# taz.de -- Sommer im Museum (II): Das lange Schweigen auf dem Land | |
> Im ostholsteinischen Ahrensbök hatten die Nazis 1933 eines der ersten | |
> Konzentrationslager errichtet. Die Initiative Gruppe 33 eröffnete dort | |
> eine Gedenkstätte. Eine Dauerausstellung beschäftigt sich mit dem | |
> Todesmarsch von Auschwitz nach Holstein. | |
Bild: Mühevolle Aufarbeitung: Dieses Schild des örtlichen Allgemeinmediziners… | |
Sie ist so unscheinbar, dass man fast an ihr vorbeifährt - an der alten | |
Villa, kurz hinter dem ostholsteinischen Städtchen Ahrensbök, auf der | |
Strecke nach Scharbeutz. Erbaut wurde sie 1883 und fungierte zuerst als das | |
Direktionsgebäude der damaligen Zuckerfabrik. Ein Ort mit wechselnder | |
Geschichte - wie man so sagt. Hier wurde im Oktober 1933 eines der ersten, | |
so genannten wilden, Konzentrationslager Schleswig-Holsteins errichtet. Der | |
Eutiner NS-Statthalter, SA-Standartenführer Johann Heinrich Böhmcker ließ | |
vorzugsweise Sozialdemokraten und Gewerkschafter inhaftieren. Aber auch der | |
Direktor einer örtlichen Fabrik, dem die Nazis zu ungehobelt und zu ordinär | |
daherkamen, landete hier. | |
Doch über dieses erste Lager zu informieren, ist nur ein Teil dessen, was | |
sich die Gruppe 33 vorgenommen hat, die hinter der Gedenkstätte Ahrensbök | |
steht: Denn in der Villa waren später sowohl belgische wie russische | |
Zwangsarbeiter untergebracht worden. Kurzzeitig war hier auch die | |
Ahrensböker Realschule angesiedelt, weshalb die Initiative besonders über | |
das regionale NS-Schul- wie Erziehungssystem forscht. | |
Und noch eine Frage stellt sich die Gruppe 33: Wie sind die Ahrensböker mit | |
dem Konzentrationslager im Ort seinerzeit und später umgegangen? Denn als | |
das Lager Ende 1933 eröffnet wurde, berichtet auch die örtliche Tagespresse | |
darüber. Und auch sonst müssen die Ahrensböker gut informiert gewesen sein. | |
Monika Metzner-Zinßmeister, Vorsitzende des Trägervereins, zeigt auf ein | |
Foto, auf dem Männer in weißen Drillichen, den Spaten geschultert, mitten | |
durch Ahrensbök marschieren. | |
Obwohl die Existenz des Lagers im Ort kein Geheimnis war, wurde die | |
Initiative Gruppe 33 mit Zeitzeugenberichten nicht gerade bedrängt, | |
erinnert sich Metzner-Zinßmeister. Sogar Angehörige von ehemaligen | |
Häftlingen hielten sich lange Zeit bedeckt: "Für die Menschen hier in der | |
Gegend bedeutet die Tatsache, dass einer aus ihrer Familie in diesem KZ | |
war, noch heute einen Makel." | |
So habe sich vor kurzem eine ältere Dame bei der Gedenkstätte gemeldet. | |
Erst nach langen Umschreibungen rückte sie damit heraus, dass ihr Vater in | |
diesem KZ gewesen sei. Am Ende des Gespräches sagte sie dann: "Jetzt ist es | |
endlich raus." Metzner-Zinßmeister konnte spüren, wie erleichtert die Frau | |
war, jemandem davon erzählt zu haben. | |
Aber es gibt noch ein anderes Thema, bei dem die Initiative auf großes | |
Schweigen stößt: Den Todesmarsch von Auschwitz nach Holstein im Frühjahr | |
1945. "Wir haben hier in Ahrensbök ganz massiv den Anfang und das Ende der | |
NS-Zeit vor uns zu liegen", sagt die Initiativen-Sprecherin. Der Marsch ist | |
eng mit Max Schmidt verknüpft, einem Bauernsohn aus der Gegend. Jahrgang | |
1920, wird Schmidt Mitglied der SS, lässt sich nach Auschwitz versetzen und | |
wird mit 24 Jahren der Kommandant des Außenlagers Fürstengrube. Als dieses | |
im Januar 1945 aufgelöst werden soll, organisiert Schmidt den Todesmarsch | |
von rund 1.300 meist jüdischen Häftlingen nach Holstein. | |
Die Todesstrecke führt über Österreich, nach Mittelbau-Dora im Harz, weiter | |
nach Magdeburg, wo die Häftlinge, die die bisherigen Torturen überlebt | |
haben, in ein Schiff verfrachtet werden. Es geht nach Lübeck, von dort zu | |
Fuß bei Eiseskälte weiter Richtung Ahrensbök. Immer kleiner wird die | |
Gruppe. In einer Scheune in Glasau und in einer bei Siblin werden die | |
wenigen Überlebenden zusammengepfercht. Schmidt selbst nimmt ein paar | |
Häftlinge mit - auf den väterlichen Bauernhof. Doch das Grauen ist noch | |
nicht zu Ende: Noch einmal werden die Häftlinge zusammengetrieben, werden | |
in Neustadt an Bord der Cap Arcona gebracht - die die Briten bombardieren | |
