
Zimmerer:innen und Tischler:innen als Teil der Holzgewerke eine
schwarze, metallverarbeitende Gewerke tragen Blau.
„Wir reisen, um zu arbeiten, und arbeiten, um zu reisen“, erklärt Lucas. Er
ist Kfz-Mechatroniker und seit acht Monaten „freireisend“ auf Wanderschaft,
also nicht in einem Schacht organisiert. „Ich bin auf die Walz gegangen, um
coole politische Projekte zu unterstützen und meine Skills einzusetzen“,
fährt der 27-Jährige fort. „Wir trampen viel, bekommen immer wieder
Schlafplätze angeboten, und diese Soli-Baustellen, die es mehrmals im Jahr
gibt, sind unsere Möglichkeit, der Gesellschaft etwas zurückzugeben“,
ergänzt Jürgen. Er ist Steinmetz und Steinbildhauer und seit mehr als vier
Jahren mit dem „Fremden Freiheitsschacht“ auf der Walz.
In einem großen Zelt schleifen Gesell:innen alten Lack von abgebauten
Fensterrahmen. Mit einem einfachen Flaschenzug bringen Steinmetz:innen
und Zimmerer:innen wenige Meter weiter Eimer mit Mörtel und Wasser auf
das Baugerüst an der Rückwand des Hauses. Acht Gesell:innen erneuern
hier die Fugen in der Fassade und lackieren die Fenster neu. Auch Lucas hat
eine Fugenkelle in der Hand. Das Arbeiten außerhalb des eigenen Gewerks ist
bei Wandergesell:innen keine Seltenheit. Dass hier so viele
Handwerker:innen verschiedener Schächte und Gewerke zusammenkommen, um
gemeinsam ein politisches Zeichen zu setzen, hingegen schon.
Früher war die Wanderschaft Pflicht, um einen eigenen Betrieb gründen zu
können. Heute ist sie freiwillig und eine gute Möglichkeit, berufliche und
persönliche Fähigkeiten zu erweitern. Auch heute seien noch 400 bis 600
junge Menschen in Deutschland auf der Wanderschaft, erzählen die
Gesell:innen.
Auch in Dänemark und Frankreich gibt es eine ähnliche Tradition.
Üblicherweise arbeiten die Menschen in handwerklichen Betrieben gegen
Tariflohn, immer wieder machen sie Ausnahmen für gemeinnützige Projekte wie
in Ahrensbök. Hier arbeiten die Handwerker:innen für Kost und Logis.
Gekocht wird von drei Köch:innen und einer Konditorin, auch sie sind
Gesell:innen auf Wanderschaft.
„Ich finde das eine ganz tolle Symbiose, dass da junge Expertinnen und
Experten auf handwerklichem Gebiet sind, die sagen: Wir wollen ein Zeichen
gegen rechte Gewalt setzen und bei euch sanieren“, sagt Daniel Hettwich,
der ehrenamtliche Vorstandsvorsitzende der Gedenkstätte.
Die Gedenkstätte in Ahrensbök wird von einem gemeinnützigen Verein
getragen. In dem Direktorenhaus einer ehemaligen Zuckerfabrik entstand 1933
ein frühes Konzentrationslager, in dem Kommunisten, Sozialdemokraten und
Gewerkschafter interniert wurden. Im Laufe der NS-Diktatur diente das
Gebäude dann als Schule. 1945 führte ein Todesmarsch mit etwa 500 Menschen
aus den Konzentrationslagern Auschwitz-Fürstengrube und Mittelbau-Dora im
Harz durch Ahrensbök. Heute ist das Gebäude ein Ort des Gedenkens und des
Lernens.
In der Dauerausstellung werden Anfang und Ende der NS-Diktatur beispielhaft
thematisiert, es geht um jüdisches Leben und um Zwangsarbeit. „Aus meiner
Sicht ist Gedenkstättenarbeit auch ganz wichtige Präventionsarbeit“,
erklärt Daniel Hettwich.
Wie wichtig, das zeigte sich im Januar, als rechte Akteur:innen einen
Onlinevortrag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus störten.
Sie hielten Hakenkreuze in die Kamera, skandierten den Hitlergruß und
zeigten Aufnahmen von Neonazi-Aufmärschen, berichtet die Gedenkstätte im
Netz.
Ein Grund, warum die Soli-Baustelle im schleswig-holsteinischen Ahrensbök
stattfindet. „Für uns ist es wichtig, dass wir eine Baustelle an einer
Gedenkstätte machen, um uns als reisende Handwerker:innen mit unserem
Handwerk gegen rechts zu äußern“, erklärt Bätzy, die mit Jürgen in der
Vorbereitungsgruppe der Baustelle war. Ein Transparent am Baugerüst
unterstreicht dies: „Mit dem Handwerk gegen rechtes Schandwerk“, steht da.
