# taz.de -- Wandernde Gesellen: Unterwegs auf der Walz | |
> Es ist eine altbackene Art des On-the-road-Seins. Aber sie findet bis | |
> heute unterschiedlichste neue AnhängerInnen. Und es gibt alte | |
> Platzhirsche. | |
Bild: Start in Hamburg: Aus dem Fotoalbum von Werner Kirscht. | |
Als Jessica Schober im August 2014 an der Autobahn steht, den Hut auf dem | |
Kopf, den Rucksack gepackt, wird sie nervös. Seit einem Jahr trägt sie den | |
Plan mit sich herum, und jetzt kommen ihr Zweifel. „Ich habe mir gesagt: | |
Wenn zehn Autos vorbeifahren und mich keiner mitnimmt, soll es nicht sein.“ | |
Die Idee hat sie von einer Bäckergesellin, die das machte, was die | |
Außenstehenden Walz nennen und die Wandergesellen Tippelei. Was sie | |
erzählte, klang auf altmodische Weise romantisch: Sie reiste nur zu Fuß | |
oder per Anhalter, sie zahlte kein Geld für Unterkünfte, schlief da, wo es | |
sich ergab und arbeitete da, wo sie landete. „Es ist leicht, mich zu | |
beeindrucken“, sagt die Journalistin Jessica Schober. „Die Walz wirkt | |
puristischer als plumpes Backpacken, ernsthafter, charakterbildender. Die | |
Tippelei ist eine Herzensbildung.“ | |
Da sie kein Handwerk gelernt hat, darf Jessica Schober allerdings nicht auf | |
richtige Walz gehen und keine Wandergesellin sein, trägt auch keine | |
Gesellenkluft. Jessica Schober arbeitet in Lokalredaktionen. In der | |
traditionsschweren Welt der Gesellen muss sie das immer wieder betonen; sie | |
nutze nur die Idee der Walz als Inspiration, sagt sie dann. Sie trägt den | |
Hut, der sie begleiten soll, drei Monate und einen Tag, wenn alles gut | |
geht. Doch an der Straße wird sie nervös. Zehn Autos fahren vorbei, und | |
natürlich nimmt sie keiner mit. Eigentlich wäre die Reise jetzt vorbei. | |
Jessica Schober ringt mit sich. Dann bleibt sie stehen. | |
## Von Stadt zu Stadt | |
Die Walz in Deutschland hat eine lange Geschichte. Es gab sie lange bevor | |
es diese bayerische Autobahn gab. Seit dem Spätmittelalter ziehen | |
Handwerkergesellen von Stadt zu Stadt, um ihre Arbeit bei unterschiedlichen | |
Meistern anzubieten. In einem von Fürstentümern zersplitterten Europa ist | |
der Wissensaustausch Voraussetzung für Fortschritt; erst mit der | |
Industrialisierung wird die Reise überflüssig, die Walz verliert an | |
Popularität. Dennoch ziehen junge Handwerker weiter los. | |
Im 19. Jahrhundert gründen sie die ersten Gesellenvereinigungen, sogenannte | |
Schächte, um sich vor Verfolgung zu schützen. Und als die politische | |
Verfolgung nach der NS-Zeit zumindest für westdeutsche Gesellen vorbei ist, | |
erlebt die Wanderschaft einen neuen Boom. Damals, 1955, als Werner Kirscht | |
loszieht. | |
Kirscht, der einzige Sohn einer Mannheimer Familie, soll in die Fußstapfen | |
des Vaters auf dem Bau treten. Doch den Jungen reizt das Abenteuer. „Ich | |
wollte andere Länder sehen“, sagt der heute 81-Jährige. „Man hatte solche | |
Möglichkeiten ja sonst nicht.“ Seine Familie ist dagegen. „Du mit deinen | |
Spinnereien“, sagt der Vater. Kirscht fühlt sich durch den Widerstand | |
bestärkt. Er zieht los, im Gepäck Kleidung für drei Monate, die ihm die | |
fürsorgliche Mutter eingepackt hat – am Ende ist er dreieinhalb Jahre | |
unterwegs. | |
## Was für ein Wunder die Welt | |
Werner Kirscht bereist Österreich und Italien, Frankreich und die Schweiz; | |
er arbeitet für zwei Mark Stundenlohn, schläft in Scheunen, malocht viel | |
und trinkt viel, schlägt sich trotz mangelnder Sprachkenntnisse durch. Und | |
er staunt. Als er mit einem Freund zu Fuß die Alpen überquert und auf die | |
Serpentinen blickt, denkt er sich, was für ein Wunder die Welt ist. | |
