# taz.de -- Debatte Flüchtlingspolitik: Ausnahmezustand ohne Souverän | |
> Politik ist mehr als Staatlichkeit. Das belegen unter anderem die vielen | |
> freiwilligen Helfer inmitten der großen Migrationsbewegung. | |
Bild: Angela Merkels Alptraum: Ein Bild, dass die Kanzlerin in die Verantwortun… | |
Mitten in der Staatskrise – die irreführenderweise immer wieder | |
„Flüchtlingskrise“ genannt wird – in Zeiten des rechten Terrors, inmitten | |
ausufernder Hilfsbereitschaft und Medienaufmerksamkeit wird immer wieder | |
der Ruf nach einem klaren Bekenntnis der Kanzlerin laut. Das ist der | |
erkennbare Wunsch nach einer Positionierung des Souveräns im Angesicht des | |
Ausnahmezustands. Das ist der Wunsch nach einem Machtwort – die späte und | |
vorsichtige Wortmeldung Angela Merkels wurde dementsprechend von vielen | |
Seiten als beinahe epochemachend gefeiert. | |
Auch der Neonazi-Terror vor den Unterkünften der Asylbewerber ist im | |
Wesentlichen ein Appell an den Souverän. Niemand dort glaubt, selbst die | |
Macht übernehmen zu können, niemand unter den Claqueuren rechtsradikaler | |
Ausschreitungen will auf Dauer zwischen Barrikaden und unter | |
Tränengasbeschuss leben. Man wünscht sich einen als „normal“ empfundenen | |
Zustand zurück und verlangt von „denen da oben“, in diesem Sinne zu | |
handeln, die souveräne Macht einzusetzen. | |
Staatliche Souveränität wird seit Erscheinen der „Politischen Theologie“ | |
von Carl Schmitt im Jahr 1922 immer wieder entlang seiner so prägnanten | |
Formel „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ verhandel… | |
Was Generationen reaktionärer Juristen und Politiker beim Lesen dieses | |
Satzes ein wohliges Schaudern über den Rücken jagt, ist die Begeisterung | |
Schmitts für die Verschmelzung der politischen Macht, der Souveränität, mit | |
dem Körper eines uneingeschränkten Führers. | |
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben nennt dieses Phänomen den | |
ununterscheidbaren Raum zwischen Faktum und Recht. Dort wo keine | |
Rechtsnorm, sondern allein unmittelbare Entscheidungen Fakten und damit | |
Recht setzen, sei der Ort des Ausnahmezustandes. Dieser außerrechtliche Ort | |
kennt neben dem Souverän, der dort in seiner Person das Recht ist, den homo | |
sacer, eine auf ihr „nacktes Leben“ reduzierte, im Wortsinne rechtlose | |
Existenz. | |
## Allgegenwärtiger Ausnahmezustand | |
Es leuchtet ein, dass Agamben die Lager, zum Beispiel jene in denen | |
Geflüchtete zusammengepfercht werden, als „Materialisierung des | |
Ausnahmezustandes“ sieht. Das Problem dabei ist, dass Agamben in der | |
Beschreibung der Entgrenzung des Ausnahmezustandes und des Lagers als | |
Archetyp der Moderne keinen Unterschied zwischen seinen Ausprägungen mehr | |
deutlich macht. Ein humanitäres Flüchtlingslager des Roten Kreuzes wird in | |
seiner Rhetorik ununterscheidbar von Buchenwald. | |
Offensichtlich wird jedoch, dass der Ausnahmezustand langsam aus der | |
Peripherie in das Zentrum der westlich-bürgerlichen Gesellschaft | |
hineinwirkt. Auf der einen Seite stehen die Geflüchteten, die mit | |
Abschreckungsvideos, Zäunen und beschleunigten Abschiebeverfahren daran | |
gehindert werden sollen, den Wirkungsbereich einer verlässlichen Rechtsnorm | |
überhaupt zu betreten. Verbleiben sollen sie im Ausnahmezustand als die | |
Agambenschen homines sacri. Kein staatlicher Souverän will sich ihrer | |
bemächtigen. | |
Auf der anderen Seite unterwirft der vermeintliche Souverän die bereits im | |
Geltungsbereich seiner Machtmittel befindlichen Subjekte einer um so | |
peinlicheren Kontrolle. Überwachung, Antiterrorgesetze, polizeiliche | |
Sonderbefugnisse – all das sind Anzeichen des im morschen Kitt der | |
europäischen Demokratien gebundenen Ausnahmezustandes. Schleichend wird er | |
zur akzeptierten Norm, ohne dass er als solcher erklärt worden wäre. | |
