| # taz.de -- Dutschke-Reden auf CD: Das raue Timbre der Revolte | |
| > Rudi Dutschke war ein begnadeter Redner. Jetzt lässt sich auf sechs CDs | |
| > nachhören, wie er 1968 seine Zuhörer:innen in den Bann schlug. | |
| Bild: Rudi Dutschke spricht 1968 auf einer Kundgebung am Rande des FDP-Parteita… | |
| Es war zunächst diese Stimme; eine Stimme, die sich unter Tausenden | |
| heraushören ließ; dank ihres einzigartigen Klangs. Heiser und rau, | |
| drängend, vorwärtstreibend. Sie ging unter die Haut, sie ließ einen | |
| frösteln. Rudi Dutschke hatte die Stimme eines Blues-Sängers. | |
| „Ein hinreißender Rhetor“ sei er gewesen, bescheinigte ihm sein | |
| intellektueller Widersacher Jürgen Habermas. „Er war ein Redner, wie es | |
| außer Strauß und Wehner in Deutschland nach 1945 keinen mehr gegeben hat“, | |
| schrieb der Spiegel-Gründer Rudolf Augstein 1980 in seinem Nachruf auf den | |
| Rebellen aus Luckenwalde. | |
| Nicht nur den [1][Philosophen der Frankfurter Schule] und den Hamburger | |
| Verleger schlug Dutschke in seinen Bann, wenn er öffentlich sprach, sondern | |
| insbesonders Zehntausende von Studenten, Lehrlingen, Schülern und generell | |
| Menschen, die unter dem Muff der von ehemaligen Nazis wiederaufgebauten | |
| Bundesrepublik litten. | |
| ## Rebellen-Häuptling | |
| Rudi Dutschke war Kopf und Stimme der Studentenbewegung und Jugendrevolte | |
| von 1968; die Schüsse eines Neonazis auf ihn führten an Ostern 1968 zu den | |
| größten Unruhen, die die Bundesrepublik seit ihrer Gründung erlebt hatte. | |
| Er selbst zählte sich später zu den „ehemaligen Rebellen-Häuptlingen“. | |
| 1961 war er aus dem brandenburgischen Luckenwalde nach Westberlin | |
| geflüchtet, Ende 1965 als Student der Freien Universität in den | |
| Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) eingetreten. Bald zählte er | |
| zum antiautoritären Flügel des SDS, auch wenn er und seine Frau Gretchen | |
| nicht in einer der Kommunen leben wollten. | |
| Bundesweit bekannt wurde Dutschke dank eines Ende 1967 gesendeten | |
| TV-Interviews mit Günter Gaus, dem späteren Spiegel-Chefredakteur, in dem | |
| er erklärte: „Wir sind nicht hoffnungslose Idioten der Geschichte, die | |
| unfähig sind, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen.“ | |
| Wer Dutschke als Redner – ein Stück vergessenes Erbe der Studentenbewegung | |
| – entdecken will, braucht einen CD-Player und die Box mit sechs CDs: „Die | |
| Stimme der Revolution. Rudi Dutschke in zwölf Originalaufnahmen“. Um | |
| Mitschnitte von Reden handelt es sich dabei, um Radiointerviews und | |
| Fernsehdiskussionen aus den Jahren 1966 bis 1979. Zusammengetragen hat sie | |
| der Dutschkologe Carsten Prien. Rund 700 Minuten, also Dutschke satt. | |
| ## Dutschkes „Soziologendeutsch“ | |
| Aber es wird nicht langweilig. Trotz seiner berüchtigten Sätze, die länger | |
| und länger wurden – grammatikalisch betrachtet, Schachtelsätze, bei denen | |
| er letztlich fast immer noch die Kurve kriegte und sie korrekt abschloss. | |
| Gleichwohl erregte Dutschke gelegentlich Unmut bei seinem Publikum, durch | |
| seine abstrakte Ausdrucksweise, seine elitäre Sprache, in den sechziger | |
| Jahren gerne „Soziologendeutsch“ geschmäht. „Jetzt mal bitte auf Deutsch… | |
| rief ein Zuhörer in Hamburg ihm zu. | |
| Dutschke war ein undogmatischer Marxist mit christlicher Prägung. Ein | |
| Prophet und Prediger. Er sagte das Ende des Kapitalismus voraus und dass | |
| eine allgemeine Befreiung der Individuen möglich sei, wenn diese es wollten | |
| und dafür kämpften. Als Sozialist verstand er sich, doch auch weil er in | |
| der DDR wegen seiner pazifistischen Einstellung nicht zum Studium an einer | |
| Hochschule zugelassen worden war, hatte er einen sehr kritischen Blick auf | |
| den „Realsozialismus“ Moskauer Prägung. | |
| Bei den jetzt veröffentlichten Tondokumenten sind Klassiker dabei, zum | |
| Beispiel Dutschkes Rede auf dem Internationalen Vietnamkongress Mitte | |
| Februar 1968 in Westberlin. Unter einem riesigen Banner mit der Parole von | |
| Che Guevara „Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu | |
| machen“, hielt Dutschke das programmatische Hauptreferat. | |
| Er begann mit dem Satz: „Jede radikale Opposition gegen das bestehende | |
| System, das uns mit allen Mitteln daran hindern will, Verhältnisse | |
| einzuführen, in denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, | |