Es ist zunehmend die Einstellung von Leuten wie Werner Kirscht, die die | |
Tradition der Walz am Leben hält. Selbstverwirklichung und Reiselust | |
ersetzt pragmatischen Wissensaustausch; in den achtziger Jahren gründen | |
sich neue Schächte, die nun auch Frauen aufnehmen. Jetzt sind Gesellen | |
zudem auch ganz ohne Schacht unterwegs, als Freireisende. Die alten | |
Schächte aber halten an ihren Traditionen fest: Nur Männer dürfen in den | |
Schacht, Frauen, heißt es, lenken ab, und nach außen regiert | |
Geheimniskrämerei. Die Schächte haben häufig nicht mal eine | |
Internetpräsenz. Auch heute gilt: Wer zu ihnen will, muss sie finden. | |
Der Eisennagel ist heiß, bevor er Ansgar Wenning durchs Ohr geschlagen | |
wird. Es ist ein Abend im Jahr 2004 in einer Kneipe in Bargen bei | |
Schaffhausen. Mit einem gezielten Hieb schlägt der Geselle den Nagel durch | |
das Ohr des Neulings und weiter in die Tischkante. Schmerzen spürt Wenning | |
keine, dem präzisen Schlag und dem Alkohol sei Dank, aber los kommt er auch | |
nicht. „Ich musste dann erst mal an der Tischkante verharren.“ | |
## Eine Reisezeit von drei Jahren | |
Nageln heißt der Brauch, bei dem der Neuling im Schacht sein unfreiwilliges | |
Ohrloch bekommt – eine Erinnerung an mittelalterliche Zeiten, in denen | |
Gesellen einen Ohrring trugen, um ein mögliches Begräbnis bezahlen zu | |
können. „Bei Außenstehenden sorgen solche Sitten oft für großes Befremden… | |
sagt Wenning, befindet aber: „Da ist eine Menge Gaudi bei.“ Das Nageln | |
bedeutet seine Aufnahme in den Rolandschacht, einen der ältesten Schächte | |
Deutschlands. | |
Der Zimmermann Ansgar Wenning hatte eine Walz eigentlich nie in seinem | |
Lebenslauf vorgesehen. Über einen Lehrer an der Berufsschule erfährt er | |
durch Zufall von der Walz; zum Rolandschacht findet er über eine | |
Partybekanntschaft. „Die Unterschiede zwischen den Schächten waren mir gar | |
nicht klar“, sagt Wenning. Ihn reizt, wie so viele, vor allem das Reisen; | |
viel rumgekommen ist er bisher nicht. Aber auch im Schacht fühlt er sich | |
wohl: Die Geheimnistuerei, die alten Traditionen („wir schreiben uns noch | |
Briefe“), das Gemeinschaftsgefühl unter Männern, die althergebrachte Kluft. | |
Und die Ernsthaftigkeit: „Die sogenannte Ehrbarkeit, den blauen Schlips, | |
soll nicht jeder tragen dürfen“, sagt Wenning. | |
Bis heute stellt die Walz hohe Anforderungen an die Gesellen: Sie dürfen | |
sich ihrer Heimatstadt in einem Bannkreis von 50 bis 60 Kilometern nicht | |
nähern, müssen ohne Handy und Laptop auskommen, dürfen außer dem Flugzeug | |
keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Eine Reisezeit von drei Jahren | |
und einem Tag ist fast überall Pflicht. Außerdem tragen die Reisenden | |
traditionelle Kluft und müssen zig Regeln befolgen, nicht jede davon für | |
Außenstehende sinnig: In der Stadt etwa dürfen die Wandergesellen nicht | |
pfeifen, weil man das im Mittelalter ja auch nicht durfte. Wer das heute | |
noch auf sich nimmt? | |
500 bis 600 Gesellen sollen es in Deutschland sein, etwa zehn Prozent davon | |
Frauen. So ganz genau weiß das keiner, denn mittlerweile sind viele | |
Gesellen als Freireisende ohne Schacht unterwegs. Oder lassen sich einfach | |
nur von der Idee inspirieren, wie Jessica Schober. | |
## Verschlossene Welt der Gesellen | |
Schober ist fasziniert, dass sie tatsächlich damit durchkommt – vor allem | |
dank der Hilfsbereitschaft von Menschen. „Es sind ständig total absurde | |
Sachen passiert.“ In Ingolstadt schenkt ihr jemand spontan ein Fahrrad; als | |
das Rad dann einen Platten hat, kommt jemand um die Ecke und fragt, ob er | |