„Es ist interessant, dass dich linksorientierte Menschen für den
Freiheitsgedanken feiern, wenn du als Geselle unterwegs bist, während
Menschen aus dem rechten Spektrum dich wegen der Tradition feiern“, sagt
Jürgen. Rechte Akteur:innen versuchen immer wieder, Aspekte der
Handwerkskultur zu vereinnahmen und sie als vermeintlich deutsche Tradition
darzustellen. So tragen einige Rechtsextreme auf Demonstrationen
Handwerkskleidung. Besonders beliebt: die Zunfthose aus Cord, wie sie viele
Zimmerer:innen tragen. 2018 verharmloste ein NPD-Funktionär in einer
Rede rechtsextreme Angreifer als „Handwerksburschen“.
## Wer auf Wanderschaft geht, muss weltoffen sein
Von Deutschtümelei ist auf der Baustelle in Ahrensbök nichts zu spüren. Wer
auf Wanderschaft geht, müsse weltoffen sein, betonen die Gesell:innen. Hier
sieht man bunte Haare, feministische Patches auf der Kluft, ein Anarchie-A
aus Stecknadeln am Hut. „Die ganze Kluft steht für Pathos“, erklärt Lucas.
„Das schwarze Hutband steht für die Arbeiter:innen, die im Kampf für
bessere Arbeitsbedingungen gestorben sind; die acht Knöpfe der Weste für
den Achtstundentag.“
Das Einzige, worauf sie sich positiv beziehen würden, sei die
Arbeiter:innenbewegung, führt er fort. Gewerkschaftsarbeit hat traditionell
eine große Bedeutung bei den Gesell:innen, bis heute sind viele reisende
Handwerker:innen gewerkschaftlich aktiv. Mehrere Personen in Ahrensbök
sind in der [3][anarchosyndikalistischen FAU], der Freien
Arbeiter:innen-Union, organisiert.
Die politische Ausrichtung der Schächte war der NS-Diktatur schon ab 1933
ein Dorn im Auge, wie [4][Grit Lemke] in ihrem Buch „Wir waren hier, wir
waren dort“ beschreibt. Die Nähe zu Gewerkschaften, zu KPD und SPD sowie
die geheimbündlerischen Strukturen waren der Grund, warum Übergriffe gegen
Schächte und deren Leitungen im Herbst 1933 für einige Gesellen in
Konzentrationslagern endeten.
Den Nazis ging es dabei nicht darum, das Gesellenwandern zu verbieten –
ganz im Gegenteil. Die Figur des Wandergesellen bot sich als
Projektionsfläche an, um das Wandern als positiv und deutsch zu
propagieren. Die Tradition der Walz sollte in NS-Organisationen
eingegliedert werden, die Geheimhaltungsrituale der Fremden waren dabei
eine große Hürde, wie Lemke beschreibt. In einem Brief der Gestapo aus dem
Jahr 1938 wird den Fremden dabei eine marxistische Tendenz zugesprochen.
Vor diesem Hintergrund ist die antifaschistische Haltung der
Gesell:innen in Ahrensbök umso verständlicher. Dennoch unterscheidet
sich das politische Handeln der verschiedenen Schächte an vielen Punkten.
In den alten Schächten dürfen zum Beispiel bis heute keine Frauen reisen.
In den 1980er Jahren wurden deshalb mehrere neue Vereinigungen gegründet,
in denen das anders ist.
Eine davon ist „Axt und Kelle“, in der Bätzy und einige andere
Gesell:innen in Ahrensbök reisen. Anders als viele ältere Schächte, die
sich seit der NS-Zeit eher politisch neutral verhalten, ist es „Axt und
Kelle“ wichtig, Position zu beziehen. Soli-Baustellen werden anhand der
klar antifaschistischen Haltung und der Gemeinnützigkeit des Projekts
ausgewählt. So gab es 2015 eine Baustelle in einem linken Zentrum in
Hamburg.
Politische Gesell:innen finden sich aber nicht nur bei „Axt und Kelle“,
wie die Baustelle in Ahrensbök zeigt. Hier ziehen freireisende
Gesell:innen und Handwerker:innen der verschiedensten Schächte an
einem Strang. „Als reisende Handwerker:innen, die an dieser Baustelle
teilhaben, sind wir uns einig, dass Gedenkkultur nicht verhandelbar ist“,
sagt Bätzy.
5 Jun 2022
## LINKS
[1] /Sommer-im-Museum-II/!5138376
[2] /Begegnung-mit-Wandergesellen-in-Hamburg/!5702906
[3] /Ausbeutung-von-Arbeitern-in-Berlin/!5758805
[4] /30-Jahre-Pogrome-in-Hoyerswerda/!5799570
## AUTOREN
Jannis Große
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