| # taz.de -- Wandertheater in Oldenburg: Pilgerreise in die Zeit nach dem Burn-o… | |
| > Die theatrale Wanderung „Gehenlassen“ wagt einen Blick die Zukunft nach | |
| > der Arbeitswelt. Dabei erscheint vollkommen absurd, was wir so | |
| > wegarbeiten | |
| Bild: Die Zukunft nach der klassischen Arbeitswelt, inszeniert vom Kollektiv �… | |
| Oldenburg taz | In Wanderschuhen, mit Regenjacken und Rucksäcken warten 20 | |
| Menschen vor dem Staatstheater Oldenburg. Sie sehen aus wie eine | |
| Reisegruppe an ihrem Treffpunkt. Und irgendwie sind sie das auch, obwohl | |
| sie für das hier ordnungsgemäß Eintrittskarten an der Theaterkasse gekauft | |
| haben. „Gehenlassen. Die Wanderung in ein Leben nach der Arbeit“ heißt die | |
| neueste Inszenierung des Theaterkollektivs „Fräulein Wunder AG“ aus | |
| Hannover für das Staatstheater. Statt hinein und auf die Ränge geht es | |
| hinaus auf eine Wanderung,zwölf Kilometer durch Oldenburg, fünf Stunden | |
| lang. Wohin genau weiß keiner der – Zuschauer? Nein, Wanderer. | |
| Alles beginnt wie ein Ausflug: Ein Mann in Warnweste verteilt Lunchpakete, | |
| gibt Verhaltenshinweise. „Heute geht es irgendwohin, wo wir nichts kennen“, | |
| sagt jemand. Dann ziehen drei Frauen in futuristisch-poppigen Overalls | |
| einen Wagen um die Ecke, auf den eine ausgemusterte Büroeinrichtung | |
| gestapelt ist. Sie sind die Reiseleiterinnen aus der Zukunft, die mit der | |
| Gruppe in das Jahr 2064 wandert. In eine „Zukunft nach der Arbeit“, wie sie | |
| ankündigen, um auf das „System der 2010er Jahre“ zurückzublicken. Sie | |
| wollen an diese „Zeit der Selbstausbeutung“ erinnern, sprechen von „still… | |
| Gedenken“ daran. | |
| Begleitet von diesen großen Worten geht es schweigend auf die ersten Meter | |
| der Zeitreise. Mitten durch die Fußgängerzone und an starrenden Menschen | |
| vorbei zieht die Karawane. Man fühlt sich tatsächlich aus der Zeit | |
| genommen. Die sonst gewohnte Umgebung wirkt dadurch surreal. | |
| 20 Minuten später, in der Zukunft angekommen, erklären die Reiseleiterinnen | |
| die Stadt zum „Freilichtmuseum der alten Arbeitswelt“, durch das nun | |
| „ExpertInnen des Alltags“ führen. Straßenzüge und Läden werden zu | |
| Ausstellungsstücken aus einer Zeit, in der die Balance zwischen Leben und | |
| Arbeit fehlte. So geht es weiter durch die Stadt. Industriegebäude sind | |
| Sinnbild für veraltete Strukturen und Ausbeutung, eine Bankzentrale wird | |
| zum Mahnmal für das gescheiterte Wirtschaftssystem. | |
| „Zeitzeugen“ erzählen an verschiedenen Orten von ihrem „damaligen“ | |
| Arbeitsleben und von den Brüchen in ihrer Karriere. Vom Scheitern an | |
| starren Arbeitsroutinen ist die Rede. Vom Zusammenprall persönlicher Werte | |
| und der Realität des Arbeitsalltags. Von Wut, Erschöpfung und Burn-out. Vom | |
| „Fall aus dem Zug der Arbeit“, gefolgt von Identitätsverlust. Die | |
| Zeitzeugen erzählen auf ehrliche Weise davon. Keine Spur von Scheu oder | |
| Scham, weil das Scheitern am Arbeitssystem „damals“ noch einen Makel | |
| dargestellt hatte. | |
| Auch die Wanderer scheinen diesen Gedanken nicht zu haben. Mal im Gehen, | |
| mal versammelt in einer Seitengasse oder auf einem Grünstreifen, hören sie | |
