# taz.de -- Freies Theater: Die schnellen Brüter | |
> Im Umfeld der Universität Hildesheim ist eine der lebendigsten Szenen des | |
> freien Theaters in Deutschland entstanden. | |
Bild: Maskierte Menschen vorm Altar: Die Inszenierung "Polis 3000: Oratorio" is… | |
HILDESHEIM taz | Hildesheim ist eine eigenartige Stadt. Knapp 100.000 | |
Einwohner, 30 Kilometer vor Hannover, katholisch-konservativ, von außen | |
betrachtet unauffällig, aus der Innenperspektive verschlafen. In | |
Süddeutschland kennt niemand Hildesheim, im hohen Norden fast niemand. | |
Aber es gibt zwei Bereiche, in denen Hildesheim in einem Atemzug mit | |
Metropolen genannt wird. Der erste Bereich ist die ägyptische Sammlung des | |
Hildesheimer Roemer- und Pelizaeus Museums: Sie gilt neben den Sammlungen | |
in Boston und Kairo als eine der weltweit bedeutendsten. | |
Der zweite Bereich ist die freie Theaterszene der Stadt. Die hat den Ruf, | |
neben den Szenen von Berlin und Gießen eine der drei wichtigsten | |
Brutstätten des freien Theaters in Deutschland zu sein. | |
Den guten Ruf der Hildesheimer bestätigt einmal mehr [1][das Festival Best | |
Off], das kommende Woche in Hannover läuft. Die Festivaljury begutachtete | |
69 Produktionen freier niedersächsischer Theater. Sechs davon wurden für | |
das Festival ausgewählt. | |
## Die Uni als Inkubator | |
Fünf der sechs ausgewählten Inszenierungen gehen aus der Hildesheimer Szene | |
hervor: „Ein Bankett für Tiere“ (Fräulein Wunder AG), „Hörst du Rot?“ | |
(Kassetten Kind), „Polis 3000: Oratorio“ (Markus & Markus), „Tears in | |
Heaven“ (Vorschlag Hammer) und „Soldaten“ (Werkgruppe 2). | |
Ausgebildet hat sich die Hildesheimer Szene über Jahre hinweg an der | |
[2][dortigen Universität]. In den Studiengängen Kulturwissenschaften und | |
ästhetische Praxis sowie Szenische Künste werden zeitgenössische | |
Theaterästhetiken nicht nur erforscht, sondern selbst entwickelt. | |
Inspiriert vom Studium gründen sich außerhalb der Universität | |
Theatergruppen und beginnen, in freien Strukturen zu arbeiten. „Frei“ | |
bedeutet: Alle Beteiligten entwickeln gemeinsam ein Stück, das ein | |
aktuelles Thema behandelt. Die Texte und Fakten werden selbst recherchiert | |
und zusammengestellt. | |
## Glücksfall für Niedersachsen | |
Es gibt flache bis gar keine Hierarchien und keine klassische | |
Aufgabentrennung in „Regisseur“, „Dramaturg“ oder „Schauspieler“. D… | |
Aufführungen finden nicht an einem festen Haus statt, sondern an mehreren | |
Häusern oder an besonderen, oft theaterfernen Orten wie Schwimmbädern, | |
Kasernen oder Müllkippen. | |
Für Niedersachsen ist die Hildesheimer Brutstätte in mehrerer Hinsicht ein | |
Glücksfall. Als zweitgrößtes deutsches Flächenland steht es kulturpolitisch | |
vor der Aufgabe, nicht nur Highlights in den Großstädten, sondern auch | |
Teilhabe in den vielen kleinen Städten und Gemeinden zu ermöglichen. | |
Die freien Theater bringen die Flexibilität mit, in beiden Zusammenhängen | |
zu arbeiten. Gerade auf dem Land können sie mit Stücken, die einen lokalen | |
Bezug haben, sehr erfolgreich Theater machen. | |
Ein Beispiel dafür ist das Projekt „Auf Probe – Alltagsutopien für das | |
Braunschweiger Land“: Die Bürger Braunschweigs und des Braunschweiger | |
Umlands formulierten ihre Wunschvorstellung vom Leben in der Region. Sechs | |
ausgewählte freie Gruppen – davon vier aus Hildesheim – sollten aus den | |
Ergebnissen Theaterstücke machen. Die nächste Premiere ist die „Konferenz | |
der Utopisten“ der Fräulein Wunder AG am 8. November in Braunschweig. | |
## Entvölkerte Landstriche | |
Ein weiteres zentrales Thema der niedersächsischen Kulturpolitik ist der | |
demografische Wandel. Insbesondere im südlichen Niedersachsen wird | |
befürchtet, dass sich ganze Landstriche entvölkern, wenn keine Kinder mehr | |
