# taz.de -- Biografie über Jacob Taubes: Der Grenzgänger | |
> Jacob Taubes war ein schillernder Intellektueller zwischen Judaistik, | |
> Theologie und Wissenschaft. Jerry Z. Muller hat ihm nun eine Biografie | |
> gewidmet. | |
Bild: Seine Unruhe war atemberaubend: Jacob Taubes (hier 1978 an der Freien Uni… | |
Paulus von Tarsus hat im Korinther-Brief dazu geraten, bei der Verbreitung | |
des Evangeliums den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche und den Römern | |
ein Römer zu sein. Was Paulus selbst war – ein griechisch gebildeter Jude, | |
ein römischer Bürger oder der erste Apostel des Christentums –, darüber | |
streiten sich die judaistischen, theologischen und althistorischen | |
Gelehrten. | |
Auch Jacob Taubes (1923–1987), den heute und hier nur noch | |
Altachtundsechziger und Ideenhistoriker auf dem Schirm haben, beteiligte | |
sich an solchen Diskussionen, denn sie berührten persönliche | |
Identitätsfragen. Die listige Anpassungsstrategie, die der Missionar | |
empfohlen hatte, befolgte Taubes selbst allerdings nicht: Den Judaisten war | |
er ein Soziologe, den Wissenschaftlern ein Gelehrter, den Deutschen ein | |
Jude, den Amerikanern ein europäischer Philosoph, den Kollegen ein | |
Studentenversteher und der antisemitischen Intelligenz ein | |
Gesprächspartner. „Ach ja, Taubes …“, hieß es oft, wenn von diesem | |
schillernden Intellektuellen die Rede war, der in diesem Jahr hundert Jahre | |
alt geworden wäre. | |
Jerry Z. Muller, emeritierter Historiker aus Washington, D. C., erzählt nun | |
auf fast tausend Seiten die Vita dieses Grenzgängers. Vielen erschien die | |
Person „dämonisch“, manche hielten den exzentrischen Judaisten und | |
Philosophen für einen Blender, Hochstapler, Intriganten, Manipulator. Seine | |
Beziehungen zu Frauen waren zwanghaft sexualisiert. Wahrscheinlich wäre er | |
heute ein #MeToo-Fall. | |
Taubes’ Unruhe war atemberaubend. In seinen intellektuellen Widersprüchen | |
spiegeln sich größere Themen, meint Muller: der Konflikt Glaube und | |
Wissenschaft, Religion und Politik, Wurzeln und Identitätsfragen, | |
institutionelle Zugehörigkeit und Kritik daran. | |
Die Biografie deckt einen Großteil der Geistesgeschichte des 20. | |
Jahrhunderts ab, und der Protagonist ist ein solitärer Mittler von Ideen | |
nicht nur zwischen Judaistik, Theologie und Wissenschaft, sondern auch | |
zwischen Amerika und Deutschland. Der Biograf ignoriert nicht, dass Taubes | |
ein geltungssüchtiger Mann mit bipolarer Störung war. | |
Taubes war der Sohn eines Wiener Rabbiners, in dessen Familie sowohl | |
jiddisches osteuropäisches wie deutsches mitteleuropäisches Judentum | |
einflossen. „Jichus“, Abstammung spielte für Taubes eine große Rolle, und | |
sowohl jüdische Frömmigkeit als auch moderne Gelehrsamkeit waren Konstanten | |
seiner hybriden Existenz. | |
## Vor allem linke Freunde | |
Sein Vater Zwi wurde zum Glück 1936 nach Zürich versetzt. Der Rabbiner | |
engagierte sich bei den Versuchen, die antisemitische Vernichtungspolitik | |
publik zu machen und Juden zu retten. Dabei kooperierte er mit christlichen | |
Theologen wie Karl Barth. Das interreligiöse Gespräch war daher eine | |
positive Erfahrung für den jungen Jacob, der selbst an der Universität | |
Zürich Philosophie studierte und an der Jeschiwa in Montreux zum Rabbiner | |
ausgebildet wurde. | |
Jacob hatte vor allem linke Freunde, aber auch Armin Mohler, Sympathisant | |
der Waffen-SS und Anhänger Ernst Jüngers und Carl Schmitts, gehörte dazu. | |
Taubes war fasziniert vom Antinomismus: Gesetze waren dazu da, dass sie | |
gebrochen werden. | |
Seine Doktorarbeit „Die Abendländische Eschatologie“ war die einzige | |
wissenschaftliche Monografie, die er anfertigte. Beeindruckender als der | |
wissenschaftliche Autor ist der Kommunikator und Ideenmakler Taubes. Nach | |
dem Krieg ging er nach New York ans Jewish Theological Seminary, wo er als | |
unsteter, aber brillanter Lehrer auffiel und seine ersten Ehefrau Susan | |
Feldmann kennenlernte – über die im vergangenen Jahr eine Biografie von | |
Christina Pareigis erschienen ist; über die schwierige Beziehung erzählt | |
ihr [1][Roman „Divorcing“] von 1969. | |
1949 ging Taubes dann nach Jerusalem, zu [2][Gershom Scholem], der im | |
Zentrum der Wissenschaft des Judentums und der jüdischen Geschichte stand. | |
Als Scholem ihm wegen Vertrauensbruchs die Zusammenarbeit aufkündigte, | |