werden. | |
Schmidt ist für diesen Marsch nie belangt worden. 1964 wird am Kieler | |
Landgericht ein Verfahren gegen ihn eröffnet, 15 Jahre lang wird ermittelt. | |
1979 wird er freigesprochen: Wenn, dann seien seine Taten als Totschlag zu | |
bewerten - und damit verjährt. Kopien der Anklageschrift, Kopien der | |
damaligen Urteilsverkündung hängen in der Gedenkstätte Ahrensbök unter den | |
Texttafeln zu seiner Person. | |
"Als wir hier anfingen mit der Gedenkstättenarbeit, hat Max Schmidt noch | |
gelebt; als ehrbarer Bürger", sagt Monika Metzner-Zinßmeister. Deswegen | |
hätten sie auch nur ein kleines Foto von ihm gezeigt: "Auch, um seine | |
Enkelkinder nicht zu belasten." Dabei klingt kurz durch, dass hier auf dem | |
Lande, wo jeder jeden kennt, wo einer auch nach 30 Jahren noch ein Fremder, | |
ein Zugezogener bleibt, andere, ungeschriebene Gesetze gelten als in der | |
Stadt. Wohl deshalb erzählt die Ahrensböker Gedenkstätte immer auch davon, | |
wie mühevoll es war, die eigene Geschichte aufzuarbeiten. | |
Die Angst vor der Aufarbeitung kommt in den gesammelten Zeitzeugenberichten | |
durch, die oft im selben Tenor geschrieben sind: "Ja, ich habe als Kind im | |
April 45 die Toten am Straßenrand gesehen; habe gesehen, wie Häftlinge | |
schwer misshandelt wurden, aber meine Eltern haben mit mir darüber kein | |
Wort geredet", berichtet ein Bewohner. Die Ahrensböker haben lange | |
gebraucht, sich über dieses Schweigen hinwegzusetzen. "Jetzt kommen die | |
Leute, weil sie endlich reden möchten", sagt Metzner-Zinßmeister. | |
Reden will zum Beispiel der heutige Besitzer der Scheune in Glasau, der | |
einen Gedenkstein aufstellen ließ, als er erfuhr, was sich in der Scheune | |
zugetragen haben muss. Er lud sogar Überlebende des Todesmarsches ein. Die | |
Begegnung mit ihnen sei eine der wichtigsten seines Lebens gewesen, wird er | |
in der Ausstellung zitiert. Und es gibt Jörg Wollenberg, der damals als | |
Achtjähriger fassungslos am Straßenrand stand und der als Historiker zwei | |
Grundlagenwerke über Ahrensbök in der NS-Zeit verfasst hat. | |
Monika Metzner-Zinßmeister zufolge kommen immer mehr Schulklassen in die | |
Gedenkstätte, um sich zu informieren, Projekte zu starten, zu forschen - | |
und mitzuarbeiten. Die Schüler seien eine große Stütze für die Arbeit des | |
Vereins: ideell und ganz praktisch. Mal haben sie Wände verputzt, mal das | |
Fundament abgedichtet, mal Stelen gegossen und sie an markanten Stellen | |
zwischen hier und Lübeck aufgestellt - die erste dort, wo die Häftlinge | |
wieder an Land gingen, im Lübecker Industriehafen, noch mitten in der | |
Stadt. | |
"Ja, wir sind spät dran", sagt sie. Aber es sei nun mal so, dass die | |
Regionalgeschichte der NS-Zeit erst seit wenigen Jahren gründlich erforscht | |
wird; dass viele der Zeitzeugen nicht mehr leben oder zu betagt seien, um | |
noch reisen und von ihrem Leiden erzählen zu können. "Das alles ist hier | |
erbettelt", sagt sie und zeigt auf die Regale, die Schreibtische, den | |
Computer. | |
Und doch gebe es in der Gegend mittlerweile echte Unterstützer: Die | |
örtliche Sparkasse gehört dazu, einige Kirchengemeinden sind Mitglied im | |
Förderverein. Im vergangenen Jahr waren sogar Polizeischüler aus Eutin da. | |
Alles sehr interessierte und aufgeschlossene junge Leute, wie | |
Metzner-Zinßmeister sagt. Sie hatten Geld gesammelt und einen Scheck | |
mitbracht - und Zeit. | |
Die Arbeit des Vereins sei mühsam, aber es gehe voran. Monika | |
Metzner-Zinßmeister weist in den Garten: "Nächste Woche", sagt sie, "da ist | |
hier ein Sommerlager, da tobt das Leben." Sie setzt sich in ihr Auto, fährt | |
vom Grundstück und für einen kurzen Moment ist es so still, wie es nur auf | |
dem Lande still sein kann. Bis nach hier draußen soll man 1933 die Schreie | |
gehört haben - die Schreie aus der Verhörzelle unten im Keller, der gerade | |
trockengelegt wird. | |
Gedenkstätte Ahrensbök, Flachröste 16, Ahrensbök, Besichtigung Sonntags 14 | |
bis 18 Uhr und nach Vereinbarung, Infos unter: 045 25 / 493 060. | |
www.gedenkstaetteahrensboek.de | |
27 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |