# taz.de -- Das Handwerk in der Krise: „Sechs Nacktbild-Kalender“ | |
> Zum Tag des Handwerks berichten drei Frauen von ihren Erfahrungen. Fazit: | |
> Die Branche muss sich radikal verändern, wenn sie eine Zukunft haben | |
> möchte. | |
Bild: Deutsches Handwerk: sexistische Kommentare, die sich manchmal bis zu Mord… | |
## Yantin Fleischhauer, 24, Tischlerin in Leipzig | |
Ich bin Tischlerin und habe vor einem Jahr meine Ausbildung abgeschlossen. | |
Ich mag es sehr, mit Holz zu arbeiten. Dass ich jetzt den Abschluss habe, | |
war nicht gerade einfach. Denn mir ist schon zu Beginn der zweijährigen | |
Ausbildung aufgefallen, dass hier etwas gewaltig schief läuft. | |
In meiner Berufsschule herrschte ein autoritärer und respektloser Ton. | |
Besonders schlimm fand ich die sexistischen und rassistischen Vorfälle. Ein | |
Lehrer witzelte, dass es einfacher wäre, mit einem Schlagstock | |
durchzugreifen, und Schüler*innen mit Migrationshintergrund wurden | |
regelmäßig diskriminiert, weil sie etwa die Aufgaben nicht direkt | |
verstanden, auch das N-Wort wurde benutzt. Die Lehrmaterialien sind voller | |
Stereotype, man fühlt sich wie in den 50ern: Männer sind immer die aktiven | |
Handwerker, während Frauen im Hintergrund oder am Herd zu sehen sind. | |
Als eine von wenigen weiblich gelesenen Personen an meiner Schule fühlte | |
ich mich oft allein. Ich war am Ende meiner Ausbildung die einzige in | |
meiner Klasse von zwanzig Auszubildenden. Ich finde es super frustrierend, | |
dass [1][FLINTA-Personen] im Handwerk immer noch eine Seltenheit sind. | |
Auch in meinem Betrieb war es nicht einfach. Ich musste ständig dafür | |
kämpfen, dass ich überhaupt Arbeiten machen durfte, bei denen ich etwas | |
lernen konnte, anstatt nur zu fegen oder zu streichen. Betriebe werden | |
nicht genügend geprüft, ob sie überhaupt die nötige Voraussetzung erfüllen, | |
Azubis eine anständige Ausbildung zu bieten. Ich hätte fast hingeschmissen, | |
aber bin jetzt froh, dass ich nicht aufgegeben habe. Auf einem bundesweiten | |
Tischler*innentreffen vor zwei Jahren traf ich auf viele andere | |
FLINTA-Personen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Da ist mir zum | |
ersten Mal richtig klar geworden: Das, was ich erlebe, ist kein Einzelfall. | |
Wir haben uns dann schon auf dem Treffen entschieden, [2][das Azubihilfe | |
Netzwerk] zu gründen, um andere Auszubildende zu unterstützen und uns | |
gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen im Handwerk starkzumachen. | |
Im Fokus stehen marginalisierte Gruppen, wie etwa FLINTA-Personen oder | |
Menschen mit Behinderung. Wir bieten unabhängige Beratung und rechtlichen | |
Beistand. Dinge, die die Handwerkskammern uns Azubis leider nicht | |
ausreichend bieten. Es ist wichtig, dass wir alle unsere Rechte kennen, | |
denn oft werden wir von den Betrieben als billige Arbeitskräfte | |
ausgebeutet. Viele verdienen in der Ausbildung kaum genug zum Leben und | |
sind in Abhängigkeit von ihren Betrieben gefangen. Ich habe zum Beispiel in | |
meiner Ausbildung nur rund drei Euro die Stunde verdient. | |
Eine unserer zentralen Forderungen ist, dass Lehrkräfte | |
diskriminierungssensible Schulungen bekommen. Wir brauchen mehr | |
Mitspracherecht in den Betrieben und gerechte Entlohnung. Außerdem fordern | |