den Reifen flicken darf. Einmal wird sie von einem wildfremden Paar, das | |
gerade mit seiner Firma insolvent gegangen ist, ins Vier-Sterne-Hotel | |
eingeladen. | |
„Die Menschen, die schon mal etwas verloren haben, geben mehr“, merkt | |
Schober. Sie genießt diese Tage, die immer anders verlaufen. Es ist die | |
Reiseromantik, von der sie geträumt hat. Gleichzeitig realisiert sie, dass | |
nicht alles eitel Sonnenschein ist. „Man romantisiert die Tippelei total. | |
An gewissen Stellen gibt es dann Ernüchterung.“ Wer später von seiner Walz | |
schwärmt, erzählt eher selten, wie er unter der Brücke gefroren hat oder in | |
der Sparkassenfiliale pennen musste. | |
Auch der verschlossenen Welt der echten Gesellen nähert sich Schober. Ein | |
Stück weit bleibt ihr diese Welt dennoch immer fremd – vor allem die | |
Ablehnung gegenüber reisenden Frauen, von der ihr einige Wandergesellinnen | |
erzählen. Schlecht machen will sie die Schächte trotzdem nicht. „Manche | |
assoziieren die Walz mit der rechts-konservativen Ecke, dabei ist sie das | |
genaue Gegenteil: Sie kommt aus der Arbeiterbewegung.“ Die Gesellen seien | |
so verschieden wie alle Menschen. Und damit ihre Walz. Mancher bleibt, wie | |
Jessica Schober, nur in Deutschland. Und für manchen ist das Heimatland nur | |
der Anfang eines wachsenden Fernwehs. | |
Der Zimmermann Ansgar Wenning beschließt, das mit dem Reisen auszukosten. | |
Und er will dabei lernen. Während er durch Deutschland trampt und arbeitet, | |
besucht er überall Kirchen und Museen. „Viele Leute kennen ihr eigenes Land | |
nicht“, sagt er. Anschließend zieht er ins Ausland weiter, besucht Länder | |
von Norwegen bis Namibia. Eines Tages fragt ihn ein namibischer Bauer, ob | |
er auf seiner Farm etwas zimmern könne. Wenning ist stolz. „Ich war | |
plötzlich der Fachmann“, sagt er. „Da habe ich gemerkt: Ich kann was | |
bewegen.“ | |
## Heimkommen ist schwer | |
Und noch etwas ändert sich: Er, der Großstadtmensch, der in Frankfurt | |
aufgewachsen ist, distanziert sich auf der Reise von der Metropole. „Ich | |
habe gemerkt, dass ich mich auf dem Land viel wohler fühle.“ Am Ende wird | |
er nicht mehr in die Großstadt zurückziehen. | |
Heimkommen ist schwerer als losgehen, sagt ein Gesellensprichwort. Werner | |
Kirscht kehrt nach seiner Reise in den fünfziger Jahren nicht mehr zu | |
seiner Familie zurück. Er geht nach Leipzig – und ahnt nicht, dass der | |
Mauerbau ihn bald für immer von seinen Eltern trennen wird. Der Walz bleibt | |
er stets verbunden, schreibt ein Buch über sein Abenteuer und wird 45 Jahre | |
später die Route noch einmal mit seiner Frau bereisen. Noch einmal in den | |
Alpen wandern und noch einmal staunen. | |
Auch Ansgar Wenning erlebt einen Umbruch: Er hat bei der Tippelei seine | |
spätere Lebensgefährtin kennengelernt, die nun auf ihn wartet. Wenning wird | |
mit ihr sesshaft, arbeitet als Zimmermann und macht nebenbei für die | |
Rolandsbrüder den Pressesprecher. Zu Hause schaut er jetzt gerne | |
Quizsendungen im Fernsehen, am liebsten die mit Kulturfragen. Und genießt | |
es, wenn seine Frau fragt: „Woher weißt du das alles?“ | |
Auch Jessica Schober ist eine Reisende geblieben. Einen festen Wohnsitz zu | |
haben, fällt ihr nach der Wanderschaft schwer. Sie fühle sich ernüchtert | |
vom Alltagsleben, dem Dasein als Otto-Normal-Verbraucher. Momentan tourt | |
sie mit einem Bus durch Europa. Den Hut, mit dem sie aufgebrochen ist, | |
trägt sie immer noch. „Es würde sich komisch anfühlen ohne Hut.“ | |
25 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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