## Machtlose Kanzlerin | |
Denn der Schmittsche Souverän existiert nicht. Angela Merkel könnte diese | |
Rolle auch kaum ausfüllen, lebt ihre Regierung doch gerade von der | |
Abwesenheit proaktiver Entscheidungen. Sie ist geprägt von einer | |
Getriebenheit, die alles andere als rechtssetzend ist. Zwischen den Polen | |
menschenverachtender brutaler Verschlossenheit und der weltoffenen | |
Zivilgesellschaft steht die Kanzlerin somit machtlos da. | |
Es ist schlicht nicht vorgesehen, die Entscheidung treffen zu müssen, | |
hunderttausende nach Deutschland kommende Menschen wieder zu entfernen oder | |
eben im Lande zu belassen. Der Zweck der Dublin-Regeln und überhaupt des | |
europäischen Grenzregimes, war ja gerade, den sichtbaren Ausnahmezustand an | |
der Peripherie zu halten. Insofern sind deutsche Behörden tatsächlich | |
unvorbereitet. Man hatte sich darauf verlassen, dass Frontex und die | |
„Frontstaaten“ das Problem schon lösen würden. | |
Die bald angefeindeten, bald aufs Herzlichste begrüßten Flüchtlinge bleiben | |
die homines sacri dieses Ausnahmezustandes, egal ob an den Rändern Europas | |
oder in seinen Metropolen: ohne Rechte, fürs erste angewiesen auf | |
Barmherzigkeit. Was sie nach „gelungener“ Flucht von staatlicher Stelle | |
erwarten dürfen, ist reine Verwaltung. | |
## Die „Anderen“ auf Distanz halten | |
Zweck dieser Verwaltung ist es, den Ausnahmezustand zu installieren, ihn | |
dabei aber räumlich zu begrenzen, ihn wenn schon nicht außer Landes, dann | |
wenigstens außer Sicht zu halten. Die Verwaltung handelt dabei polizeilich, | |
wie es Nils Markwardt in einem [1][Beitrag für die Wochenzeitung Der | |
Freitag] beschreibt: „Polizei meint so verstanden die Herrschaft des | |
Einvernehmens, die konsensuelle Verwaltung des Bestehenden durch die, die | |
bereits einen Anteil am Sozialen haben.“ | |
Konsensuell ist hier die stillschweigende Übereinkunft, jene, die „keinen | |
Anteil am Sozialen haben“, also Flüchtlinge, aber auch Arme, auf Distanz zu | |
halten. Das logistische Versagen bei der Erfüllung dieser Aufgabe öffnet | |
nun ungeplant einen Raum jenseits des Polizeilichen hin zum Politischen. | |
Das Elend unmittelbar vor Augen, packen eine Unzahl von Menschen einfach | |
zu. Jedes von freiwilligen Helfern ausgegebene Essen, jede Kleiderspende, | |
jede privat organisierte Notunterkunft stellt implizit jene | |
stillschweigende Übereinkunft in Frage und damit den Souverän, der schon | |
nicht mehr die Macht hat, den vorgeblichen Konsens durchzusetzen. | |
## Den Ausnahmezustand beenden | |
Sich dieser Möglichkeit des Infragestellens bewusst zu sein, heißt | |
zuzulassen, dass aus den Akten der Barmherzigkeit ein Dissens zur als | |
hegemonial wahrgenommen Macht erwächst. An die Stelle des Rufes nach einem | |
Machtwort der Kanzlerin tritt das eigene politische Handeln. Das | |
Einverständnis mit dem schleichenden Ausnahmezustand wäre so aufgekündigt. | |
Die Frage, ob eine staatliche Repräsentation der Souveränität überhaupt | |
nötig ist, stünde im Raum. | |
Das in den bisherigen Merkeljahren so verwaschene Politische würde wieder | |
in das öffentliche Bewusstsein treten – vielleicht sogar zum Nutzen der | |
homines sacri, denen im besten Falle mehr bleiben könnte, als alleine um | |
ihr nacktes Leben kämpfen zu müssen. Letztlich wird sich der Souverän, in | |
welcher Inkarnation er auch zum Vorschein kommt, daran messen lassen | |
müssen, ob er die Stellung der Flüchtlinge zu ändern vermag und ihnen | |
„Anteil am Sozialen“ verschafft, also ob er in der Lage ist, den | |
Ausnahmezustand nicht wieder an die Peripherie zu verdrängen, sondern ihn | |
zu beenden. | |
5 Sep 2015 | |
## LINKS | |
[1] https://www.freitag.de/autoren/nils-markwardt/philosophie-der-flucht | |
## AUTOREN | |
Daniél Kretschmar | |
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