| jedem still und respektvoll zu. Und irgendwie auch bedrückt, weil sie die | |
| Erschöpfung, von der oft die Rede ist, selbst spüren. Körperlich, weil sich | |
| die gelaufenen Kilometer bemerkbar machen – einige verarzten Blasen an | |
| ihren Füßen. Und geistig, weil die Geschichten belasten. Vielleicht, weil | |
| sie wahr sind. | |
| Die Zeitzeugen sind Menschen aus Oldenburg, die erlebt haben, was sie | |
| erzählen. Melanie Hinz und Verena Lobert, zwei der Reiseleiterinnen und | |
| gleichzeitig verantwortlich für das Konzept, haben sie vorab gecastet und | |
| mit ihnen geprobt. Distanz zu halten ist also schwierig. Das hier ist nicht | |
| „nur“ ein Theaterstück, sondern die Konfrontation mit Auszügen aus | |
| gelebter, wahrer Arbeitswelt. Sie machen deutlich: Die Grenzen des | |
| Wachstums und der menschlichen Leistungsfähigkeit waren erreicht. Und in | |
| Gedanken ersetzt man das „war“ durch ein „ist“. | |
| Reiseleiterinnen wie ExpertInnen lassen immer wieder durchblicken, dass im | |
| Jahr 2064 andere Verhältnisse herrschen. Selbstoptimierung, 60 | |
| Stunden-Wochen und der Burn-out als „soziale Epidemie“ liegen zurück, | |
| erfahren die Wanderer. Aus der Zukunft heraus betrachtet ändert sich | |
| buchstäblich Schritt für Schritt der Blick der Teilnehmer auf das | |
| Arbeitssystem. Das eigene Verhalten und Teile des Systems wirken bald | |
| absurd bis mörderisch. | |
| Deswegen haben Hinz und Lobert die Wanderung als Form für die Inszenierung | |
| gewählt, sagen sie. Wandern könne Erkenntnis stiften und ein Training in | |
| Loslassen sein. Gehen als Denkhilfe. Sie verweisen auf Pilger, die seit | |
| Jahrtausenden auf Wanderschaft gehen, um mit sich selbst ins Gespräch und | |
| mit anderen in den Austausch zu kommen. | |
| Beides entsteht tatsächlich im Laufe der Tour. Einerseits fordert das Team | |
| es ein. Mitten im Gehen wird man mit der Frage „Und wie haben Sie den | |
| damaligen Wandel erlebt?“ aus den Gedanken gerissen. Das rüttelt auf, ist | |
| aber auch ungewohnt. Andererseits fangen die Wanderer ganz von selbst an, | |
| sich gegenseitig aus ihrem Arbeitsleben zu erzählen. Das ist mal | |
| ernüchternd, mal berührend. | |
| Bleibt noch die Frage nach dem Ausweg. Was passiert nach der Zäsur, die der | |
| Kollaps darstellt? Wie sieht die Welt nach dem Ende des alten | |
| Arbeitssystems aus? Die theatrale Pilgerreise endet auf einem Hügel mit | |
| Blick auf die Stadt. Reiseleiterinnen und ExpertInnen schauen noch einmal | |
| zurück und wagen den Ausblick auf die Utopie, die folgen könnte. | |
| Die Fräulein Wunder AG will „Gemeinschafts- und Erfahrungsräume“ | |
| erschaffen. Das Kollektiv ist bekannt für seinen Ansatz, | |
| gesellschaftspolitische Themen in experimentelle Theaterformate zu | |
| übersetzen. Beides ist ihnen mit „Gehenlassen“ gelungen. Zwar droht die | |
| Mischung aus Pilgertour, Diskussionsforum und Theater zu lang zu werden. | |
| Der Wechsel der Formate rettet aber aus dem Konditionstief. „Gehenlassen“ | |
| bereichert um neue Perspektiven und um die Erkenntnis, dass der lineare | |
| Karriereweg eine Illusion ist. | |
| 1 Jun 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Manuela Sies | |
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