wir, dass unser Netzwerk finanziell gefördert wird, damit wir unsere Arbeit | |
fortsetzen können. Aktuell arbeiten wir alle ehrenamtlich, aber es wird | |
immer deutlicher, dass der Bedarf sehr groß ist. | |
## Louisa Kolzau, 28, Bootsbauerin aus Usedom | |
Die Ausbildung, die ich gerade mache, ist super vielfältig. Wir bauen Boote | |
neu, oder restaurieren alte. Besonders cool finde ich, dass ich | |
hauptsächlich mit Holz arbeite, aber es gibt auch Metall- und | |
Kunststoffarbeiten, je nach Betrieb. Bei uns in der Werft machen wir oft | |
Workshops, in denen Teilnehmende ihr eigenes Boot bauen können. Das finde | |
ich toll, weil es zeigt, wie handfest und kreativ dieser Beruf ist. | |
Was ich besonders schätze, ist der angenehme Umgang in unserem Betrieb. Wir | |
sind vier Frauen und drei Männer. Meine Chefin ist großartig – wir reden | |
auf Augenhöhe. Das ist leider in anderen Werften anders, wo es noch typisch | |
männliche Dominanz gibt. In meiner Berufsschulklasse sind überraschend | |
viele Frauen, sieben von 21 – das ist aber die Ausnahme. Auch an meiner | |
Berufsschule tut sich in letzter Zeit ein bisschen was: Zum Beispiel haben | |
die Schüler*innen unter die männliche Form an den Türen einfach noch ein | |
‚Sternchen-Innen‘ dran geschrieben. Die Lehrer bemühen sich auch, zum | |
Beispiel um moderneres Lehrmaterial. | |
So toll die Arbeit auch ist, die Bezahlung ist eine Katastrophe. Ich | |
bekomme im ersten Lehrjahr den Mindestlohn, also knapp 490 Euro. Zusätzlich | |
noch [3][Berufsausbildungshilfe (BAB) vom Amt,] damit darf ich am Ende des | |
Monats aber null Euro auf dem Konto haben. Viele müssen ihre Heimat | |
verlassen, weil die Bootsbaubetriebe oft in Wassernähe sind, und das heißt, | |
man muss Miete zahlen und für seinen Lebensunterhalt sorgen. Einige müssen | |
sich sogar verschulden, um die Ausbildung überhaupt durchzuhalten. Die BAB | |
hängt vom Einkommen der Eltern ab. Wenn die zu viel verdienen, kriegt man | |
nichts. | |
Ein riesiges Problem sind die Kosten, die für die Unterbringung bei der | |
Berufsschule entstehen. Die einzige Berufsschule für Bootsbau in | |
Deutschland ist in Lübeck, und wir müssen für unsere Schulblöcke natürlich | |
irgendwo in der Nähe unterkommen. Es gibt ein Internat, aber das kostet 37 | |
Euro pro Nacht. Einige aus meiner Klasse schlafen bei Wind und Wetter | |
draußen im Wald, weil sie sich das nicht leisten können. Meine Eltern haben | |
mir Geld geliehen, damit ich mir ein Wohnmobil kaufen konnte. In dem wohne | |
ich jetzt full time und spare die Miet- und Internatskosten. Die Schulden | |
muss ich nach meiner Ausbildung tilgen. Manche haben Glück, dass der | |
Betrieb die Internatskosten übernimmt, aber das ist keine Pflicht. Von der | |
BAB werden diese Kosten nicht gedeckt und Förderungen für die Berufsschule | |
sind Ländersache. Und das ist ja das Verrückte: Alle wollen, dass wir | |
Fachkräfte werden, aber es gibt so wenig Unterstützung. Da frage ich mich | |
manchmal schon, warum sich die Leute dann wundern, dass immer weniger in | |
solche Berufe gehen. | |
## Anna Malli (Name geändert), 21, Mechatronikerin in Leipzig: | |
Mich hat Technik schon immer interessiert, deshalb wollte ich die | |