hatte das lebenslange Folgen. Der Schatten Scholems folgte Taubes | |
überallhin. | |
Es folgte ein Nomadenleben zwischen Israel, England und den USA. Der | |
häretische Theologe lernte die Kritische Theorie lieben und begeisterte | |
sich für die Gnosis, die antinomistischen mystischen und egalitären | |
Bewegungen aus dem 2. und 3. Jahrhundert vor Paulus. Mitte der 1950er Jahre | |
erhielt Taubes dann eine Anstellung an der Columbia University und den Ruf | |
eines Ideenhändlers mit enzyklopädischem Wissen, der jeden kannte. | |
Taubes konnte Bücher sozusagen mit Handauflegen aufnehmen, analysieren und | |
einordnen. „Bevor es Google gab, gab es Taubes“, sagt Muller. Laien hielten | |
ihn immer für einen großen Experten und jemanden, der unerwartete Bezüge | |
herstellen konnte. Ein Gespräch mit dem Zauberer war stets anregend und | |
belebend, selbst wenn kein Wort stimmte, das Jakob der Lügner von sich gab. | |
Das Gespräch über ihn natürlich auch, denn seine Eskapaden, vorwiegend | |
erotischer Art, rissen nicht ab. Die New York Intellectuals von Irving | |
Kristol bis Susan Sontag gehörten zum sozialen Umfeld von Jacob und Susan | |
Taubes, die sich bald trennten. | |
Die Berliner Zeit begann ab 1961, zunächst mit Pendeln als Gastprofessor, | |
dann mit dem Aufbau der Institute für Judaistik und Hermeneutik an der FU. | |
In Berlin gab es anders als in New York kaum jüdische Intellektuelle. Hier | |
konnte Taubes also umso mehr jemand Besonderes sein, zumal er viel über das | |
Judentum wusste und die Rolle eines „echten Juden“ einnehmen konnte. Dabei | |
genoss er zunächst eine gewisse „Narrenfreiheit“ (Dieter Henrich), die | |
sicherlich mit der postnationalsozialistischen Befangenheit in akademischen | |
Kreisen zu tun hatte. | |
## Der Tausendsassa begeisterte | |
Der Tausendsassa begeisterte und bezirzte zunächst viele. Er wurde ein | |
Mitbaumeister der Theorie-Reihe im Suhrkamp Verlag, die die „kulturelle | |
Rückständigkeit“ der Bundesrepublik beseitigen sollte. Taubes vertrat als | |
intellektuell vernetzter Unternehmer eine philosophische Ökumene, die | |
erhellend und erfrischend wirkte. Gleichzeitig pflegte er politisch einen | |
Hang zum antiliberalen Radikalismus und positionierte sich als Mentor des | |
studentischen Protests. | |
Als der apokalyptische Moment „1968“ greifbar schien, war Taubes in seinem | |
Element und beratender Begleiter im Streit gegen „bürgerliche | |
Wissenschaft“. Nun aber rückte er zunehmend ins Visier von Anfeindungen. | |
Die Notgemeinschaft der Professoren wetterte gegen „das Bündnis der | |
Radikalen mit den Faulen“. Nach außen verteidigte Taubes tapfer die | |
„marxistische Übernahme“ des Philosophischen Seminars – bis ihm schließ… | |
gewahr wurde, dass die Roten Zellen ihn nach der Revolution ebenfalls in | |
ein Umerziehungslager auf Rügen gesperrt hätten. | |
Er entzog sich dem kulturellen Bürgerkrieg, zumal nun die manische | |
Depression voll ausbrach und sein Dasein bestimmte, inklusive Psychiatrie | |
und Sanatorium. | |
Die Berliner Periode ist ein Steinbruch für alle, die sich für die | |
geisteswissenschaftliche Landschaft der alten Bundesrepublik interessieren | |
– inklusive der Schlusspointe. Taubes, angezogen von der politischen | |
Theologie und der Frage, wie ein Gelehrter bei den Nazis mitmachen konnte, | |
suchte und fand 1982 den persönlichen Kontakt zu [3][Carl Schmitt,] den er | |
zum „Apokalyptiker der Gegenrevolution“ stilisierte (am 20. Juli 1985 in | |
der taz!). Vor dem Denker des „Ausnahmezustands“ und Judenfeind empfand er | |
Ehrfurcht, also eine Mischung aus Ehre und Furcht. | |
Taubes blieb dem intellektuellen Radikalismus der Zwischenkriegszeit | |
verhaftet. Das mache ihn, so Muller, übrigens für postkommunistische | |
Intellektuelle wie [4][Alain Badiou], [5][Giorgio Agamben] und [6][Slavoj | |
Žižek] so attraktiv. | |
Paulus, der Christ aus dem Judentum, war Taubes’ Avatar. Jüdisches Denken | |
für einen neuen Universalismus in Anschlag zu bringen, hieß die Mission. | |
Seiner Mitwelt war dieser linke Jude, der mit Rechten und Antisemiten | |
verkehrte und ideologisch ein Antiliberaler mit liberaler Offenheit war, | |
oft ein Rätsel. „Ach ja, Taubes …“. Jerry Z. Muller hat dem wilden Leben | |
des Professors Taubes nun ein kritisches Denkmal gesetzt. | |
20 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Jörg Später | |
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