| # taz.de -- Begegnung mit Wandergesellen in Hamburg: „Die Menschen sind über… | |
| > Wandergesellen reisen für mindestens drei Jahre. Sie dürfen nichts | |
| > ausgeben für Reisen und Unterkunft. Dass das klappt, ist ein Trost. | |
| Bild: Vertrauen auf andere: Wandergesellen | |
| Das Gesicht passt nicht zu den Händen. Schwere Hände, große Hände. | |
| Arbeitshände, die mit festen Materialien umgehen. Das Gesicht ist jung. Die | |
| Augen sind lebendig. Noch keine drei Jahrzehnte alt. Sie sehen neugierig | |
| aus, frei. | |
| Neben mir am Tresen sitzen Tobi und Simon. Beide sind in Kluft. Wir sind in | |
| der „Domschänke“ in Hamburg, einer Kneipe, in der sich die Wandergesellen | |
| treffen: Handwerker auf Wanderschaft. Die Männer und auch Frauen, die mit | |
| Schlaghose, Weste, weißem Hemd, Hut, Krawatte und einem Bündel am Stock, | |
| dem Stenz, auf den Straßen zu sehen sind. | |
| In ihrer Kluft wirken sie wie aus einer anderen Welt. Sie kommen aus der | |
| Welt. Sie reisen herum in Deutschland und weltweit, für mindestens drei | |
| Jahre und einen Tag. Dann wird die Wanderschaft von ihrem Schacht | |
| anerkannt. In dieser Zeit haben sie kein Handy, keinen Laptop. Sie dürfen | |
| nichts ausgeben für Reisen und Unterbringung. Sie arbeiten überall, | |
| bekommen gegen ihr Können und ihre Kraft einen Schlafplatz, Essen, manchmal | |
| Geld. | |
| Mich faszinieren Wandergesellen. Ich frage mich oft, was sie in die Fremde | |
| zieht. Was suchen sie? Von was wollen sie weg? Simon und Tobi bekommen in | |
| der „Domschänke“ eine Frikadelle zu essen und setzen ihren Hut ab. Simon | |
| einen Zylinder, Tobi eine Melone. „Wir ziehen unseren Hut vor dem Essen, | |
| vor dem, der Essen gibt. Aber vor keinem Kaiser, keinem König.“ | |
| Tobi und Simon tragen beide eine rote Krawatte, die sogenannte | |
| „Ehrbarkeit“. Sie gehören zum Schacht der „Fremden Freiheitsbrüder“, … | |
| sind Zimmermänner. Der Schacht ist eine Welt mit traditionellen Regeln, die | |
| vielleicht Struktur geben kann in der Zeit, in der sonst nichts feststeht: | |
| In den Jahren der Wanderschaft dürfen Wandergesellen nicht heim. Es gibt | |
| eine Bannmeile von mindestens 50 Kilometern nach Hause. Die dürfen sie | |
| nicht übertreten. Als würde ein imaginäre Grenze um die Heimat liegen. | |
| Gefangen in der Freiheit. „Warum dürft ihr nicht heim?“ „Um dem Zuhause | |
| nicht zu nahe zu kommen, um fremd zu bleiben. Damit man nicht eben schnell | |
| in die Gemütlichkeit der Heimat zurückgeht. Um über alle Hochs und Tiefs | |
| hinweg das Heimweh zu ertragen.“ | |
| Viele Wandergesellen reifen mit der Zeit, werden erwachsen draußen, altern | |
| auch, sehen nach den Wanderjahren anders aus. Das Leben auf der Walz ist | |
| hart: Kein Zuhause haben, manchmal draußen schlafen, wenn man nichts | |
| findet. Kameradschaft spielt eine große Rolle, auch das gemeinsame Trinken. | |
| Manche hören auch mit der Wanderschaft auf, weil sie es körperlich nicht | |
| schaffen. Doch Heimkehren ist schwer. Sich zu Hause fremd zu fühlen ist | |
| schwieriger, als in der Fremde fremd zu sein. Die anderen Wandergesellen | |
| begleiten den Heimkehrer das letzte Stück bis nach Hause. Dort muss er über | |
| das Ortsschild klettern. Es ist Arbeit, wieder zum „Einheimischen“ zu | |
| werden. | |
| Tobi und Simon sind noch nicht lange dabei, die Zeit hat sich noch nicht in | |
| ihren Gesichtern abgesetzt. Sie wirken voller Tatendrang. „Wir wollen | |
| überall das Handwerk lernen. Uns fremd fühlen. Erfahrungen machen, die man | |
| nur draußen macht.“ | |
| Es ist still in der Kneipe. Simon steht auf, er legt zehn Lieder frei in | |
| der Jukebox. Schlager erklingen. Die anderen lachen, als er zurückkommt. | |
| „Aber es passt doch hier zum Ort“, sagt er. Vielleicht lässt sie das | |
| durchkommen: Sich an den Ort anpassen, auch wenn sie sich durch die Kluft | |
| immer abgrenzen. Die Kluft ist auch anstrengend, manchmal unbequem. Aber | |
| Wandergesellen dürfen sie nicht ablegen. Eine frei gewählte Uniform. | |
| Die beiden erzählen, dass sie viel trampen. Sie waren in vielen Ländern | |
| Europas. „Was fällt euch auf bei den Menschen, wenn Ihr so rumkommt?“, | |
| frage ich. „Die meisten haben mehr, als sie brauchen. Aber viele sind so | |
| unzufrieden“, sagt Simon.„Und. Es kommt immer etwas. Auch wenn man denkt, | |
| man bekommt keine Übernachtung mehr. Zuletzt tut sich meistens etwas auf. | |
| Man muss nicht alles planen. Ich habe viele verrückte, schöne Begegnungen. | |
| Und ich habe die Erkenntnis gemacht. Die Menschen sind überall gut. Wer das | |
| erlebt hat, weiß, dass er überall zurechtkommen wird.“ | |
| Seitdem wirkt jeder Wandergeselle auch wie ein Trost. Ein Zeichen dafür, | |
| dass die Welt auch gut genug ist, um sie sich als einen fremden Ort zu | |
| wählen. | |
| 6 Sep 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Christa Pfafferott | |
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