Mechatronikausbildung machen. Das war ein harter Weg, besonders weil ich im | |
ersten Betrieb sehr schlechte Erfahrungen gemacht habe. Ursprünglich habe | |
ich in einer kleinen Firma auf dem sächsischen Land angefangen, aber dort | |
wurde ich kaum betreut. Meinen Ausbildungsleiter, der Chef des Betriebs, | |
habe ich nur gesehen, wenn ich mal eine Unterschrift brauchte. | |
Das eigentliche Problem hatte ich jedoch in der überbetrieblichen | |
Lehrwerkstatt, wo ich die meiste Zeit verbrachte. Dort herrschte ein extrem | |
feindliches Umfeld. Eine Gruppe von etwa fünf Azubis, mit denen ich da für | |
Monate Lehrgang hatte, waren bekennende Nazis. Die haben mich als Frau | |
nicht ernst genommen. Es begann mit abfälligen, sexistischen Kommentaren, | |
doch das steigerte sich bis hin zu Morddrohungen. Die Ausbilder haben das | |
entweder nicht bemerkt oder es ignoriert. Ich habe mich entschieden, nichts | |
zu sagen, um die Situation nicht noch weiter eskalieren zu lassen. | |
Rückblickend war das wohl die einzige Möglichkeit, durchzukommen. | |
Ich habe dann beschlossen, den Betrieb zu wechseln, aber das ist nicht so | |
einfach. In Deutschland kann man eine Ausbildung nicht einfach so in einen | |
anderen Betrieb verlagern, weil der Vertrag, der über die Handwerkskammer | |
läuft, das nicht vorsieht. Ich musste meinen Betrieb überzeugen, mir einen | |
Aufhebungsvertrag zu geben. Zunächst wollte man mich nicht gehen lassen, | |
und die Sachbearbeiterin im Betrieb gab mir falsche Informationen – sie | |
behauptete, ich könnte einfach kündigen und die Ausbildung fortsetzen. | |
Hätte ich das getan, hätte ich jedoch meine ganze Ausbildung abbrechen | |
müssen. | |
Am Ende hat der Wechsel funktioniert, aber es war ein zäher Kampf. In | |
meinem neuen Betrieb in Leipzig lief es viel besser. Ich wurde endlich | |
ernst genommen. Dort gibt es auch eine Jugend- und | |
Auszubildendenvertretung, was in kleineren Betrieben oft fehlt. Diese | |
Vertretung achtet darauf, dass die Rechte von Azubis eingehalten werden – | |
etwa bei der Schutzkleidung oder den Arbeitszeiten. Ich bin mittlerweile | |
selbst Teil dieser Vertretung und setze mich dafür ein, dass die | |
Arbeitsbedingungen besser werden. | |
Wenn ich zurückblicke, frage ich mich manchmal, warum ich überhaupt so | |
lange in der Ausbildung geblieben bin, vor allem nach den schrecklichen | |
Erfahrungen. Ich wollte aber den Beruf wirklich lernen. Viele Frauen, die | |
mit mir angefangen haben, haben die Ausbildung abgebrochen, weil sie den | |
ständigen Sexismus und das feindliche Umfeld nicht mehr ausgehalten haben. | |
Es gibt viele Arbeitsplätze, die für Frauen einfach nicht ausgelegt sind – | |
oft fehlt es schon an einfachen Dingen wie Frauenumkleiden oder Toiletten. | |
Ich war mal in einer Abteilung, da hingen sechs Nacktbild-Kalender | |
nebeneinander. Viele Betriebe sehen keinen Grund, daran zu rütteln. Doch | |
wenn wir mehr Frauen in Industrie und Handwerk wollen, müssen sich diese | |
Strukturen dringend verändern. | |
21 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/FLINTA* | |
[2] https://www.azubihilfe-netzwerk.de/ | |
[3] https://www.arbeitsagentur.de/bildung/ausbildung/berufsausbildungsbeihilfe-… | |
## AUTOREN | |
Ann-Kathrin Leclere | |
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