| Hunger und repressive Arbeit führen können, muss heute notwendigerweise | |
| global sein. Die Globalisierung der revolutionären Kräfte“ sei deshalb die | |
| aktuelle Aufgabe. | |
| ## Es lebe die Weltrevolution! | |
| Die Rede zeigt ihn auch als Vertreter der Gegenkultur der sechziger Jahre, | |
| wenn er sagt: „Die prägende Literatur jetzt ist die Underground-Literatur, | |
| sind die Reden von Malcolm X. die Schriften Fanons, die Songs der Rolling | |
| Stones und von Aretha Franklin.“ Dutschke, ganz Berufsrevolutionär, schloss | |
| mit der Parole: „Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende | |
| freie Gesellschaft der Individuen!“ | |
| Wie Dutschke sich auf sein Publikum einstellte, zeigte er bei der Rede zu | |
| einer Schülergruppe in Baden-Baden am 5. Januar 1968. Er musste per Megafon | |
| von der Konzertmuschel im Kurgarten sprechen, weil der | |
| CDU-Oberbürgermeister die Nutzung des Kursaales verboten hatte. Er sei „so | |
| glücklich gerade hier in Baden-Baden auch vor Schülern sprechen zu können“, | |
| sagte er. Und: „Ich hoffe, ich bin nicht das letzte Mal hier gewesen.“ | |
| Dutschke schlug den Schülern vor, einen Club zu gründen und | |
| „außerparlamentarische Gegenöffentlichkeit“ zu organisieren. | |
| Seine Kritik an der Roten Armee Fraktkion (RAF) und seine Ablehnung ihres | |
| Terrorismus demonstrierte er bei einer Rede in der Technischen Universität | |
| in Westberlin Mitte November 1974, bei einem Teach-in anlässlich des Todes | |
| des inhaftierten RAF-Mannes und vormaligen SDS-Mitglieds Holger Meins bei | |
| einem Hungerstreik. | |
| Zwar war es für Dutschke ein selbstverständlicher Akt der Solidarität | |
| gewesen, Meins, mit dem er zusammengewohnt hatte, im Gefängnis zu besuchen | |
| und in seinem Kampf gegen die „Isolationshaft“ zu unterstützen. | |
| Gleichzeitig stellte er klar, „dass ich nie die RAF-Linie als Massenlinie | |
| verstanden habe, sondern als Isolationslinie.“ | |
| ## Klassenkampf ist Lernprozess | |
| Zum Mord an dem Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann, der einen | |
| Tag nach dem Tod von Meins von der anarchistischen „Bewegung 2. Juni“ | |
| erschossen worden war, stellte er klar: „Die Ermordung eines | |
| antifaschistischen, sozialdemokratischen Kammer-Präsidenten ist aber als | |
| Mord in der reaktionären deutschen Tradition zu begreifen. Der Klassenkampf | |
| ist ein Lernprozess. Terror aber behindert jeden Lernprozess der | |
| Unterdrückten und Beleidigten.“ | |
| Unter den Achtundsechzigern in Westberlin gab es exzellente Redner wie | |
| Hans-Jörg Hameister oder [2][Christian Semler,] in Frankfurt Hans-Jürgen | |
| Krahl und Dany Cohn-Bendit. Was es so faszinierend machte, Dutschke | |
| zuzuhören, und dies bis heute tut, ist seine tiefe Menschlichkeit. Sein | |
| Ernst. Seine Begeisterung. | |
| Seine Freundlichkeit hat alle tief beeindruckt, die ihm persönlich | |
| begegneten und bis heute liebevoll von „Rudi“ schwärmen. Von Anarchisten | |
| und Terroristen wie Bommi Baumann bis zu Politikern aus dem bürgerlichen | |
| Lager, alle waren von seiner Integrität fasziniert. Ihm fehlte völlig der | |
| [3][Zynismus vieler Berufsrevolutionäre]. | |
| ## Augstein über Dutschke | |
| Was heute bei einem Blick auf Dutschke auffällt: Er war ein besserer Redner | |
| als Schreiber. „Ein Geistesheros war er sicher nicht“, schrieb Rudolf | |
| Augstein schon 1980 im Nachruf auf Dutschke: „Dutschke war kein | |
| Theoretiker.“ | |
| In der Tat war seine Dissertation „Zur Differenz des asiatischen und | |
| europäischen Weges zum Sozialismus“, mit der er 1973 promovierte, ein | |
| rückwärtsgewandter Beitrag zur marxistischen Debatte über Lenin. Aber | |
| Dutschke hatte auch nicht sonderlich viel Zeit dafür, ein großes Werk zu | |
| schaffen. Am 24. Dezember 1979, erst 39 Jahre alt, starb er im dänischen | |
| Aarhus an den Spätfolgen des Attentats auf ihn, an einem epileptischen | |
| Anfall in der Badewanne. | |
| Der Schriftsteller Michael Schneider, ein einstiger Westberliner | |
| SDS-Genosse, erklärte die Faszination und Begeisterung, die Dutschke bei | |
| seinem Publikum auslöste, so: „Sein Geheimnis war, dass er wirklich meinte, | |
| was er dachte, und mit seiner ganzen Person dafür einstand.“ | |
| 30 Oct 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Sontheimer | |
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