geboren werden und junge Leute auf der Suche nach Arbeit zunehmend | |
abwandern. Die Folge ist eine sich selbst verstärkende Ödnis auf dem Land. | |
Auch dagegen können die freien Theater helfen. | |
Gut 100 freie Gruppen gibt es in Niedersachsen, das ist beim Landesverband | |
der freien Theater in Niedersachsen zu erfahren. Das Land fördert dieses | |
Jahr rund 40 freie Produktionen und unterstützt rund zehn Theater mit einer | |
„Konzeptionsförderung“, die den Theatern über maximal drei Jahre | |
Planungssicherheit ermöglicht. | |
Insgesamt 1.111.000 Euro gibt Niedersachsen dieses Jahr dafür aus, damit | |
steht es nach einer Einschätzung des Landesverbands der freien Theater | |
bundesweit etwa im oberen Mittelfeld. | |
Daneben gibt es für die freien Gruppen in Niedersachsen die Möglichkeit, | |
über Stiftungen an Fördergelder zu kommen. Eine davon ist die Stiftung | |
Niedersachsen, die beispielsweise jede Gruppe, die sie für das Festival | |
Best Off ausgewählt hat, mit 10.000 Euro fördert. Auf dem Festival selbst | |
wird dann zusätzlich eine Jury eine Inszenierung auswählen, die weitere | |
5.000 Euro erhält. | |
Auf Bundesebene gibt es zudem millionenschwere Förderprogramme wie den | |
„Doppelpass“ der Kulturstiftung des Bundes: Gefördert werden Projekte, die | |
freie Gruppen zusammen mit Stadt- oder Staatstheatern durchführen. Dabei | |
treffen zwangsläufig zwei völlig verschiedene Produktionsweisen | |
aufeinander. Das Ziel des Förderprogramms ist, dass sich beide Seiten | |
gegenseitig inspirieren. | |
Aktuell erarbeitet die Werkgruppe 2 zusammen mit dem Staatstheater | |
Braunschweig die Produktion „Fliehkräfte“, in der es um die Braunschweiger | |
Abschiebepraxis von Flüchtlingen und die zugleich gewünschte Zuwanderung | |
etwa von Altenpflegerinnen geht. | |
## Der Sog Berlins | |
Trotz aller Anstrengungen läuft Niedersachsen wie alle anderen Bundesländer | |
Gefahr, seine freien Künstler früher oder später an Berlin zu verlieren. | |
Die Hauptstadt lockt nicht nur mit einer internationalen Szene, sondern | |
auch mit vergleichsweise üppigen Fördertöpfen. Auch was den Berliner Sog | |
betrifft, profitiert Niedersachsen von der Universität Hildesheim: | |
Dort lernen die jungen Theatermacher nicht nur, wie man ein Stück auf die | |
Bühne bringt, sondern auch, wie man eine Finanzierung auf die Beine stellt. | |
Oft arbeiten sie nach dem Studium mit der zu Studienzeiten gewonnenen | |
Routine weiter in Niedersachsen, anstatt sofort nach Berlin zu wechseln, | |
wie es etwa die rein künstlerisch ausgebildeten Theatermacher aus Gießen in | |
der Regel tun. | |
## Nachwuchs für Baden-Württemberg | |
Einen Spitzenplatz im Ranking der öffentlichen Förderung nimmt übrigens | |
Baden-Württemberg ein. Das Land hat zwar Geld, aber keine Ausbildungsstätte | |
für freie Theaterschaffende – und somit ein Nachwuchsproblem. Mittlerweile | |
gibt es Hildesheimer, die das erkannt haben und auch in Baden-Württemberg | |
Theaterprojekte machen. | |
Ein Beispiel ist der Verein Theater in den Bergen, den die Hildesheimer | |
Arnd Heuwinkel und Antonia Tittel gegründet haben: Sie machen im | |
Südschwarzwald ein opulentes Landschaftstheater unter Beteiligung der | |
Bevölkerung. Das Vorbild dafür lieferten die Heersumer Sommerspiele, die | |
wiederum 1990 ins Leben gerufen wurden – von Studierenden der Uni | |
Hildesheim. | |
## ■ Best Off – Festival Freier Theater: 24. bis 26. Oktober, Hannover, | |
Ballhof | |
## ■ Der Autor hat selbst an der Uni Hildesheim studiert. Theaterbühnen | |
kennt er allerdings nur aus der Zuschauerperspektive | |
20 Oct 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://www.stnds.de/ | |
[2] http://www.uni-hildesheim.de | |
## AUTOREN | |
Klaus Irler | |
## TAGS | |
Theater | |
Dokumentartheater | |
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